Krieg und Frieden – Teil 1: Ewiger Frieden oder ewiger Krieg?
Zu einer grausamen Logik
von Stefan Blankertz
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Dass die kriegerische Ertüchtigung und die Bewährung im Krieg eine Schule der Tugend sei, wie es bis Anfang des 20. Jahrhunderts hieß, ist in den meisten Kulturkreisen inzwischen kein Teil des nationalen Narrativs mehr. Dennoch feiert das geflügelte Wort des preußischen Generalmajors Carl von Clausewitz (1780–1831), Krieg sei eine bloße Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln nach dem Angriff des russischen Staats auf die Ukraine 2022, nach dem Schwenk der Grünen hin zum Bellizismus im gleichen Jahr, nach dem Überfall der Hamas auf Israel 2023 und der Exzessreaktion des israelischen Staats sowie nach Donald Trumps strategischen Moves anlässlich seiner Wiederwahl 2025 Urständ. Krieg wird als bedauerlich, aber notwendig deklariert. In Deutschland hat die nun ausgediente Ampel-Regierung die Ausgaben für die Bundeswehr drastisch erhöht. Die AfD, die sich als Opposition im Allgemeinen und gegen die deutsche Einmischung in den Ukraine-Krieg im Besonderen aufspielt, fordert eine noch weitergehende Steigerung der Rüstungsausgaben und darüber hinaus die Wiedereinführung der Wehrpflicht. De facto gibt es keine politisch relevante Opposition gegen Krieg und Aufrüstung. Die Reste der Friedensbewegung in der Linken und im BSW sind nicht ernst zu nehmen, da diese beiden Parteien in der Tradition des militaristischen „realen Sozialismus“ stehen.
Szenenwechsel. Ab Ende des 18. Jahrhunderts begann Europa in neuartigen Kriegen zu versinken und die Welt mit Kriegen zu überziehen. Es handelte sich erstens um Kriege, die etablierte Nationen um Kolonien führten, zweitens um Kriege, in denen werdende Nationen um ihre Größe und „Einheit“ rangen, und schließlich drittens um revolutionäre Kriege. Der preußische Philosoph Immanuel Kant formulierte 1795 die Idee und die Bedingungen eines zwischenstaatlichen „ewigen Friedens“. Die beiden hervorstechenden Bedingungen für Frieden, die Kant herausarbeitete, lauten, dass jeder Staat die aktuellen Grenzen respektieren müsse und sich niemals in die inneren Angelegenheiten eine anderen Staats einmischen dürfe. Beide Bedingungen sind heute so aktuell wie damals und genauso unrealistisch. Dennoch sind diese beiden Vorbedingungen des Friedens logisch unabweisbar.
Zur ersten Vorbedingung, nämlich dass jeder Staat den Status quo der Grenzen respektieren müsse: Da es kein historisches, ethnographisches und logisches Kriterium dafür gibt, in welchen Grenzen ein Staat existieren solle, würde die Erlaubnis, die jeweils gegebenen Grenzen infrage zu stellen, die Lizenz für jedwede Kriegsführung erteilen. In den Grenzregionen überlappen sich die ethnischen Zugehörigkeiten der Bevölkerung, die Sprachen, die Kulturen, die Religionen. Die Grenzziehung ist das Ergebnis von Kriegen. Viele Staaten schließen eine Vielzahl von Völkern, Sprachen, Kulturen und Religionen ein. Andererseits sind Völker, Sprachen, Kulturen und Religionen auf etliche Staaten verteilt. Völker ihrerseits sind wiederum das Ergebnis einer zwangsweisen Vereinigung durch kriegerische Einwirkung.
Jene Vorbedingung gilt absolut strikt. Das Argument, ein Staat habe sich in einer früheren kriegerischen Aggression ein Gebiet angeeignet, lässt es nicht zu. Sobald irgendeine Ausnahme zugelassen werden würde, würde dies bedeuten, die Bedingung eines ewigen Friedens aufzuheben und Krieg als erlaubtes Mittel zuzulassen, um vermeintliches oder wirkliches Unrecht rückgängig zu machen.
Was in Kants Vorbedingung nicht enthalten ist, ist das Recht eines Staats, sich gegen einen aktuellen Angriff zu wehren, denn der aktuelle Angriff bedeutet bereits den Bruch des ewigen Friedens. Allerdings lehren Geschichte und Gegenwart des Kriegs, dass die genaue Ermittlung, wer von den Kriegsparteien der Aggressor sei, meist umstritten ist. Oft behaupten beide Seiten, sich „nur“ zu verteidigen.
Darüber hinaus gilt zu bedenken, dass bloß ein solcher Staat sich verteidigen kann, der beizeiten Soldaten trainiert und Rüstungsgüter angehäuft hat und der darüber hinaus sich des Beistandes durch weitere Staaten versichert hat. Nach dem Angriff des russischen Staats auf die Ukraine stellten die europäischen Staaten fest, wie schlecht sie für einen eventuellen Waffengang ausgerüstet sind. Ehemalige Kriegsdienstverweigerer und Friedensaktivisten beteuerten, nun nicht mehr für die Verweigerung und gegen die Hochrüstung zu sein. Zu spät. Wir haben es bei Kants ewigem Frieden also mit einer Welt zu tun, in der Staaten bis an die Nasenspitze hochgerüstet sind. Dies stellt aber, so müssen wir Kant kritisch vorhalten, ein großes Kriegsrisiko dar, denn Truppen, die permanent in der Wartestellung verharren, werden auf die Dauer untauglich.
Zur zweiten Vorbedingung, nämlich dass kein Staat sich in die inneren Angelegenheiten eines anderen Staats einmischen dürfe: Da es sich kein Staat gefallen lassen würde, wenn ein anderer Staat ihm Vorschriften darüber macht, wie er seine inneren Angelegenheiten regelt, würde die Erlaubnis zu einer solchen Einmischung notwendigerweise Krieg nach sich ziehen. Auch diese Vorbedingung müsste absolut strikt eingehalten werden, wenn es dauerhaft Frieden geben soll. Aber es stellt ebenso wie die erste Vorbedingung ein moralisches Problem dar, wenn in einem Staat nachweislich ungeheuerliche Menschenrechtsverletzungen geschehen. 1978 etwa beendete das gerade wiedervereinigte kommunistische Vietnam (das nicht für die Einhaltung von Menschenrechten bekannt war) das konkurrierende kommunistische Regime der Roten Khmer in Kambodscha. Der Einmarsch des vietnamesischen Staats in Kambodscha stellte klarerweise einen Verstoß gegen das Völkerrecht dar, und folgerichtig erkannte die Uno das von ihm den Kambodschanern aufgezwungene Regime lange Zeit nicht an. Dennoch fällt es schwer, im Namen des Völkerrechts ein ungehindert fortgesetztes Wüten der Roten Khmer gutzuheißen. Wäre das Regime der Roten Khmer von selber zusammengebrochen? Und wann wäre das geschehen?
Wie viele weitere Menschenleben hätte die Verzögerung gekostet? Wir wissen es nicht. Konsequent innerhalb der von Kant vorgedachten Bahn verläuft die Idee eines Völkerbundes oder eben der Uno, den Vereinigten Nationen: Es möge eine übernationale Institution geben, die darüber entscheidet, wer in einem aktuellen Krieg die Aggression begangen hat, und dem angegriffenen Land zur Seite steht; und sie möge entscheiden, ob es in einem Staat innere Zustände gibt, die ein militärisches Eingreifen rechtfertigen und entsprechend entweder selber Truppen dorthin senden oder andere Staaten damit treuhänderisch beauftragen. Allerdings sind beide Vorgänge bereits das Zugeständnis, dass es den ewigen Frieden nicht gibt. Denn selbst wenn militärische Maßnahmen gerechtfertigt sind, stellen sie kriegerische Akte dar.
Das Problem liegt freilich noch tiefer: Innerhalb der übernationalen Institution handeln die Nationen jeweils weiterhin im eigenen Interesse. Man kann nicht realistisch davon ausgehen, dass sie sich in Engel transformieren, nur weil sie in den heiligen Hallen der übernationalen Institution wandeln. Wenn die übernationale Institution mit eigener Souveränität und eigenem Militär ausgestattet wird, ist sie den die Institution konstituierenden nationalen Eigeninteressen zwar weniger stark ausgesetzt (ganz unabhängig ist sie freilich immer noch nicht), aber wird nun zu einer Kriegspartei mit ihrerseits einem eigenen Interesse.
Formelhaft wird das Problem mit der Frage umrissen, wer die Überwacher überwacht. Diese Frage ist allerdings lange nicht radikal genug. Wir wissen, dass Macht korrumpiert (oder wenigstens korrumpierbar macht). Je stärker die Macht konzentriert ist und je weniger Gegengewicht sie befürchten muss, um so anfälliger macht sie das für Missbrauch. Eine unangefochtene übernationale Institution als übermächtiger Weltstaat ist die schlimmste Bedrohung der Menschheit, die man sich vorstellen kann: Sie schafft bestenfalls die Friedhofsruhe, aber keinen gedeihlichen Frieden. Um zum (ewigen) Frieden zu kommen, müssen wir uns anderen Ideen zuwenden.
Als erste Konsequenz dieser Überlegungen die klare Ansage zur Wahl am Sonntag: Nur durch Stimmenthaltung gibt man ein Votum für Frieden und gegen Krieg ab.
Kommentare
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