13. Dezember 2024 06:00

Libertäre Philosophie – Teil 28 Zurück zu den Sachen!

Husserl und die Anfänge der Phänomenologie

von Stefan Blankertz

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Bildquelle: Store Norske Leksikon Edmund Husserl: „Nicht von den Philosophien, sondern von den Sachen und Problemen muss der Antrieb zur Forschung ausgehen“

Noch mal zurück zu Kant (Teil 22). Er hinterließ der Philosophie das Problem, dass die Existenz einer Welt (das berühmt-berüchtigte „Ding an sich“) zwar stets vorausgesetzt werden müsse, wir jedoch über sie nichts weiter wissen als das, was unserem Denkapparat als Mittel der Analyse zur Verfügung steht. Hegel (Teil 23) und Nietzsche (Teil 27) haben je auf ihre eigene Weise versucht, das denkende Ich nach draußen in die Welt als handelndes Ich zu bringen: Das Ich verwirklicht sich durch Willen.

Aber letztlich ist das ein Scheinausbruch aus der Gefangenschaft im eigenen, um sich selbst kreisenden Ich: Auch wenn die Idee sich verwirklicht oder wenn ich eine Idee verwirkliche, bleibt mir das „Ding an sich“ weiterhin verschlossen. Weiterhin stehe ich vor einer Welt, in der ich möglicherweise wirksam geworden bin, aber nachdem ich wirksam geworden bin, bin ich genauso ratlos dahingehend, wie ich das, was ich bewirkt habe, erkennen kann: Es tritt mir als Objekt entgegen, über das ich genauso viel (oder eben wenig) weiß wie über jedes andere Objekt, das ich weder hervorgebracht noch beeinflusst habe.

Edmund Husserl (1859–1938) unternahm einen neuen Ausbruchsversuch und begründete mit der Phänomenologie die Richtung der Philosophie, die bis heute neben Hegels Dialektik (und Deweys Pragmatismus, siehe Teil 30 dieser Serie) die größte gesellschaftliche Bedeutung hat; sie wirkt weit über die Philosophie hinaus in die Psychologie.

Kant hatte sich mit dem Denkapparat befasst. Dem Skeptizismus von Hume (Teil 19 der Serie) setzte er entgegen, dass ebendieser, ebenso wie alle anderen, die die Existenz der Welt zu einem Aberglauben erklären, in ihren Beweisen stets die Existenz von Raum, Zeit und Kausalität voraussetzten. Sie könnten nicht anders, denn anders lasse sich nicht reden, nicht denken. Husserl wandte hingegen seine Aufmerksamkeit dem Wahrnehmungsapparat zu, den Sinnesorganen. Die Sinnesorgane haben einen Sinn, einen Zweck, sie haben eine „Intention“, nämlich etwas wahrzunehmen: etwas zu fühlen, zu hören, zu riechen, zu sehen, zu schmecken. Nicht nur das Denken (oder im Sinne von Descartes: nicht nur der Zweifel, Teil 16 der Serie) ist ein sicherer Ausgangspunkt aller Erkenntnis, sondern auch die Tatsache, dass die Sinnesorgane das Ziel (die Intention) haben, etwas wahrzunehmen. Die Sinne lassen sich zwar täuschen, aber diese Täuschung ist selbst wiederum eine Wahrnehmung, auch dann, wenn, um die Täuschung aufzudecken, die Hilfe etwa von Logik in Anspruch genommen wurde. Der Skeptiker, der höhnt, wie leicht sich die Sinne täuschen ließen, geht davon aus, selber genau zu wissen, was Sache ist. Denn jemandem eine Getäuschtsein nachzuweisen, setzt voraus, dass die Wahrheit bekannt ist, mit der man der Täuschung entgegentreten kann.

Dieser Punkt ist so entscheidend, dass ich ihn an einem Beispiel verdeutlichen will. Bei einem gegenwärtig populären Skeptiker (Konstruktivisten), Paul Watzlawick, findet sich in dem Buch „Wie wirklich ist die Wirklichkeit?“ (1976) folgende launige Geschichte: In den 1950er Jahren kam es in der amerikanischen Stadt Seattle zu einer Aufregung, als viele Autobesitzer bemerkten, dass ihre Windschutzscheiben „pockennarbig“ verkratzt waren. Es gab allerlei haarsträubende Erklärungen hierfür. Eine Untersuchung kam dann allerdings zu dem Schluss, es habe gar keine Zunahme von pockennarbigen Kratzern gegeben. Vielmehr hätten Autobesitzer, nachdem einer zufällig über die Kratzer geklagt habe, erstmalig ihre Windschutzscheiben eingängig von außen betrachtet und sie ebenfalls verkratzt vorgefunden, wobei die Kratzer der normalen Abnutzung entsprachen. Wie wirklich ist die Wirklichkeit? Ja, es hat eine Täuschung gegeben, es kam sogar zu hysterischen Reaktionen. Aber eine Untersuchung hat die Sache geradegerückt.

Die Untersuchung ging phänomenologisch-systematisch vor: Sie hat die Windschutzscheiben von neuen und alten Autos verglichen, von Autos in Seattle und in anderen Städten, und so weiter, bis sie feststellen konnte, dass es eine normale Abnutzung gab und nur die Art der Wahrnehmung in Seattle zu dem fraglichen Zeitpunkt durch einen zufälligen Auslöser zu der Täuschung führte. Die Wirklichkeit aber ist wirklich. Die Autobesitzer von Seattle über die Täuschung aufzuklären oder ihnen vorzuwerfen, einer Selbsttäuschung erlegen zu sein, bedeutet, die Wahrheit zu wissen. Ansonsten müsste man einfach den Kopf bedächtig schütteln und zugeben: Du siehst das so, ich sehe es vielleicht anders, aber wer recht hat, das kann niemand wissen.

Um aus der Wahrnehmung ein Etwas zu machen und Erfahrung zu ermöglichen, benötigen wir freilich nach Husserl noch eine weitere, außerhalb unserer Wahrnehmung liegende Zutat, nämlich die Logik, insbesondere die Kausalität, also den Zusammenhang zwischen Ursache und Wirkung. Ohne die Voraussetzung der Kausalität können wir kaum einen sinnvollen Satz bilden. Ohne die Voraussetzung, dass etwas eine Ursache hat, wären wir handlungsunfähig. Wenn eine Krankheit keine Ursache hat, können wir sie nicht bekämpfen. Wenn ein Medikament keine Wirkung hat, ist es einerlei, ob wir es nehmen oder nicht. Mehr noch: Wenn die Krankheit nicht die Ursache von Leid ist, brauchen wir sie nicht zu behandeln. Wenn die Gewehrkugel, die das Herz des Soldaten trifft, nicht dessen Tod bedeutet, ist es egal, ob Krieg oder Frieden herrscht. Warum ernährst du dich gesund, wenn verdorbenes Essen dich nicht schädigt? Warum trinkst du Alk, wenn der dich nicht betrunken macht ? Und warum schaust du nach rechts und links, bevor du eine Straße überquerst, wenn der Aufprall eines Fahrzeugs dich nicht verletzen oder töten könnte ? Warum bremst der Autofahrer, wenn er einen Fußgänger sieht? Und natürlich muss die Betätigung der Bremse als Ursache für das Halten des Wagens gelten. Wenn die Bremse aber defekt ist, ist der Defekt Ursache des trotz Bremsversuchs sich ereignenden Unfalls. Warum schläfst du, wenn dich das nicht erholt? Der Voraussetzung von Kausalität tut auch keinen Abbruch, dass ein bestimmtes Ereignis mehr als einer Ursache zuzuordnen ist. Ob eine Speise meinen Magen verdirbt, hängt nicht nur von deren Beschaffenheit, sondern auch von meiner körperlichen sowie, eventuell, geistigen Verfasstheit ab. Zweifellos kann die Bezeichnung einer Ursache falsch sein; ich verdächtige die Speise, für mein Unwohlsein die Ursache zu sein, in Wirklichkeit ist es aber mein unterdrückter Ärger auf irgendwen. In Wirklichkeit, das heißt: Es gibt mindestens eine Ursache.

Verweilen wir noch beim Essen. Wenn der Geschmack, der Geruch sowie das Aussehen einer Speise keine Wirkung derselben wären, könnten wir gar nicht zwischen all demjenigen unterscheiden, was uns gut und was uns schlecht schmeckt. Bei der Wahl der Speise (oder deren Ablehnung) können neben Geschmack weitere Faktoren eine Rolle spielen, zum Beispiel das Wissen, ob sie mir bekommt oder nicht. Dies Wissen wiederum kann auf eigener Erfahrung basieren: Diese Speise liegt mir schwer im Magen (ist die Ursache von Magenbeschwerden) und ich esse sie nicht, obwohl sie mir gut schmeckt. Oder auf dem Wissen, das ich von anderen übernommen habe: Diese Speise verursacht Krankheiten. Ich habe gelesen, dass dem so sei, und glaube das. Auch hier setze ich ein Prinzip von Ursache und Wirkung voraus.

Die Logik ist konstruktiv im Sinne Kants, das heißt, wir können sie nicht als den Sachen zugehörig wahrnehmen, sie ist in uns, wir legen sie den Sachen bei, wir projizieren sie auf sie: Aber wir können auf diese Projektion nicht verzichten. Sie können wir nicht im Sinne Husserls einklammern. Einklammern bedeutet nach Husserl, sich von Vorannahmen – um nicht zu sagen: von Vorurteilen – beim Denken so weit wie möglich zu befreien. Gleichwohl ist die Logik intersubjektiv: Ihre Denkregeln sind uns gemeinsam. Dass die Denkregeln unserer Logik der Wahrheit im absoluten Sinne korrespondieren, können wir nicht beweisen; denn ohne Logik kommt kein Beweis aus. Die Nichtbeweisbarkeit der logischen Denkregeln ist aber weitaus weniger erheblich als die Frage, ob die Erde eine Kugel oder eine Scheibe sei. Denn eine Wirklichkeit außerhalb der Konstruktionsmethode mit Logik, besonders mit Kausalität, vermögen wir uns nicht vorzustellen.

Phänomenologie ist derart nicht die Wahrnehmung selber, sondern die kritische Reflektion über das Wahrnehmen. Die Wahrnehmung wird auf Stimmigkeit und Sinnhaftigkeit überprüft. Das Medium phänomeno-logischer Reflektion ist das der Worte. Die Worte werden daraufhin untersucht, welch ein Sinn sich in ihnen ausdrückt; und in letzter Instanz heißt das: welche Wahrnehmungen sich in ihnen verdichtet haben. Mit der Phänomenologie rückt die Sprache ins Zentrum der philosophischen Überlegungen.


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