25. Juli 2025 06:00

Krieg und Frieden – Teil 23 Ernst Jünger: Der letzte Krieger

Ein Soldat widerruft

von Stefan Blankertz drucken

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Bildquelle: Picryl „Lange schon bin ich im Krieg, schon manchen sah ich fallen, der wert war zu leben: Was soll dies Morden und immer wieder morden?“ (Ernst Jünger)

Alle sind gegen den Krieg? Es gibt einen, der nicht gegen den Krieg war, sondern den Kampf als ein inneres Erlebnis pries: Ernst Jünger (1895–1998).

Kampf als inneres Erlebnis, Psychologisierung und Ästhetisierung des Kriegs, das war (ist) nur bedingt im Sinne von Bellizisten, Militaristen und Nationalisten. Ihnen geht es nicht um Abenteuer, sondern um Loyalität zur Sache: Auf der eigenen Seite zu kämpfen, ist heldenhaft und altruistisch opferbereit, auf der Gegenseite zu kämpfen, ist egoistisch und hinterhältig. Obwohl Ernst Jünger der Ruf voraneilt, die deutschnationale konservative Revolution intellektuell unterstützt zu haben, passt er so gar nicht ins Bild. Dies ist keine späte Einsicht, sondern zeichnet sich bereits von Anfang an ab.

Als junger Mann meldete sich Jünger freiwillig zum Militärdienst, nicht um seinem Vaterland dienen zu können, sondern um der Langeweile der Schule und der Enge des Elternhauses zu entfliehen und Abenteuer zu erleben. Schon davor war er der Französischen Fremdenlegion beigetreten, um nach Afrika zu kommen; dies gelang zunächst, dann aber erwirkte sein Vater, dass er aufgrund seiner Minderjährigkeit von seinem Sklavenvertrag mit der Fremdenlegion entbunden und wieder nach Hause geschickt wurde. Dienen bei dem Erbfeind Deutschlands! An der Front ordnet Jünger sich der militärischen Hierarchie unter, freilich nur insoweit, als er Bock dazu hat (man entschuldige mir diesen neudeutschen Ausdruck hier); sobald ihm der Sinn nach etwas anderem steht, macht er, was er will, und nimmt die dafür fälligen Strafen stoisch hin. Kameraden, die den Feind hassen, versteht er nicht. In seinem Tagebuch verzeichnet er eine Episode, in der er, zum Kommandeur aufgestiegen, während fortgesetzter Kampfhandlungen mit dem englischen Gegenüber einen anregenden literarischen Plausch hält. In Kampfpausen widmet Jünger sich schöngeistiger Literatur, so etwa Gedichten von Annette von Droste-Hülshoff, und legt den Grundstein zu seiner legendären Insekten-Sammlung. Er hat nicht nur keine Angst vor Strafen, sondern auch nicht vor dem Tod. Siebenmal wird er zum Teil schwer verwundet, siebenmal kehrt er an die Front zurück.

In der Novelle „Sturm“, 1923 als Fortsetzung im „Hannoverschen Kurier“ erschienen, schreibt Jünger: „Das Vaterland? Gewiss, auch Sturm hatte sich dem Rausche von 1914 nicht entziehen können, doch erst nachdem sein Geist von der Idee des Vaterlands abstrahiert, ahnte er die treibende Kraft in ihrer vollen Wucht. Nun erschienen die Menschen der Völker ihm längst wie Verliebte, von denen jeder auf eine einzige schwört und die nicht wissen, dass sie alle von einer Liebe besessen sind.“

Bis auf ihren dramatischen Schluss enthält die Novelle kaum Handlung und spiegelt damit den bewegungsarmen Stellungskrieg. Der Erzähler nimmt die Perspektive Sturms ein, jedoch entfernt er sich auch von ihr, um Betrachtungen allgemeiner Art einzuflechten. Grob skizzierte Lebenslinien wechseln sich ab mit detaillierten Beobachtungen kleinster Gesten. Zwei seiner Offizierskameraden und Sturm vertreiben sich ihre Langeweile, indem sie literarisch-philosophische Gespräche führen. Auch liest Sturm ihnen aus drei selbst verfassten Charakterstudien vor. In der dritten und längsten Charakterstudie erzählt Falk, der Protagonist, einer in einem Lokal aufgegabelten „Studentin“, vermutlich eine Prostituierte, über sein vom Krieg traumatisiertes Leben. Diese dreifach gestaffelte Distanzierung macht deutlich, wie sehr der Erzähler sich gegen die Erfahrung abdichten muss: Sie stellt weder ein harmloses noch ein elektrisierendes inneres „Erlebnis“ dar. Mitten im Vortrag der dritten Charakterstudie beginnt der Sturmangriff der anderen Seite. Hastig reißt Sturm seine beschriebenen Blätter aus dem Notizbuch, um sie einzustecken und zu retten. Er schafft es nach draußen, die Geschosse aus Maschinengewehren pfeifen ihm um die Ohren, Handgranaten krachen, die Feinde haben den Schützengraben bereits eingenommen; in einem Erdloch sucht Sturm Deckung und er wird dazu aufgefordert, sich in Kriegsgefangenschaft zu begeben. Stattdessen zückt er seine Pistole und stirbt im Erdloch einsam und ohne die Chance zum Konter. Ein elendes, kein heroisches Ende. Sturm dementiert seinen Namen.

Bei „Sturm“ finden wir das, was Ernst Jünger unterstellt wird, nicht. Von Vaterlandverteidigung ist nirgends die Rede. Die Deutschen sind nicht die Helden und die Gegner (in diesem Fall: Engländer) sind nicht die Schurken. Das Zusammenleben der Männer an der Front werde, so der Erzähler, „in der Vorstellung des Hinterlandes mit wenigen Worten wie ,Kameradschaft‘ und ,Waffenbrüderschaft‘ abgetan“. Das heilige Wort der Frontsoldaten ist nicht mehr als eine Floskel, denn die Männer der Front „bildeten eine große Familie, in der es nicht besser und nicht schlechter zuging als in jeder anderen Familie auch“. „Doch wenn der Tod als Wetterwolke über den Gräben hing, dann war jeder für sich … und hatte nichts in der Brust als grenzenlose Einsamkeit.“

Die Kameradschaft tröstet nicht, die Familie bietet keine Geborgenheit, die Verteidigung der Nation verleiht keinen Sinn, der Kampf liefert kein fruchtbringendes „inneres Erlebnis“. Es regiert „grenzenlose Einsamkeit“. Und nicht bloß Einsamkeit. Einer der Kameraden wird des Morgens tot aufgefunden: Hiermit beginnt die Novelle. Er hat sich erschossen und da „empfand jeder besonders peinlich den Hauch von Sinnlosigkeit, der sich über einer Leiche wölbt“. Es ist eine der Szenen, in denen der Erzähler sich vom Protagonisten entfernt und meint: „Zu sehr war Sturm Kind seiner Zeit, um in solchem Falle Mitleid zu empfinden.“ Mit dem Satz formuliert er eine Erklärung, vielleicht eine Entschuldigung, jedoch keine Rechtfertigung für Mitleidlosigkeit. Dass man sich gefühlsfrei macht, ist eine Kriegsfolge: Es gehört zum Charakterpanzer. In seinem Notizbuch vermerkt Sturm, der „Organismus des Staates“ beschränke „die Funktionen des Einzelnen immer rücksichtsloser auf die einer spezialisierten Zelle“. Immer rücksichtsloser …

So sieht erneut ein heiliges Wort des Nationalsozialismus sich negativ konnotiert – der Staat. Mehr noch: Das Konzept des „Organismus“ als Vorbild des Staats (im Gegensatz zu dessen seelenloser moderner Organisation) steht dabei im Fokus der Kritik, verstärkt mit dem Gebrauch des Wortes „Zelle“ für die Funktionen des Einzelnen, der, entgegen der damaligen Rechtschreibung, großgeschrieben ist. Diese Bemerkung würde man eher in das Spätwerk Jüngers datieren, nach seiner Lektüre von Max Stirners „Der Einzige und sein Eigentum“ (erstmals 1845 erschienen) und der Erfindung des „Anarchen“ 1977, der laut Jünger kein politischer Anarchist ist: Er verschleiße sich nicht im Kampf gegen die Staatsgewalt; vielmehr bleibe er schlicht ungebeugt.

Wehrdienst ist Sklavenhalterei. Der Staat ist ein Götze. Eigentötung ist für jeden Einzelnen die Ultima Ratio seines Protests. „Trunk“ (Rausch) ist eine mildere Form als Suizid, um „sich selbst“ – um der Sinnlosigkeit, um dem Trauma des Kriegs, um dem Götzenstaat – „zu entfliehen“.

Indessen findet sich in der Novelle „Sturm“ tatsächlich ein Topos der konservativen Kulturkritik. „Seit der Erfindung der Moral und des Schießpulvers hat der Satz von der Auswahl der Tüchtigsten für den Einzelnen immer mehr an Bedeutung verloren“, notiert Sturm. Dass hier die Moral im Gleichklang mit dem Schießpulver der Demoralisierung zugeschlagen wird, ist freilich kaum als konservativ zu lesen. Jedenfalls ist das konservative Utopia in zeitlich weite Ferne gerückt. Es handelt sich nicht darum, eine gute Bürgerlichkeit zu bewahren oder den Geist des preußischen Soldatentums zu beschwören. „Seit dem Auftauchen der Maschine war alles von sausenden Schwungrädern zur Fläche geschliffen“, diktiert Sturm seinem Protagonisten Falk in die Feder. „Wie man die letzten großen und bunten Tiere zur Strecke brachte oder vergittert zur Schau stellte, so machte man allem den Garaus, was noch aus heißem Blute geboren wurde.“

Hier mag uns Friedrich Nietzsches „blonde Bestie“ vor Augen erscheinen, der nostalgisch verklärte Kampf Mann gegen Bestie oder Mann gegen Mann, oder auch Emmanuel Levinas’ Sturm auf eine abendländische Kultur, die den anderen vernichtet, zur Bestie erklärt sowie sich gleichmachen und, sollte dies nicht gelingen, eliminieren wolle. Woran auch immer wir bei dem Aphorismus denken, der real existierende Krieg damals und heute fällt nicht darunter. Er ist ausgeschlossen, denkunmöglich als sinnvolle menschliche Tätigkeit. Der kampflustige Pionier – auch er kein Patriot, sondern ein Draufgänger –, dem Sturm vom „Rausch des Lebens“ spricht, ist ein Simpel. „Über das Ding an sich habe ich mir bislang kein Kopfzerbrechen gemacht“, gesteht er Sturm. Sturm entgegnet hierauf mit ätzender Ironie: „Dazu kann man Ihnen nur gratulieren.“

Mit seiner Novelle dementiert Jünger die heroische Haltung. Tronck, Kiel und Falk – die Protagonisten der drei von Sturm verfassten Charakterstudien – sind wie Sturm (bildungs-) bürgerliche Gestalten, denen, gleich dem jugendlichen Ernst Jünger, das Leben als Bürger langweilig und öde vorkommt. Allerdings finden sie im Kampf genau nicht die gesuchte und erhoffte Sinnstiftung. Sie stumpfen nur noch weiter ab. Manche bringen sich selbst um, manche ersäufen den Frust im Suff und wiederum andere finden einen sinnlosen Tod.


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