Krieg und Frieden – Teil 8: Antikapitalismus als Kriegsrisiko
Etatismus, nicht Kapitalismus ist Ursache von Krieg
von Stefan Blankertz

Dass zwischen Kapitalismus und Krieg ein enger Zusammenhang bestehe, ist ein eingespieltes Narrativ. Wer es bejahend erwähnt, braucht den Zusammenhang nicht mehr zu erklären. Wer es infrage stellt, ruft ungläubiges Raunen hervor.
Selbstverständlich kann sogar der schärfste Antikapitalist Kapitalismus nicht als alleinige Ursache von Krieg angeben, da es bereits vor dem Kapitalismus Kriege gab, wie die imperialen Kriege der Antike und die feudalen Kriege des Mittelalters. Auch haben zeitgenössische nichtkapitalistische Länder Kriege geführt. Das erste politische Ereignis, das ich bewusst mitgekriegt habe, war der Einmarsch der Warschauer-Pakt-Staaten unter Führung der UdSSR in die Tschechoslowakei 1968. Davor gab es die Niederschlagung des Aufstandes in Ungarn durch die UdSSR 1956, in der DDR 1953 sowie den Angriff des mit der Volksrepublik China verbündeten Nordkorea auf Südkorea 1950, der den verheerenden Koreakrieg auslöste; ebenfalls 1950 annektierte die VR China das unabhängige Tibet. Später, 1980, überfiel die UdSSR Afghanistan; ein Vorgang, den ich in Teil 12 dieser Serie behandeln werde. Eine argumentative Strategie derjenigen, die für die Gegenwart den Kapitalismus als alleinige Ursache von Krieg deklarieren wollen, besteht darin, die UdSSR (und die VR China) als eigentlich doch auch kapitalistische Staaten zu bezeichnen. Damit allerdings wird der Kapitalismus-Begriff so ausgedehnt, dass er nicht mehr viel aussagt.
In dem Beitrag letzte Woche (Teil 7) habe ich gezeigt, dass die Handels- und Tauschbeziehung sich inhärent auf Frieden richtet, da sie für beide Seiten Vorteile hat und jede Seite auf das Wohlwollen und das Wohlergehen des anderen angewiesen ist. Sofern Kapitalismus das Wirtschaftssystem darstellt, das sich aus der verallgemeinerten Handels- und Tauschbeziehung ergibt, ist er dem Krieg entgegengesetzt. Daraus wäre die Formel abzuleiten, dass eine Nation umso weniger kriegerisch ist, je stärker sie die internationalen Handels- und Tauschbeziehungen achtet und ausbaut.
Ein Narrativ, das so erfolgreich ist wie das des engen Zusammenhangs zwischen Kapitalismus und Krieg, muss allerdings eine Halbwahrheit enthalten; es kann nicht völlig falsch sein. Diese Halbwahrheit knüpft sich daran, dass der reale Kapitalismus so wenig seinem Idealtypus entspricht wie der reale Sozialismus der UdSSR und der VR China der sozialistischen Utopie. Die führende kapitalistische Nation des 18. und 19. Jahrhunderts, Großbritannien, war neben Spanien, Portugal, Frankreich, Belgien und den Niederlanden die treibende Kraft hinter dem europäischen Kolonialismus, und zwar erfolgreicher im Aufbau eines Kolonialreiches als die anderen Mitspieler. Das Ziel des Kolonialismus waren – angeblich – die Eroberung neuer Märkte, die Sicherung oder der Raub von – billigen – Rohstoffen sowie vor allem die Konstitution der weltweiten eigenen Hegemonie.
Die Rede von der Eroberung neuer Märkte ist nicht nur eine faule Metapher, sondern darüber hinaus vielmehr ein Widerspruch in sich. Neue Märkte werden nicht erobert im kriegerischen Sinne, sondern auf dem friedlichen Wege gegenseitiger Vorteile erschlossen. Die Unterdrückung der Bevölkerung in den Kolonien war einerseits ein schreiendes Unrecht, andererseits stand es auch der Etablierung gegenseitig vorteilhafter Handels- und Tauschbeziehungen entgegen. Eine entrechtete und verarmte Bevölkerung ist kein Handels- und Tauschpartner.
Der Raub von Rohstoffen oder ihr privilegierter Abbau widerspricht ebenfalls dem Prinzip der Handels- und Tauschbeziehung. Allerdings könnte er für den Staat, der der Akteur ist, tatsächlich vorteilhaft sein, obwohl er dem Prinzip des Kapitalismus widerspricht. Doch die Realität sah anders aus. Konsequent liberale Ökonomen, etwa William Graham Sumner (1840–1919), Gründer der ersten Anti-Imperialistischen Liga, sowie der Anarchist Pierre-Joseph Proudhon (1809–1865) wiesen darauf hin, dass die Bilanz des Kolonialismus für das Gros der Bevölkerung negativ ausfalle. Mit dieser Analyse richteten sie freilich kaum etwas aus, denn das Ziel eines Staats richtet sich allenfalls mittelbar auf das Wohlergehen der eigenen Bevölkerung. Das primäre Ziel stellen die Erhaltung und der Ausbau der eigenen Macht dar.
Auch die führende kapitalistische Nation des 20. Jahrhunderts, die USA, hat sich in fortwährende Kriege verwickelt, die begrifflich unglücklich imperialistisch genannt werden: Sie richten sich nicht auf die Kolonialisierung, vielmehr darauf, andere Staaten den eigenen Interessen zu unterwerfen und abhängig zu machen. Diese Strategie als imperialistisch zu bezeichnen, ist begrifflich unglücklich, weil es gerade nicht um den Aufbau eines zentralen Imperiums ging wie beim römischen Imperium oder beim British Empire, sondern um ein Geflecht von Abhängigkeiten. Ich schreibe „ging“, denn inzwischen gibt es ja durchaus Bestrebungen, die auf die Errichtung eines Weltstaats zielen, von wem auch immer dominiert; es gibt da verschiedene, konkurrierende Anwärter – und diese Konkurrenz ist es, die dafür sorgt, dass wir vorerst von der Etablierung des Weltstaats verschont bleiben.
Der Imperialismus der USA wird zum Teil bis heute ganz unverblümt mit der Sicherung von Rohstoffen gerechtfertigt, so aktuell durch Donald Trump. Oft aber bemühte man die Behauptung, es ginge um die Verteidigung der freien Welt oder um die Befreiung eines unterdrückten Volks. Zu diesem Zweck stürzten amerikanische Geheimdienste und Militärs demokratische Regierungen und installierten Diktatoren oder sie schützten Diktatoren vor der Wut der eigenen Bevölkerung, während lauthals verkündet wurde, man würde die Demokratie fördern. Das Paradebeispiel ist der Vietnamkrieg, den ich in der nächsten Woche behandle.
Der Kolonialismus Englands und der Imperialismus der USA widersprechen dem Prinzip des Kapitalismus. Doch haben fast alle liberalen Politiker und viel zu viele liberalen Ökonomen die ungenießbare, aber reale Mixtur aus kriegerischem Etatismus und friedlichem Kapitalismus abgesegnet oder wenigstens zähneknirschend als alternativlos akzeptiert. Sofern man diese Mixtur als Kapitalismus bezeichnet, gab und gibt es immer noch einen Zusammenhang zwischen Kapitalismus und Krieg.
Da es aber in diesem Zusammenhang nicht das kapitalistische Prinzip der Handels- und Tauschbeziehung ist, das die treibende Kraft hinter der Kriegsführung darstellt, sondern das etatistische Prinzip von Machtausweitung und Herrschaftssicherung, liegt hier eine begriffliche Verwirrung vor. Ich will mit niemandem rechten, der klar sagt, dass er, wenn er von einem Zusammenhang zwischen Kapitalismus und Krieg spricht, den Mix aus Kapitalismus und Etatismus meint. Doch in den meisten Fällen stellt sich heraus, dass die Rede davon, der Kapitalismus treibe zum Krieg, genau andersherum eingesetzt wird: Die Rede dient dazu, die friedliche Handels- und Tauschbeziehung als inhärent kriegerisch zu stigmatisieren und ihr gegenüber das kriegerische Prinzip des Etatismus als friedlich zu preisen. Die Antikapitalisten prangern rhetorisch die mit dem Staat eng verbundenen Konzerne als die Bösewichte an, aber in der konkreten Politik legen sie dem Bäcker um die Ecke das Handwerk und preisen sich dann als Friedenshelden an.
Nun wissen auch Antikapitalisten in der Regel, dass eine nationale Abkapselung die Kriegsgefahr erhöht statt senkt. An die Stelle von Handels- und Tauschbeziehungen zum gegenseitigen Vorteil setzen sie auf internationale Solidarität. Wenn wir die Entwicklung Westdeutschlands, die in einer Handels- und Tauschbeziehung mit den USA stattfand, mit derjenigen der DDR vergleichen, die mit der UdSSR nach Maßgabe der internationalen Solidarität wirtschaftete, lässt sich schnell feststellen, dass Solidarität nur die ideologische Verklärung eines einseitigen Vorteils bedeutet: Hier wird die eine (schwächere) durch die andere (stärkere) Seite ausgebeutet. Die angebliche Solidarität konstituiert das Verhältnis einer Kolonialmacht zur Kolonie. Dies unterstreicht, wie richtig und wichtig die begriffliche Zuordnung von Kolonialismus und Imperialismus zum etatistischen statt zum kapitalistischen Prinzip ist. Von Kapitalismus statt von Etatismus als Antrieb des Kriegs zu sprechen, führt zur falschen Analyse und über die falsche Analyse zu einer falschen Politik der vermeintlichen Antimilitaristen und Friedensfreunde.
Wenn wir bis hierher zwar noch keinen Weg gefunden haben, wie der Krieg aus der Welt zu schaffen sei und wie auf kriegerische Aggression und Unterdrückung anders als mit Krieg reagiert werden könne, so sind wir doch schon auf einen Weg gestoßen, der Kriege weniger wahrscheinlich macht, auf einen Weg, der das friedliche Miteinander gegenüber dem kriegerischen Gegeneinander attraktiver aussehen lässt. Dieser Weg heißt Stärkung des Kapitalismus, der Handels- und Tauschbeziehungen und Reduzierung des Etatismus.
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