Libertäre Philosophie – Teil 27: Und dann erscheint Zarathustra
Nietzsches Wille zur (Ohn-) Macht
von Stefan Blankertz
Dreh- und Angelpunkt der europäischen Philosophie bleibt der Dreiklang Descartes (Teil 16) – Hume (Teil 19) – Kant (Teil 22): Die Grundlage der Erkenntnis ist das zweifelnde Ich (Descartes), alles andere bleibt zweifelhaft (Hume), erkannt werden können nur die denknotwendigen Strukturen (Kant). Einerseits verspinnt sich vor allem die deutsche Philosophie mit dem deutschen Idealismus mehr in eine Selbstbespiegelung als in ein Selbstbewusstsein, andererseits trachtet sie danach, aus diesem Gedankengefängnis auszubrechen und wieder in die Welt hineinzuwirken. Die eine Linie führt von Hegel (Teil 23) über Proudhon (Teil 24) und Stirner (Teil 25) zu Marx (Teil 26): Die Idee trachtet danach, sich zu verwirklichen. Sorry, dass ich Stirner hier einordne, aber bei ihm geht es tatsächlich auch eher darum, die Idee des Egoismus zu verwirklichen als das Ich selber.
Ohne es je einzugestehen, ging Friedrich Nietzsche (1844–1900) von Stirner aus und sagte: Was ficht mich Wahrheit (oder Lüge) an? Es kommt darauf an, der Welt meinen Willen aufzudrücken. Weil sein Begriff hierfür, „Wille zur Macht“, etwas anrüchig geworden ist (dazu gleich noch), spricht man heute psychologisch von „Selbstwirksamkeit“. Oder erkenntnistheoretisch gewandt: Es geht nicht darum, dass man die Wirklichkeit erkennt, sondern dass man sie macht (gestaltet).
Konsequent verweigerte sich Nietzsche den traditionellen philosophischen Ritualen der Argumentation. Er schreibt aphoristisch, assoziativ, beleidigend, impulsiv, ironisch, (an)klagend, launisch, lyrisch, protzend, rhapsodisch, selbstverherrlichend, weinerlich. Er lädt dazu ein, im Anschluss an seine Sentenzen eigene Gedanken zu fassen. Nirgendwo kommt Nietzsches eigener Wille zur Macht so deutlich zum Tragen wie in seinem „Zarathustra“ (1883–1885). Er meint zwar, „mit dem Hammer zu philosophieren“, also tatsächlich Hand anzulegen an die Geschichte der Menschheit, aber in Wirklichkeit ist es ein Text zwischen Weisheits- und Fantasyliteratur. Vielleicht träumte Nietzsche tatsächlich davon, Religionsstifter zu werden. Stattdessen bewirkte er jedoch, die Grenze zwischen Philosophie und Kunst ein für alle Mal aufzuweichen, wenn nicht gar aufzuheben. 1889 bricht Nietzsche psychisch zusammen und verbringt die letzten zehn Jahre seines Lebens als Pflegefall. Wo beginnt sein Wahnsinn? Manche sehen ihn schon im „Zarathustra“, etwa in den (meiner Meinung nach genialen) Zeilen: „Die Wüste wächst, wehe dem, der Wüsten birgt! Stein knirscht an Stein, die Wüste schlingt und würgt.“ Andere sehen noch in seinen letzten Aufzeichnungen die denkerische Größe, wenn er etwa fragt: „Warum ich so gute Bücher schreibe?“ Auch seine Krankheit bleibt ein Mysterium, alle rückwärts gerichteten Diagnosen sind mehr oder weniger gescheitert.
Bei Nietzsche stellt sich ebenso wie bei Marx die Frage der Verantwortung des Philosophen für seine Wirkung. Wie Marx auch, wollte Nietzsche wirken. Was seinen Einfluss auf Kunst und Literatur betrifft, ist seine Wirkung harmlos. Aber unzweifelhaft hielten Adolf Hitler und sein Hofphilosoph Alfred Rosenberg große Stücke auf Nietzsche. Die Vermittlung übernahm Nietzsches Schwester, die mit einem führenden Antisemiten verheiratet war. Nun gibt es nicht viel bei Nietzsche zu holen für Antisemiten, auch nicht für Deutschnationale, schon gar nicht für Sozialisten, aber genügend, um daraus eine dünne Suppe zu kochen. Nietzsche wehrte sich so gut er konnte gegen die Indienstnahme für Ideologien, die er verabscheute, aber er konnte es nicht gut. Von sozialen Phobien und gesundheitlichen Problemen (vor allem irren Kopfschmerzen) geplagt, war er schon vor seinem Zusammenbruch auf die Unterstützung durch Mutter und Schwester angewiesen. Nietzsche verstand es ausgezeichnet, es sich mit allen zu verscherzen, die ihm wohlgesonnen waren, sodass am Ende nur noch die Verwandten übrig blieben, die hart im Nehmen waren.
Aber muss man sich verantworten? Vor wem? Und welche Mittel sind zulässig? Für Philosophen ist das erste Mittel natürlich die genaue Lektüre des Texts. Aber, oh Schreck, Nietzsche kümmerte sich um nichts so wenig wie um logische Widerspruchsfreiheit. Nicht einmal Hegels „bestimmte Negation“ (ein Widerspruch muss sich logisch ableiten lassen) war für Nietzsche verbindlich. Was zählte, war der Einfall des Augenblicks. Selbst unter dieser Voraussetzung findet sich bei Nietzsche wie gesagt nicht viel, das für Antisemiten, Nationalisten, Deutschtümler und Sozialisten genießbar wäre. Sie müssen vielleicht drei Viertel, wenn nicht sogar seines Werkes schlichtweg ausblenden. Dennoch erblickten sie etwas in ihm, was sie begeisterte, und dafür ist Nietzsche verantwortlich.
Was ist Verantwortung überhaupt? Eines von Nietzsches wichtigsten Werken mit der vielleicht nachhaltigsten Wirkung (siehe Foucault, Teil 33 dieser Serie) trägt den Titel „Zur Genealogie der Moral“ (1887), eine Fortführung von „Jenseits von Gut und Böse“ (1886). Schon der Titel ist ein Knaller: Genealogie, das heißt Entstehungsgeschichte. Moral ist nicht einfach da, nicht von Anfang an bis zum Ende aller Tage. Hegel hatte der Menschheit und der Philosophie eine Geschichte gegeben, aber die Ideen, so scheint es, die letztendlich hinter der Geschichte stehen und sich durch sie verwirklichen, sind in gewisser Weise unwandelbar. Ein Beispiel: Hegel rühmte gern das römische Recht als Glanzlicht der Menschheit und Maßstab für jegliche weitere Entwicklung der Gerechtigkeit. Dennoch gab es Punkte, die er dafür kritisierte, dass sie der Vernunft kein Genüge tun würden (dies waren Sklaverei und das Familienrecht, demzufolge die Kinder lebenslang der Autorität des Vaters unterstanden, ohne jemals die Volljährigkeit erlangen zu können – übrigens waren Frauen ausgenommen, die der väterlichen Autorität entkommen konnten, wenn sie sich derjenigen des Ehemanns unterwarfen; doch die meisten Römerinnen zogen die Autorität ihres Vaters vor). Hier gibt es also einen objektiven Maßstab, den Hegel an das Recht anlegte.
Nietzsche nun beschreibt den Vorgang, durch den überhaupt Moral entsteht, und das Zentrum seiner Überlegungen ist tatsächlich die Verantwortung: Man gibt eine Antwort auf die Frage „Wer hat das getan?“. Dieses Antwortgeben ist ein Ergebnis von Zwang. Nicht der, der die Antwort gibt, ist Herr der Lage, sondern der Fragende. Er fragt auch nicht wirklich. Er schreibt die Tat dem Gegenüber zu und bestraft ihn für das, was er (angeblich, vermeintlich) getan habe. Ein zweiter Zwang geht aus davon, dass der Mensch – in den Worten Nietzsches – ein Tier wird, das etwas versprechen kann: Es legt seinen Willen für die Zukunft in einer bestimmten Hinsicht fest. Wenn es dann nicht tut, was es versprochen hat, wird es von den anderen bestraft.
Die Entstehungsgeschichte der Moral, die Nietzsche skizziert, dreht das traditionelle Verhältnis um. Traditionell steht der moralische Grundsatz an erster Stelle, er ist vorhanden, und im Falle einer Abweichung wird Strafe eingesetzt. Bei Nietzsche steht die Strafe an erster Stelle: Sie bringt die Moral erst hervor.
Die Moral ist nach Nietzsche ein Unterwerfungsritual, ist Sklavenmoral: Die Sklaven (gemeint nicht im rechtlich-historischen Sinne, sondern im Sinne einer Abhängigkeit von irgendeiner Macht) entwickeln Verhaltensregeln, die darauf hinauslaufen, dass sie keine Strafe erhalten. Dafür ist es freilich notwendig, dass auch die Machthaber kalkulierbar handeln, also den Regeln der Sklavenmoral folgen. Sie selber sind an die Sklavenmoral gebunden und werden selber zu Sklaven (im Sinne Nietzsches). Nietzsche nennt dies, weil er Hegel nicht leiden konnte, zwar nicht Dialektik, aber die Nähe zu Hegels Dialektik von Herr und Knecht liegt doch auf der Hand: Der Knecht ist den Weisungen des Herrn unterworfen, aber indem er Dinge tut, die der Herr nicht tut, wird der Herr abhängig davon, dass der Knecht sie tut. Der Knecht hat den Herrn schließlich in der Hand.
Die Einsicht in die Genealogie der Moral könnte – angewandt auf die Frage nach der Verantwortlichkeit von Nietzsche für seine Wirkung – heißen, dass es sich bei der Frage um ein Unterwerfungsritual handelt: Mit ihr will man Nietzsche gefügig machen, ihn nachträglich in das gängige Schema der Philosophie eingliedern.
Ich muss zugeben, selber unschlüssig zu sein. Nietzsches Kritik der Moral hat wie Stirners Ideologiekritik einen befreienden Charakter: Die Herrschenden haben kein Recht, Unterwerfung von mir zu fordern. So weit, so gut. Aber ganz ohne moralischen Maßstab, wie stehen wir dann da?
Kommentare
Die Kommentarfunktion (lesen und schreiben) steht exklusiv nur registrierten Benutzern zur Verfügung.
Wenn Sie bereits ein Benutzerkonto haben, melden Sie sich bitte an. Wenn Sie noch kein Benutzerkonto haben, können Sie sich mit dem Registrierungsformular ein kostenloses Konto erstellen.