Krieg und Frieden – Teil 3: Ent- und Begrenzung des Kriegs
Eine kleine Moralgeschichte
von Stefan Blankertz

Der preußische Generalmajor Carl von Clausewitz (1780–1831) gab eine ebenso schlichte wie erschreckende Begründung, warum Kriegshandlungen sich durch Moral nicht begrenzen ließen. Da der Krieg eine Frage der physischen Stärke stelle, müsse die Seite, die irgendeine Möglichkeit zu obsiegen nicht wahrnehme, ins Hintertreffen geraten. Am Ende siege zwar eine Seite, aber sobald eine Seite vor der endgültigen Entscheidung ins Hintertreffen gerate und über eine noch unausgeschöpfte Möglichkeit der Eskalation verfüge, werde sie diese auch nutzen. Die andere Seite sehe sich nun gezwungen, auf die Eskalation einzugehen oder zu unterliegen. So drehe sich die Spirale der Eskalation bis zum bitteren Ende. Dies war eine düstere Prognose, die sich vom amerikanischen Überkrieg über den Ersten bis hin zum Zweiten Weltkrieg bewahrheiten sollte.
Allerdings ist Carl von Clausewitz’ Argumentation nicht vollständig und auch für die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg nur noch bedingt gültig. Neben der Steigerung der kriegerischen Brutalität, von der die Geschichte voll ist, gibt es auch Beispiele für Begrenzung. Ein Beispiel ist der burische General Jan Christiaan Smuts im Zweiten Burenkrieg (1899–1902). Smuts (1870–1950) ergab sich mit den von ihm befehligten Truppenteilen lange vor der Ausschöpfung aller Möglichkeiten der Eskalation, um weiteres Blutvergießen zu verhindern; seine Kapitulation führte dazu, dass die Buren die Kampfhandlungen gegen die Briten einstellten, obwohl die Briten in diesem Krieg bekanntermaßen Kriegsverbrechen gigantischen Ausmaßes begingen wie die sogenannte Politik der verbrannten Erde und errichteten Konzentrationslager. Dieses Beispiel allein genügt, um zwei Bedingungen für die Begrenzung des Kriegs zu formulieren: Smuts war kein Fanatiker, der lieber die eigene Bevölkerung opferte als nachzugeben. Als Staatsmann (zweimal war er später Präsident der Südafrikanischen Union) betrieb er eine britenfreundliche Politik. Sodann erwartete er, dass die Briten ihren Sieg nicht zur Knechtung oder gar Vernichtung der burischen Bevölkerung missbrauchen würden. Es ist liegt nahe, anzunehmen, dass er ohne diese beiden Bedingungen den Krieg fortgeführt hätte.
Die Rede davon, dass die Briten im Burenkrieg „Kriegsverbrechen“ begangen hätten, setzt voraus, dass es eine Art Recht im Schrecken des Kriegs geben könne oder wenigstens solle. Es solle Regeln geben, die den Schrecken des Kriegs, besonders bezogen auf die Bevölkerung, eingrenzt, kodiert im Völkerrecht, das allerdings keine mit entsprechenden Machtmitteln ausgestattete Instanz hat, um dieses Recht durchzusetzen. Carl von Clausewitz’ Argumentation legt nahe, dass das Völkerrecht eine ziemlich stumpfe Waffe ist, wenn es hart auf hart geht.
Nach dem Zweiten Weltkrieg hat diese vormals stumpfe Waffe eine unerwartete Schärfung gefunden in Entwicklungen, die Clausewitz noch unbekannt waren. Die eine Entwicklung ist die Atombombe, die ein Gleichgewicht des Schreckens konstituierte, sobald beide Seiten über sie verfügten: Der Vernichtungsschlag gegen den Kontrahenten impliziert die eigene Zerstörung. Allerdings muss der unmittelbare Zusammenhang der beiden Vernichtungsschläge technisch gegeben und beiden Seiten bekannt sein. Es grenzt schon an ein Wunder, dass die Menschheit dieses Gleichgewicht des Schreckens bislang überdauert hat. Für die Vergangenheit sind Zwischenfälle bekannt, in denen es kurz vor einem interkontinentalen atomaren Schlagabtausch stand. Eine Strategie, die das gegnerische Gebiet entvölkert und unbewohnbar macht, ist auch immer dann selbst in den erbittertsten Kämpfen kontraindiziert, wenn das Kriegsziel darin besteht, dieses Gebiet und deren Bewohner nach dem Sieg in den eigenen Dienst zu stellen.
Es gibt eine weitere Entwicklung nach dem Zweiten Weltkrieg, die zu einer Begrenzung des Kriegs führte. Vor allem das Gleichgewicht des Schreckens machte es für jede kriegführende Partei notwendig, sich des Wohlwollens einer der sogenannten Supermächte zu versichern: Man braucht das atomare Schutzschild einer Supermacht, um der Vernichtung zu entgehen. Nur auf diese Weise lässt sich verhindern, dass der Gegner Atom- oder andere Vernichtungswaffen einsetzt. In einer zunehmenden wirtschaftlichen Verzahnung der Welt spielt darüber hinaus die weltweite öffentliche Meinung eine immer größere Rolle: Jede Kriegspartei muss darauf bedacht sein, in der öffentlichen Meinung gut dazustehen. Bündnispartner und Weltöffentlichkeit haben jedoch oft ganz andere Interessen als die jeweilige kriegführende Partei: Sie ist nun gezwungen, auf diese Interessen Rücksicht zu nehmen, und kann nicht mehr schalten und walten, wie es ihr beliebt.
Diese Überlegung führt zur Einsicht in einen Aspekt, den Carl von Clausewitz vernachlässigt hat: Nicht nur bei den Verbündeten und in der Weltöffentlichkeit spielt es eine Rolle, inwieweit die Bevölkerung mit den Kriegszielen und mit der Kriegsführung übereinstimmt, sondern auch im eigenen Land. Fürsten, Monarchen und heute Diktatoren stellen oft zur Schau, dass sie sich von der öffentlichen Meinung unabhängig fühlen. Dies ist aber entweder tatsächlich nur Schau oder es ist eine Verblendung, denn kein Land kann Krieg führen, ohne dass die Bevölkerung ein Mindestmaß an Bereitschaft zur Kooperation hat. Gewisse unzufriedene oder oppositionelle Teile der Bevölkerung können unterdrückt oder gar liquidiert werden, dennoch muss die Mehrheit mitmachen, als Soldaten, als Arbeiter. Die Mütter müssen ihre Söhne (und manchmal auch Töchter) für den Krieg hingeben. In jeder kriegführenden Partei sollten wir also sorgsam unterscheiden zwischen drei Gruppen: erstens den Herrschenden, die den Krieg aus welchen Gründen auch immer anzetteln, zweitens den diesen Krieg willig ausführenden Organen in der Bevölkerung und drittens der erklärten Opposition. Eine Unterscheidung, die dem Preußen Carl von Clausewitz völlig fremd war. Es gibt drei Beispiele der neueren Geschichte, in denen sich zeigt, wie kriegsentscheidend die Kooperation der Bevölkerung ist: Den Vietnamkrieg mussten die USA 1975 einstellen aufgrund der massiven inneren Opposition, obwohl er militärisch und ökonomisch gesehen durchaus noch hätte weitergeführt werden können (Weiteres dazu im Teil 9 der Serie). Im Laufe des Afghanistankriegs brach die UdSSR ökonomisch zusammen und musste ihn einstellen; es gab keine direkte politische Opposition, aber einen ökonomischen Boykott durch die Bevölkerung (Weiteres dazu im Teil 12 der Serie). Am Ende der Herrschaft von Baschar Hafiz al-Assad im syrischen Bürgerkrieg lösten die von ihm befehligten Truppen sich auf. (Auf der anderen Seite führt das Spiel mit der öffentlichen Meinung auch zu neuen entgrenzenden Kampfformen, die ich in Teil 11 der Serie behandeln werde.)
Es gibt einen Punkt im Völker- oder Kriegsrecht, der die Zeiten ganz gut überdauert hat und selten gebrochen wird, und das ist die gegenseitige Schonung, die sich die Herrschenden gewähren, egal, in welch unerbittlichen Kampf sie ihre Soldaten gegeneinanderhetzen. Die militärische und politische Führung der Kriegsparteien dürfen, so lautet dieses sich moralisch gebende Gebot der absoluten Unmoral, nicht direkt Ziel der Kampfhandlungen sein. Hier wird die Unterscheidung zwischen Herrschenden und Bevölkerung besonders deutlich. Es ist erlaubt und moralisch unbedenklich, das Fußvolk in größtem Ausmaß zu massakrieren, aber einen gezielten Enthauptungsschlag gegen den Widersacher zu führen, gilt als im höchsten Maße „unmoralisch“ und wird geächtet, selbst von Leuten, die sich ansonsten als herrschaftskritisch ausgeben. Dies war nicht immer so: Mit einem Exkurs in den viel geschmähten Feudalismus geht es nächste Woche weiter.
Die psychische Entgrenzung des Kriegs ist ein Faktor, den Carl von Clausewitz ebenfalls nicht bedacht hat. Das Dem-Tode-Ausgesetztsein des Soldaten, das Bezeugen vom Tod der Kameraden und Familienangehörigen, die Entbehrungen während der Kämpfe, darunter ganz besonders die sexuellen Entbehrungen, führen zu einer psychischen Disposition zunächst der Soldaten und dann auch der übrigen leidenden Bevölkerung, sich durch Plünderung und Vergewaltigung das zu nehmen, was ihnen ihrer Meinung nach zusteht. Selbst härteste Strafandrohungen zeigen im Endstadium des Kampfes keine Wirkung mehr, weil die Betroffenen das Schlimmste schon erlebt haben. Man kann sie nicht mehr bestrafen. In früheren Zeiten gehörten Plünderung und Vergewaltigung zu den akzeptierten, ja geachteten Insignien des Siegers. Das ist gottlob nicht mehr der Fall. Aber dennoch gehören sie nach wie vor zum Alltag des Kriegs und sind vermutlich durch kein Mittel zu unterbinden.
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