06. April 2025 06:00

Herrschaftsformen In welcher Demokratie leben wir?

Ein umstrittener Begriff

von Antony P. Mueller

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Bildquelle: Vladimír Krupa 81 / Wikimedia Joseph Alois Schumpeter: „Jeder vernünftig Denkende sollte wissen, dass Politiker sich nur dann den Interessen des Gemeinwohls verpflichtet fühlen, wenn es zusammenfällt mit ihrem Interesse am Eigenwohl“

Wenn von „Demokratie“, oder, noch schlimmer, von „unserer Demokratie“ die Rede ist, sind den Missverständnissen Tür und Tor geöffnet und die Begriffsakrobatik treibt fröhlichen Urstand.

Die Probleme fangen schon bei dem Begriff an. Was heutzutage „Demokratie“ (Volksherrschaft) genannt wird, hat mit dem ursprünglichen Konzept wenig zu tun. Der Wortteil „Demo“ in „Demokratie“ war bei den Altgriechen keineswegs das, was man seit der Neuzeit unter „Volk“ versteht. Das „demo“ in Demokratie (δημοκρατία) bezeichnete im antiken Griechenland eine dörfliche, bestenfalls kleinstädtische politische Gemeinschaft, und „Demokratie“ bedeutete in diesem Sinn die Souveränität der Gemeinde. Systemtheoretisch gesprochen existiert diese Souveränität der Gemeinschaft durch die Ausübung des Ausschlussprinzips, das für alles Fremde gilt, einschließlich Immigranten, fremder Gesetze und Gepflogenheiten. Dieses Fremde kann aufgenommen werden, allerdings nur mit der Genehmigung aller Gemeindebürger. Ebenso darf eine Steuererhebung oder Gesetzesänderung nur kraft Zustimmung durch die Bürgerversammlung stattfinden. Im Gegensatz zu diesem Demokratiemodell müsste man das, was man heute „Demokratie“ nennt, richtiger als „Imperium“ und, ihrem Inhalt nach, als eine Tyrannis bezeichnen.

Nach Aristoteles (384–322 vor Christus) gehört die Demokratie (neben der Tyrannis und der Oligarchie) zu den „schlechten Verfassungen“. Demokratie ist eine entartete Regierungsform, da bei einem allgemeinen Stimmrecht sich die Interessen der ärmeren Mehrheit auf Kosten des Gemeinwohls durchsetzen.

Die Demokratie Athens war eine direkte Bürgerherrschaft, die stark an die Polis-Gemeinschaft gebunden war. In der athenischen Demokratie gab es ein klares Konzept der Zugehörigkeit: Bürgerrechte waren exklusiv für männliche Athener, während Metöken (ansässige Fremde) und Sklaven ausgeschlossen waren. Die Souveränität lag in der Volksversammlung, die über Gesetze, Steuern und Staatsangelegenheiten entschied.

Die modernen Demokratien hingegen sind durch eine zentralistische Struktur gekennzeichnet, die sich von der lokalen, bürgerbasierten Entscheidungsfindung der Antike grundlegend unterscheidet. Hinzu kommt, dass aufgrund der Rolle der politischen Parteien das heutige System unweigerlich oligarchische Züge trägt.

Aber auch der auf Jean-Jacques Rousseau (1712–1778) zurückgehende moderne Demokratiebegriff hat mit dem von ihm entwickelten Modell wenig zu tun. In seinem Werk über den Gesellschaftsvertrag („Du Contrat Social“, 1762) führt Rousseau aus, dass sich die Individuen freiwillig zu einer politischen Gemeinschaft zusammenschließen und im Gegensatz zu der absolutistischen Herrschaftsvorstellung nicht Untertanen sind, sondern aktive Mitglieder einer politischen Gemeinschaft, die gemeinsam Gesetze erlassen. Sie sind dabei vom Allgemeinwillen (volonté générale) geleitet, der sich vom Partikularwillen (volonté particulière beziehungsweie volonté de tous) unterscheidet. Rousseaus Grundfrage lautet, welche Staatsform mit der Freiheit des Einzelnen vereinbar ist. Er kommt zu dem Schluss, dass diese nur in der direkten und nicht in der repräsentativen Demokratie gewährleistet ist.

Rousseaus Demokratie ist nur auf lokaler Ebene mit einer homogenen Bevölkerung realisierbar. Herrschaft des Gemeinwillens bedeutet, dass Bewohner, die die Einheitlichkeit der Gesinnung sprengen, ausgesondert werden können oder sie sich gezwungenermaßen dem Gemeinwillen unterwerfen müssen. 

In seinem Werk „Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie“ (1942) weist Joseph Alois Schumpeter (1883–1950) die traditionellen normativen Demokratievorstellungen zurück und definiert „Demokratie“ als Methode zur Erzielung politischer Entscheidungen: „Die demokratische Methode ist jene institutionelle Regelung zur Erzielung politischer Entscheidungen, bei der Individuen um die Entscheidungsmacht durch einen Konkurrenzkampf um die Stimmen des Volkes ringen.“

Demokratie ist Wettbewerb um politische Führung. Es geht nicht um die Herrschaft des Volkes oder um „Freiheit“, sondern um den institutionellen Rahmen des politischen Wettbewerbs. Die politischen Parteien operieren als Anbieter von Programmen und konkurrieren um Zustimmung, die in den Wahlen zum Ausdruck kommt. Ganz im Unterschied zur Konzeption bei Aristoteles und Rousseau befinden sich die Bürger in einer passiven Rolle, und sie haben lediglich zwischen konkurrierenden politischen Eliten zu wählen. Diese „Eliten“ vertreten nicht „repräsentativ“ den Willen der Wähler, sondern erheben aktiv politischen Gestaltungsanspruch.

Die Demokratietheorie von Schumpeter deckt sich mit dem „ehernen Gesetz der Oligarchie“, das Robert Michels (1876–1936) 1909 in seinem Werk „Zur Soziologie des Parteienwesens in der modernen Demokratie“ 1911 formuliert hat, wonach auch erklärtermaßen basisdemokratische Parteien nicht umhinkönnen, oligarchisch zu werden, sobald sie sich als politische Parteien organisieren. 

Nach Schumpeter ist die Demokratie nicht eine ideale Herrschaftsform, sondern ein Mechanismus zur Auswahl der politischen Führung mittels Wahlen. Faktisch sind die modernen Demokratien oligarchisch strukturiert. Die politischen Entscheidungsprozesse liegen in der Hand der Parteispitzen, woraus sich die Schlussfolgerung ergibt, dass die „Qualität der Eliten“ – zum Guten und zum Schlechten – die jeweilige Beschaffenheit der Parteiendemokratie bestimmt.

Für Aristoteles führt die Demokratie zur „Ochlokratie“, der Herrschaft des Pöbels – nach Schumpeter ist die moderne Demokratie oligarchisch strukturiert und treibt ihrer eigenen Dynamik gemäß zum Sozialismus.

Vor Joseph Schumpeter hat Max Weber (1864–1920) in seinem Vortrag über „Politik als Beruf“ schon versucht, das Wesentliche an der modernen Demokratie herauszuarbeiten. In dieser Schrift (1919) entwickelt Weber eine Analyse des Politikers und somit der politischen Herrschaft. Er definiert Politik als eine eigenständige Sphäre mit spezifischen Anforderungen. Die moderne Politik ist professionalisiert und bedingt so eine eigene Art von Expertentum: den Politiker als Spezialisten der Politik. Diesen Politiker zeichnen nicht Sachkenntnis über bestimmte wirtschafts- und gesellschaftspolitische oder innen- und außenpolitische Bereiche aus, sondern er ist Fachmann (heute auch zunehmend Fachfrau) des Politischen.

Politik ist Streben nach Macht. Im politischen Geschäft wird die Machtverteilung in einem Gemeinwesen bestimmt. Bei diesem Kampf geht es darum, Herrschaft über den Staat als das „Monopol legitimer physischer Gewalt“ zu erlangen. In der Begrifflichkeit Max Webers ist der Staat das spezifische Mittel der „physischen Gewaltsamkeit“ einer politischen Gemeinschaft. Fällt die Gewalt als Kennzeichen des Staates fort, entsteht Anarchie. Diese ist der Gegensatz zum Staat, wobei das Unterscheidungskriterium die Gewaltsamkeit ist. Gewalt ist das Spezifische des Staates. Entsprechend ist der Staat diejenige menschliche Gemeinschaft, die innerhalb eines bestimmten Gebietes „das Monopol legitimer Gewaltsamkeit für sich (mit Erfolg) beansprucht“.

„Politik“ heißt: „Streben nach Machtanteil oder nach Beeinflussung der Machtverteilung, sei es zwischen Staaten, sei es innerhalb eines Staates zwischen den Menschengruppen, die er umschließt.“

Wer Politik treibt, erstrebt Macht. Jeder Politiker ist ein Machtpolitiker, auch der „demokratisch“ gewählte. Auch für die Demokratie gilt, dass der Politiker, indem er nach Macht strebt, den Staat als Herrschaftsmittel auf legale Weise in die Hände bekommt, um so auf Gewalt gestützte Macht über Menschen auszuüben. Politik ist der Kampf um Macht beziehungsweise um Machtanteile und somit im Wesentlichen das Streben nach „legitimer“ Gewaltsamkeit. Innerhalb des Gemeinwesens steht der Staat einzigartig da mit seinem „Recht“ auf Gewalt.

Der moderne Berufspolitiker verbindet seine Ideologie mit materiellen Interessen. Auch wer für die Politik lebt, lebt von ihr. Dem Karrierepolitiker dient die politische Partei als Steigbügel des eigenen sozialen und materiellen Aufstiegs. Die Degeneration der politischen Parteien in „Stellenjägerparteien“ führt zur parteipolitischen Kartellbildung, um die Wahlen so zu fabrizieren, dass sich die einzelnen Kartellparteien in der Herrschaft abwechseln, damit jede von ihnen ihre jeweilige Gefolgschaft auf Posten gut unterbringen kann. Deshalb liegt ein ständiges Wachstum des Staates im Interesse der politischen Parteien. Je umfassender der Staat ist, desto leichter wird es, die jeweilige Klientel mit Pfründen zu versorgen. Mit dem Wachstum des Staates entsteht aber eine neue Kraft im Spiel um die Macht: das Fachbeamtentum oder, modern, die Technokratie.

„Die Entwicklung der Politik zu einem ‚Betrieb‘, der eine Schulung im Kampf um die Macht und in dessen Methoden erforderte, so wie sie das moderne Parteiwesen entwickelte, bedingte nun die Scheidung der öffentlichen Funktionäre in zwei, allerdings keineswegs schroff, aber doch deutlich geschiedene Kategorien: Fachbeamte einerseits, ‚politische Beamte‘ anderseits.“

Max Weber deutet damit an, welche Rolle diese politischen Fachleute in Zukunft spielen würden. Inzwischen ist es deutlich geworden, dass die Technokratie zu einem eigenständigen Machtfaktor geworden ist und sich die Parteielite zusammen mit der Technokratie zunehmend von der demokratischen Basis entfernt hat. Hier liegt der Ansatzpunkt, um zu verstehen, weshalb der Staat beständig wächst und weshalb immer mehr Gesetze, Verordnungen und Richtlinien erlassen werden, in deren Folge die Belastung der Aktiven immer mehr steigt.

Die Europäische Union ist ein herausragendes Beispiel für diese technokratische Machtübernahme. Die Europäische Kommission hat zugleich legislative und exekutive Befugnisse. Ebenso agiert die Europäische Zentralbank unabhängig von demokratischen Institutionen. Im Gesamtkomplex der Europäischen Union dominieren technokratische Prinzipien die Entscheidungsfindung. Die Macht des „Europäischen Parlaments“ ist nahezu bedeutungslos. Die Vertreter der politischen Parteien kommen und gehen, so wie die jeweiligen nationalen Regierungen; was bleibt, ist die Technokratie. Diese moderne Technokratie ist nicht neutral im Sinne des traditionellen Beamtentums, sondern ihr geht es um Macht, und zwar genau so, wie es Max Weber für den Berufspolitiker gekennzeichnet hat: in einer Mischung aus „für“ die Politik und „von“ der Politik zu leben.

Was meinen also manche Politiker, wenn sie von „unserer Demokratie“ sprechen? Ist ihr parteipolitischer Machtanspruch gemeint, den sie zusammen mit der Technokratie mithilfe des gewaltsamen Staates durchsetzen?

Zusammenfassend ist festzustellen, dass die heutige Demokratie weder mit der Definition von Aristoteles noch mit jener von Rousseau übereinstimmt. Zutreffender ist die Charakterisierung der Demokratie von Schumpeter als Methode des politischen Wettbewerbs, die ihrer inneren Dynamik nach zum Sozialismus führt. Max Weber bestimmt mit dem Kriterium der Gewaltsamkeit den Staat und das Wesen der politischen Parteien als Streben nach Staatsmacht. Mit der Herausbildung des Berufspolitikers entfernen sich die politischen Parteien zunehmend von ihrer demokratischen Basis. Am Beispiel der Europäischen Union lässt sich aufzeigen, dass die Technokratie zu einem herrschenden Machtzentrum geworden ist, das totalitäre Züge trägt, da sie mittels der Gewaltmacht des Staates immer mehr Teile von Wirtschaft und Gesellschaft kontrolliert und den Einzelnen unter ihre Herrschaft zwingt.

Diese theoretischen Aspekte und die Beobachtungen der gegenwärtigen politischen Realität führen zu dem Ergebnis, dass in der Struktur der modernen Demokratie die Tendenz nicht zu einem proletarischen Sozialismus angelegt ist, wie es sich die marxistischen Kommunisten vorstellen, sondern zu einem elitären Sozialismus, wie er eher den Ökosozialisten vorschwebt, wobei in einem solchen Regime eine totalitäre Technokratie das Sagen hätte.

Aristoteles: „Politik“

Joseph A. Schumpeter: „Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie“

Robert Michels: „Zur Soziologie des Parteiwesens in der modernen Demokratie“

Max Weber: „Politik als Beruf“

Antony P. Mueller: „Technokratischer Totalitarismus“


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