Krieg und Frieden – Teil 4: Von der Ehrlosigkeit der Krieger
Ritter, Soldaten und Söldner
von Stefan Blankertz

Die eigenen Soldaten sind die guten, die einen beschützen; die Soldaten der anderen sind die bösen, die Kriegsverbrechen begehen. Dagegen gibt es kaum einen Begriff, der so eindeutig negativ besetzt ist wie der des Söldners. Der Söldner hat kein Vaterland, er kämpft nicht für eine Sache, sondern verkauft sich an den Meistbietenden. Aber auch der Soldat kriegt Sold; etymologisch haben beide Begriffe den gleichen Ursprung. Der Soldat, so die meist unausgesprochene Unterstellung, kämpft fürs Vaterland (oder eine andere ehrbare Sache wie die Freiheit oder Gerechtigkeit) und wird dafür besoldet, der Söldner kämpft nur, um den Sold zu erhalten.
Söldner gelten als brutal und rücksichtslos.
Theorie und Empirie belehren uns eines Besseren. Der Söldner mag eine ausgebildete Killermaschine ohne moralische Hemmung zum Töten und zum Foltern sein, aber er stellt die Kampfhandlung sofort ein, wenn er entweder keinen Sold mehr kriegt oder wenn sein eigenes Leben bedroht wird. Das Desertieren mag der Söldnerführer mit drastischen Strafen belegen, aber in einer Situation, in der er keinen Sold mehr zahlen kann oder in eine militärisch schwierige Lage gerät, wird er kaum noch in der Lage sein, seine Drohungen in die Tat umzusetzen. Es gibt nur eine Lage, in der Söldner bis zum Äußersten kämpfen, nämlich wenn sie eingeschlossen sind, ohne Chance auf Entkommen, und wenn sie die Gegner so einschätzen, dass sie im Fall einer Kapitulation Rache an ihnen nehmen werden.
Ganz anders kann es zugehen bei regulären, vom Staat angestellten Soldaten. Wenn sie hinreichend fanatisiert sind, haben sie nicht nur keine moralische Hemmung zum Töten und zum Foltern, sondern fühlen eine geradezu moralische Verpflichtung, es zu tun. Dies kann, muss aber nicht sein. Mit zunehmenden Verlusten an Kameraden und Familienangehörigen nimmt jedenfalls die Tendenz zu Fanatismus und zur selbstgerechten Aneignung in Form von Plünderung und Vergewaltigung im Verlauf eines Kriegs stets umso mehr zu, je länger er dauert. Diese Tendenz ist unaufhaltsam. Während sich also beim Söldner die Neigung, am Kriegsgeschehen teilzunehmen, reduziert, je schlechter die Lage der Seite wird, von der er seinen Sold bezieht, nimmt die Brutalität der regulären Soldaten zu.
Es gibt zwei große Schübe der Fanatisierung in der europäischen Geschichte: Das sind die Reformation und die Französische Revolution. Die der Reformation folgenden Religionskriege etablieren erstmals das Prinzip einer ideologischen Gefolgschaft im Krieg und darüber hinaus die Parole, lieber gemeinsam zu sterben als vom Gegner überwältigt zu werden. In der Französischen Revolution wird erstmals die gesamte männliche Bevölkerung mobilisiert und zum Kampf für „die Idee“ geschickt. Das Ende der Ritterheere ward eingeläutet. Napoleon I. gelang es, fast ganz Europa zu überrollen, bis die Fürsten sich reorganisiert hatten, indem sie Strategie und Taktik des revolutionären Volksheers kopierten.
Auch der Ritter erhält eine Entlohnung, aber keinen Sold, sondern Einnahmen aus Abgaben, die Vorläufer der heutigen Steuern sind. Im frühen Feudalismus war das Verhältnis von bäuerlicher Bevölkerung zum Fürsten (Ritter) idealtypisch ein Vertragsverhältnis: Der Ritter organisiert den Schutz der Bevölkerung vor räuberischen und kriegerischen Überfällen, damit die Bauern in Ruhe der Landwirtschaft und der Viehzucht nachgehen können; dafür entrichtet die Bevölkerung Abgaben in Form von Naturalien, Dienstleistungen und (später) Geld. Noch der heilige Thomas von Aquin statuierte im Hochmittelalter, die Bevölkerung könne ihre Abgaben vom Fürsten zurückfordern, wenn es zu Überfällen käme, denn der Fürst hätte dann den Vertrag gebrochen.
Doch schnell kehrte sich das Verhältnis um. Die Ritter waren im Besitz der Waffen und geübt in deren Einsatz; sie konnten die Bauern zu den Abgaben zwingen und taten es auch. Das idealtypische Vertragsverhältnis wandelte sich in ein reales Gewaltverhältnis. Zudem waren dauerhafte Friedenszeiten und Zeiten ohne Kriminalität für die Ritter höchst bedrohlich; die Bevölkerung konnte auf die Idee kommen, dass sie der Ritter gar nicht bedürfe. Kriegerische und räuberische Auseinandersetzungen waren stabilisierend für die Herrschaft, sodass es nie um deren wirksame und dauerhafte Verhinderung ging.
Bei den Rittern ging es viel um Ehre und um spielerische Ertüchtigung der Wehrfähigkeit. Die Ehre war viel Tamtam um nichts. Denn in der konkreten Auseinandersetzung setzte oft genau der Mechanismus ein, den Carl von Clausewitz Mitte des 19. Jahrhunderts beschrieben hatte (siehe Teil 3 dieser Serie): Wer eine Möglichkeit der Gewaltanwendung aus moralischen Gründen unausgeschöpft lässt, der unterliegt. Die Ehre war dann nicht mehr viel wert.
Der Charakter des Kriegs als nur leicht ins Ernste verlängerte Variante des Ritterturniers hatte dagegen eine entscheidende kriegsbegrenzende Wirkung: Wie beim Söldner ist der Kampf dann beendet, wenn eine Seite in Bedrängnis gerät. Oder noch einschränkender: Der Kampf ist zu Ende, wenn der Befehlshaber (König, Fürst, General) der Gegenseite fällt oder, in symbolischer Form, wenn die Fahne des Gegners sinkt. Oft bezogen Schaulustige Posten auf einem Hügel, um dem Schlachtgetümmel zu folgen. Dass dabei Menschen starben, stellte ein nur geringes moralisches Problem dar: Es handelte sich um Menschen, die zum Töten und Getötetwerden geboren und ausgebildet waren. Auch der Ausgang der Schlacht bedeutete für die Schaulustigen kaum etwas, denn ob sie ihre Abgaben an den einen oder an den anderen Fürsten zu entrichten hatten, war für die meisten kaum von Belang. Allerdings lief Krieg im Feudalismus nicht immer so idyllisch oder wenigstens glimpflich ab. Plünderungen und Vergewaltigungen stellten oft die Belohnung für den Sieg dar, Folter für Kollaboration mit dem Feind war an der Tagesordnung. Zudem gab es bereits Vorläufer der modernen Heere aus fanatisierten Teilen des Volks, so in einigen Kreuzzügen, die oft Hybriden aus Ritter- und Volksheer darstellten.
Ein Teil der Ritterehre ging in das Soldatentum der Neuzeit über. Der Ritter hatte umfassend, vor allem musisch und literarisch, gebildet und höfisch zu sein. Dies wurde vom Soldaten nicht mehr verlangt, aber Fairness im Kampf, Ehrerbietung auch für den Feind, Loyalität dem Führer und Rücksicht der Bevölkerung gegenüber, Schonung von Unschuldigen und Unbeteiligten, schließlich absolute Enthaltung von Akten der Plünderung und Vergewaltigung galten als soldatische Tugenden. Der vermutlich letzte Propagandist solcher Tugenden war der Schriftsteller Ernst Jünger (1895–1998), obwohl er sehr genau wusste, dass sie im modernen technisierten und ideologisch fanatisierten Krieg unwiederbringlich verloren gegangen sind (siehe Teil 23 dieser Serie). In einer seiner Erinnerungen an den Ersten Weltkrieg, in den er freiwillig als junger Mann eingetreten war, um der Schule zu entfliehen und Abenteuer zu erleben, notiert er fassungslos, dass seine Kameraden die Feinde hassen. Für Jünger waren sie Partner in einem blutigen Spiel und dementsprechend zu würdigen.
Die feudalistisch-mittelalterliche Kriegsbegrenzung hatte zur Bedingung, dass es für die Bevölkerung kaum eine Rolle spielte, wer ihr Herr war. Die Herren extrahierten zwar Abgaben und erzwangen Dienstleistungen, doch mischten sie sich wenig bis gar nicht in den Alltag der Bauern und der Städter ein. Die Leute konnten die Sprache sprechen, die sie wollten, sie arbeiteten und kooperierten auf ihre Weise, sie vollzogen die religiösen Riten in der ihnen genehmen Art, selbst die Eheschließungen liefen an Staat und oft sogar Kirche vorbei, sie wählten ihre Bürgermeister, sie richteten die Übeltäter; mit allem, was ihnen wichtig war, hatten die Herrn nichts zu schaffen. In Russland war der Mir, die Dorfgemeinschaft, bis zum Anfang des 20. Jahrhunderts eine selbstverwaltete Einheit. Die Anarchisten hatte vollkommen recht, dass der Mir, von der Feudalherrschaft befreit, ohne jede Übergangsschwierigkeit hätte weiterexistieren können; der einzige Unterschied wäre gewesen, reicher zu sein, weil die Bauern keine Abgaben mehr hätten leisten müssen. Die Bolschewisten verfolgten andere Pläne, zerschlugen den Mir, rotteten die erfolgreichen Bauern (Kulaken) aus und lösten damit wahnsinnige Hungersnöte aus.
Die neuzeitliche Ausweitung der Staatstätigkeit und die Zerschlagung der Autonomie von Regionen und Körperschaften bringen zugleich die Entgrenzung des Kriegs hervor. Auf einmal ist es für die Bevölkerung wichtig, wer mit welchen Mitteln und mit welcher Ideologie über sie herrscht. Sie identifiziert sich mit ihrem Staat und verteidigt ihn, weil sie vermutet, der andere, gegnerische Staat würde ihr eine Sprache, einen Set von Regeln (Gesetze) und eine Ideologie (zum Beispiel eine Religion) aufzwingen. Also nimmt sie die eigene hergebrachte Herrschaft als das kleinere Übel in Kauf. Im Verlaufe eines Kriegs überhöht sie den eigenen Staat – übe er seine Herrschaft noch so grausam und unerbittlich aus – zum Retter und Heilsbringer. Nach dem Sieg wird sie eines Besseren belehrt. Aber dann ist es zu spät.
Kommentare
Die Kommentarfunktion (lesen und schreiben) steht exklusiv nur registrierten Benutzern zur Verfügung.
Wenn Sie bereits ein Benutzerkonto haben, melden Sie sich bitte an. Wenn Sie noch kein Benutzerkonto haben, können Sie sich mit dem Registrierungsformular ein kostenloses Konto erstellen.