Tag der „Befreiung“: Wehe den Besiegten!
Das verschwiegene Leid
von Andreas Tögel
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Laut den Aufzeichnungen des römischen Geschichtsschreibers Leviticus prägte der gallische Heerführer Brennus im Zuge der Plünderung Roms nach seiner siegreich geschlagenen Schlacht an der Allia am 18. Juli 387 vor Christus den in die Geschichte eingegangenen Spruch „Vae victis!“. Es handelt sich um die auf den Punkt gebrachte Tatsache, dass ein Kriegsverlierer der Willkür des Siegers ausgeliefert ist. „The loser has to fall“, wie es die Popgruppe Abba in „The Winner takes it all“ besingt.
Michel de Montaigne wiederum verdanken wir folgende Einsicht: „Die Geschichtsschreibung ist der zweite Triumph der Sieger über die Besiegten.“ Mit anderen Worten: „Der Sieger schreibt die Geschichte“, eine Feststellung, die zumindest drei Urhebern zugeschrieben wird: Napoleon Bonaparte, Herman Göring und Winston Churchill.
Die totale Niederlage des Besiegten tritt allerdings erst dann ein, wenn dieser das Narrativ des Siegers übernimmt und – wie das die Deutschen und Österreicher tun – einen regelrechten Schuldkult pflegen und sich in unentwegten Selbstbezichtigungen ergehen. Ein Blick ins Programmheft der „Informationssender“ des deutschen öffentlich-rechtlichen Rundfunkts spricht Bände: Unausgesetzt werden Nazischauergeschichten mit einer Besessenheit zelebriert, über die man sich – 80 Jahre danach – nur wundern kann. Henryk M. Broder stellte sinngemäß fest, dass die antifaschistischen Veitstänze umso hysterischer ausfallen, je länger Hitler und seine Spießgesellen tot sind. Nach penibel recherchierten Reportagen über „Hitlers Helfer“, „Nazi-Frauen“ und „Verbrechen der Wehrmacht“ fehlen gerade noch Beiträge über Hitlers Poolpfleger und Eva Brauns Osteopathen.
Am zurückliegenden 8. Mai, also am 80. Jahrestag der bedingungslosen Kapitulation der deutschen Wehrmacht, fanden in Deutschland und Österreich wieder groß angelegte Feierlichkeiten statt, die diesen Tag zum „Tag der Befreiung“ verklärten. Zweifellos wurden die Insassen der NS-Konzentrationslager und überhaupt alle politisch, rassisch und wegen der „falschen“ sexuellen Orientierung Verfolgten durch die siegreichen Alliierten befreit. Viele von ihnen verdankten deren Sieg über die deutsche Kriegsmaschine ihr Leben.
Aber wie verhielt es mit den „ganz gewöhnlichen Deutschen“, wie Daniel Jonah Goldhagen sie in seinem Buch „Hitlers willige Vollstrecker“ apostrophiert? Konnten auch sie sich befreit fühlen – und, wenn ja, wovon?
Ein Blick in die einschlägigen Chroniken ist allemal hilfreich: Die Alliierten kamen nach ihrem Selbstverständnis natürlich nicht als Befreier, sondern als Sieger nach Deutschland. In der sich in der Folge als antifaschistischer Musterstaat gerierenden „DDR“ wurde der 8. Mai allerdings stets als Tag der Befreiung“ gefeiert, da man sich schließlich als Kreatur der Sowjetunion verstand. In der Bundesrepublik war erst mit der berühmten Rede von Richard von Weizsäcker anno 1985 offiziell von „Befreiung“ die Rede. Davor hieß es „Zusammenbruch“ oder „Stunde null“. In Österreich wurde die Moskauer Deklaration vom 30. Oktober 1943, in der das Land von den Alliierten zum ersten Opfer der nationalsozialistischen Aggression erklärt wurde, lange Zeit als Carte blanche verstanden, um sich aus der Verantwortung für die Verstrickung in NS-Verbrechen zu stehlen.
Deutschen und Österreichern, die in den Jahren 1945/46 vertrieben, ausgeplündert, misshandelt und vergewaltigt wurden, zu erklären, „befreit“ worden zu sein, ist an Zynismus kaum zu übertreffen. Wir reden von immerhin bis zu 14 Millionen Vertreibungsopfern, die faktisch ihre gesamte Habe verloren, davon drei Millionen allein in der Tschechoslowakei. Viele dieser Menschen haben die Vertreibung nicht überlebt.
Die Konstanzer Historikerin Miriam Gebhardt hat in ihrem Buch „Als die Soldaten kamen. Die Vergewaltigung deutscher Frauen am Ende des Zweiten Weltkriegs“ umfangreiche Untersuchungen zum Thema angestellt und erschreckende Erkenntnisse zutage gefördert. So fielen allein in Berlin rund 100.000 Frauen Vergewaltigungen durch Rotarmisten zum Opfer. Die spätere Ehefrau von Kanzler Kohl, Hannelore Renner, teilte als 13-Jährige (!) das Schicksal einer Massenvergewaltigung, die sie schwer verletzt und lebenslänglich traumatisiert überlebte.
Doch nicht nur Sowjets („… komm Frau!“) vergingen sich an deutschen Frauen, sondern – was weit weniger bekannt ist – auch die Sieger im Westen: Amerikaner, Briten und Franzosen. Miriam Gebhard zählt rund 190.000 Vergewaltigungsfälle allein durch US-GIs.
Misshandlungen, Plünderungen, willkürliche Verschleppungen, Uhren- und Fahrraddiebstähle durch die Sieger standen 1945/46 auf der Tagesordnung.
Hier geht es nicht um einen Versuch zur Relativierung der Kriegsschuld (die ohnehin außer Frage steht) oder um eine Gegenüberstellung und Aufrechnung von Opferzahlen. Schuld und Leid sind nämlich stets individuell, niemals kollektiv zurechenbar. Bodycounts verbieten sich allein schon deshalb. Daher ist es Ausdruck einer haarsträubenden Geschichtsvergessenheit, wenn man den bedauernswerten Opfern gewalttätiger Übergriffe, von Mord und Totschlag an ihren Lieben, von Vergewaltigung und Raub zumutet, den Startschuss zu diesen Untaten als „Tag der Befreiung“ zu begreifen. Um nicht mehr und nicht weniger als das festzuhalten, geht es in diesem Beitrag.
Mit dem Sieg der Alliierten im Mai 1945 wurde ein bösartiges Unrechtsregime beseitigt, das vielen Menschen Freiheit, Eigentum oder gar das Leben nahm. Für sie oder ihre Hinterbliebenen war und ist der 8. Mai zweifellos der Tag der Befreiung. Für viele Millionen „ganz gewöhnlicher Deutsche“ war er das ganz sicher nicht!
Viel ist dieser Tage von künstlicher Intelligenz die Rede. Es ist bezeichnend für den Informationswert dieser Werkzeuge – konkret geht es um den Microsoft-Copilot –, wenn zwar bereitwillig Auskunft über den Missbrauch russischer Frauen durch die deutsche Soldateska zwischen 1941 und 1944 gegeben wird, auf die Frage nach der Vergewaltigung deutscher Frauen durch alliierte Soldaten die Antwort aber lautet: „Ich kann leider nicht über dieses Thema sprechen. Tut mir leid.“ Deutsche taugen in diesem Kontext offenbar nur als Täter, nicht aber als Opfer. Wehe den Besiegten!
Miriam Gebhardt: „Als die Soldaten kamen: Die Vergewaltigung deutscher Frauen am Ende des Zweiten Weltkriegs“
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