06. Januar 2025 16:00

Buch des französischen Historikers und Anthropologen Emmanuel Todd Der Westen im Niedergang

Auslöser ist der Niedergang des Protestantismus

von Robert Grözinger

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Bildquelle: Shutterstock Untergang einer Zivilisation nach inflationsbedingter Realitätsverweigerung: Römische Ruinen der Oasenstadt Palmyra, Syrien

Der Westen befindet sich im Niedergang. Das ist das Thema – und praktisch der Titel – des jüngsten Buches des französischen Historikers und Anthropologen Emmanuel Todd, dessen deutsche Übersetzung im vergangenen Jahr erschien. Entlang der Ursachen und Folgen des Ukrainekrieges zeigt uns Todd, warum der Westen nicht nur hier scheitern wird, sondern sich allgemein im Verfall befindet. 1976 bereits hatte der Autor das Ende der Sowjetunion vorausgesagt, nachdem er deren Kindersterblichkeitsrate untersucht hatte. Er ist also jemand, auf dessen Worte man achten sollte. 

Angesichts des Ukrainekrieges geht Todd mit dem Westen hart ins Gericht: „Es ist tatsächlich erschütternd festzustellen, wie sehr der Westen seit Beginn dieser Krise – die amerikanische genau wie die europäische Seite – entgegen jeder objektiven Realität davon überzeugt ist, dass er immer noch das Zentrum der Welt ist, oder besser noch, dass er die ganze Welt darstellt.“

Das Gegenteil sei der Fall: „Mehr als dreißig Jahre sind seit dem Sturz des Kommunismus vergangen und es ist klar, dass der Westen für den Rest der Welt, gerade seit der Weltfinanzkrise von 2007/08, nicht mehr der bewundernswerte Sieger ist.“ Der Westen suche derzeit in einer kontraproduktiven, aggressiven Außenpolitik verzweifelt, aber vergeblich eine Kompensation für seine „Implosion“.

Sein Niedergang sei durch das Verschwinden des Christentums im Allgemeinen und des Protestantismus im Besonderen ausgelöst worden. Der Autor, selbst kein Christ, stellt dies ganz nüchtern fest. Zwei Gründe sieht er für die Hegemonie des Westens in den vergangenen Jahrhunderten: Die weitverbreitete Alphabetisierung der Bevölkerung und ihre Arbeitsethik. Beides sind kulturelle Auswüchse des Protestantismus. Die Alphabetisierung war Grundlage für den rasanten technischen und wissenschaftlichen Fortschritt im Westen, insbesondere seit dem 17. Jahrhundert. Die Arbeitsethik sorgte für eine präzedenzlose Kapitalanhäufung, mit der das technische Wissen in reale Natur- und Weltbeherrschung umgewandelt werden konnte.

Zwei Anmerkungen dazu. Erstens hat auch schon das nicht-protestantische, also katholische Christentum wichtige gesellschaftliche, aber auch individual-psychologische Grundlagen für den modernen Kapitalismus und die unverzichtbar mit ihm verbundene Menschenwürde und individuelle Freiheit gelegt. Auch die von Max Weber bekanntermaßen analysierte „protestantische“ Arbeitsethik ist zumindest in Ansätzen in manchen Mönchsorden zu finden. Eine Tatsache, die Todds These nicht schmälert, aber eine Erwähnung wert gewesen wäre. 

Zweitens trieb noch etwas anderes insbesondere die calvinistischen Protestanten an, als nur, wie Todd es formuliert, „zu arbeiten und zu sparen“. Die Konzentration auf diese zwei Aktivitäten allein hätten die Menschen kaum eine Generation lang durchgehalten, geschweige denn mehrere Jahrhunderte. Der von Todd vernachlässigte Hauptantrieb war, dass die Arbeits- und Verzichtsethik der calvinistischen Auslegung der Bibel entsprach und, ganz wichtig, mit einem göttlichen Versprechen, nachzulesen im fünften Buch Mose, Kapitel 28, einer Verbesserung der irdischen Lebensumstände ursächlich verbunden war – was sich dann auch in ihren Augen bewahrheitete. Somit entstand eine positive Rückkopplungsschleife, die sich in einem dauerhaften Wirtschaftswachstum manifestierte, das schließlich Hungersnöte verbannte und Lebenserwartung sowie -qualität drastisch erhöhte. Leider erwähnt Todd diesen Zusammenhang nicht, sondern konzentriert sich auf die ausbeuterischen Spätfolgen dieses Wachstums im Hinblick auf die Kolonien der westlichen Großmächte.  

Von 1870 bis 1930 diagnostiziert Todd eine Phase im protestantischen Westen, die er „protestantische Zombiegesellschaft“ nennt. Obwohl das Buch eine Fülle an reichhaltigen Einsichten enthält, fehlt leider eine Diskussion der Hauptursache des Niedergangs der Religion im Westen. Der Protestantismus, etwas später auch der Katholizismus, erlitten mit dem Aufkommen des Darwinismus einen schweren Schlag, von dem sich beide Konfessionen bis heute nicht erholt haben. Darwins Buch „Die Entstehung der Arten“ wurde 1859 erstmals veröffentlicht. Todd definiert Zombiegesellschaft als eine Welt, „in der die religiöse Praxis verkümmert, die sozialen Werte der Religion aber bestehen bleiben. Weder Taufe noch Heirat oder Beerdigung werden in Frage gestellt.“ In dieser Zeit, so Todd weiter, entsteht der „reine Nationalismus“ als Religionsersatz, der in das Gemetzel des Ersten Weltkriegs führt.

Nach dem Zweiten Weltkrieg, nach den unfassbaren Taten des extremen Nationalismus und des Kommunismus, gibt es im Westen eine „leichte Rückkehr zum Religiösen“, der in familiärem Konformismus, Baby-Boom und einer klaren Rollenverteilung von Männern und Frauen Ausdruck fand. Aber das „Zombiechristentum“ blieb bestehen, dessen „ultimative Verkörperung“ und „Apotheose“ der Wohlfahrtsstaat der Nachkriegszeit sei.

Der Zombiezustand der Religion ließ sich nicht lange halten und ging ab den 1960er Jahren in einen „Nullzustand“ über. Todd macht für diese Entwicklung die „Hochschulbildung, die daraus resultierende tektonische Verschiebung der Bildungsschichten“ und die wiederum daraus resultierende „soziale Fragmentierung“ verantwortlich. Er macht diesen Nullzustand an einer sinkenden Zahl der Taufen, der explodierenden Zahl „illegitimer Vereinigungen“, Scheidungen, Wiederverheiratungen und Alleinerziehenden fest sowie an der Zahl der Einäscherungen und schließlich an der Einführung der „Ehe für alle“.

Parallel dazu entstand der „Neoliberalismus“, der, so Todd, im Gegensatz zum klassischen Liberalismus keinen „aktiven Protestantismus“ neben sich hatte, „der die Gesellschaft zusammenhielt“ und, zumindest im urliberalen Großbritannien, den einfachen Leuten „ein Über-Ich mitgab (der durch die Erbsünde verdorbene Mensch ist schlecht, im Allgemeinen und sexuell) sowie ein Ich-Ideal (Erlösung, Heil und so weiter).“ Der Neoliberalismus hingegen habe „die Finanzwelt verselbständigt und anschließend den Produktionsapparat zerstört.“ Nun handelten „an seinem reinen, perfekten Markt Menschen ohne Moral, die einfach nur gierig sind.“

An dieser Stelle wäre es wünschenswert gewesen, wenn Todd die Rolle des Fiatgeldes und des Zentralbankwesens, die er nur in wenigen Sätzen kurz anreißt, intensiver beleuchtet hätte. Denn: Die Schwächung der allgemeinen Moral während der religiösen Zombiephase öffnete nicht nur dem „reinen“ Nationalismus und dem Kommunismus Tür und Tor, sondern auch der moralfreien Geldproduktion, oder Geldschöpfung aus dem Nichts. Gerade letztere ermöglicht den Menschen eine langfristige Beibehaltung von Illusionen, weil sie lange Zeit die etwa von Ayn Rand für Menschen in solchen Zuständen vorhergesagte schmerzhaften „Konsequenzen des Ignorierens der Realität“ abfedert oder auf andere umlenkt.

Todd ist jedoch im Allgemeinen auf dem richtigen Dampfer. Er weiß, dass der religiöse Nullzustand „instabil“ ist, denn „er besitzt eine eigene Dynamik, die zum Nihilismus und sogar zu dessen Vollendung führt: zur Realitätsverweigerung.“ Er gibt sogar zu, in dieser Hinsicht in jungen Jahren völlig falsch gelegen zu haben: „Eine der großen Illusionen der Sechzigerjahre – zwischen der angloamerikanischen sexuellen Revolution und dem französischen Mai 68 – bestand darin, zu glauben, dass der Mensch, ist er erst vom Kollektiv befreit, wachsen würde (mea culpa, mea maxima culpa!). Es verhält sich genau umgekehrt. Der Einzelne kann nur innerhalb und durch eine Gemeinschaft wachsen.“

Todd prognostiziert den endgültigen Niedergang der westlichen Welt, lautet die zutreffende Beschreibung auf dem Buchumschlag. „Im Kern verrottet, aber nach außen expandierend steht der Westen einem Russland gegenüber, das sich stabilisiert hat und nunmehr konservativ auf die Länder der restlichen Welt wirkt, die den USA und ihren Verbündeten nicht in ihre Kriege folgen wollen.“

Das ist die Lage am Anfang des Jahres 2025.

Schließlich noch ein Wort zum Darwinismus, jenem Grundpfeiler des westlichen religiösen Nihilismus: Viele Naturwissenschaftler wissen bereits, dass der Darwinismus nicht mehr der Weisheit letzter Schluss ist. Dass er neuere Erkenntnisse etwa über die unglaubliche Komplexität und Dynamik innerhalb einer biologischen Zelle genauso wenig zu erklären vermag wie verschiedene geologische Phasen explosionsartiger, gleichzeitiger Entstehung neuer Arten. Sie schweigen darüber, wohl aus Karrieregründen. Vielleicht benötigt ein Wiederaufleben des Westens – nach seinem endgültigen Niedergang – eine allgemeine Verbreitung der Kenntnis über die Schwächen des Darwinismus. Nicht als hinreichende, wohl aber als notwendige Bedingung.

Quelle:  

Emmanuel Todd: Der Westen im Niedergang, Westend-Verlag, Neu-Isenburg, 2024 (Amazon)   


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