Homo emotionalis: Die notwendige Angst
Fürchten sich gerade die Deutschen vor „zu viel“ Freiheit?
von Klaus Peter Krause drucken

Menschen sind im wesentlichen Gefühlswesen. Sie handeln zwar auch nach Vernunft und Wissen, unterliegen dabei jedoch auch immer ihren Emotionen, ihren Gefühlen. Damit haben Gefühle ihre Auswirkungen, und zwar in allen Lebensbereichen, also auch auf die Politik und auf die Wirtschaft. Doch pflegte die Wissenschaft von der Wirtschaft, die Ökonomie, in ihren theoretischen Betrachtungen über das wirtschaftliche Verhalten der Menschen, die sie kühl „Wirtschaftssubjekte“ nannte beziehungsweise nach wie vor nennt, von Gefühlen bisher zu abstrahieren, weil diese schwer fassbar, schwer mathematisierbar sind und daher schöne eindeutige Ergebnisse verderben. Daher erfand sie ihren Wunsch- und Modellmenschen, den Homo oeconomicus. Gefühle hat er nicht, nur das Streben nach Maximierung von Gewinn und von wirtschaftlichem Nutzen.
Der Wirtschaftswissenschaftler Guy Kirsch nennt ihn „ein Wesen ohne Leidenschaften“. Er kenne keine Gefühle wie Mitleid oder Missgunst, Wohlwollen oder Feindschaft, Neid oder Mitfreude, Hass oder Liebe, ebenso nicht Fairness oder Destruktivität. Und Urvertrauen fehlt ihm natürlich ebenfalls. Die Gefühle sind ihm sozusagen abdefiniert. Zu diesen abdefinierten Gefühlen gehört auch die Angst. Die menschliche Angst als Gefühl spielte in der Ökonomie bisher keine Rolle. Sie ist Gegenstand der Philosophie.
Die Angst als dominierendes Lebensgefühl
Doch ist die Wirtschaftswissenschaft dabei, wie Kirsch vor zwanzig Jahren konstatierte, ihr Menschenbild anzureichern und die menschlichen Leidenschaften wiederzuentdecken. Dabei zeige sich auch immer deutlicher, dass es wenig verständig sei, Angst- und Furchtgefühl zu übergehen; zu deutlich prägten sie das Lebensgefühl vieler Menschen. Auch eine liberale Gesellschaft lasse sich in weiten Teilen besser verstehen, wenn man berücksichtige, dass es in ihr Menschen gebe „die selbst Angst haben, die anderen Angst machen, die als Angstverstärker beziehungsweise Angstverbreiter ihre Geschäfte machen“. Die Angst als ein starkes, gar als dominierendes Lebensgefühl sei so selten nicht. Dazu trügen auch die sogenannte Globalisierung mit ihren Gefährdungen, die Informationsfülle, die Komplexität der Lebenswelt und ihre Undurchschaubarkeit für den Einzelnen bei.
Betrachtungen über das Phänomen der Angst
Kirsch, geboren 1938 in Luxemburg, ist Nationalökonom und war ordentlicher Professor für Neue Politische Ökonomie an der Universität Fribourg in der Schweiz. Er hat ein Buch über die Angst herausgegeben. Es ist schon 2005 erschienen. Ich habe es schon damals mit Gewinn gelesen und dieser Tage nochmals zur Hand genommen. Dessen Titel: „Angst vor Gefahren oder Gefahren durch Angst? Zur politischen Ökonomie eines verdrängten Gefühls“(ISBN 9783038231523, 220 Seiten, 33 Euro). Zwölf Autoren, auch Kirsch selbst, schreiben darin unter verschiedenen Aspekten in philosophischen Betrachtungen über das Phänomen der Angst. Fragen, um die es dabei geht, lauten: Welche gesellschaftlichen und ökonomischen Entwicklungen, Erscheinungen, Ereignisse können Angst auslösen? Wie stark beeinflusst die Angst Politik und Wirtschaft? Wie geht man mit Angst möglichst konstruktiv um?
Dahinter steht die Überzeugung, „dass man die außerordentlich komplexen wirtschaftlichen Zusammenhänge freier Gesellschaften nicht verstehen kann, wenn man die ‚irrationale‘ Seite des Menschen, seine Gefühle, seine Zuneigungen und Ängste außer Acht lässt“.
Angst und ihre Ausprägungen
Die Beiträge sind teils neue Texte, teils Nachdrucke alter, wie der von Kierkegard über den Begriff Angst oder der des italienischen Politikwissenschaftlers Guglielmo Ferrero mit dem Titel „Die Angst der Regierenden vor den Regierten und die Angst der Regierten vor den Regierenden“. Andere Autoren schreiben zum Beispiel über Grundformen der Angst (Fritz Riemann), Angst und Misstrauen (Kurt Annen), Angst und Furcht im System der sozialen Sicherung (Klaus Mackscheidt), Angst im Management (Walter B. Kielholz), Angst und Börse (Konrad Hummler), Angst und Konjunktur (Friedrich L. Sell).
Angstfähig zu sein, ist existenznotwendig
Im Einklang mit den Beiträgen zweier anderer Autoren (Sören Kierkegard und Fritz Riemann) hält Kirsch Angst für notwendig. Zitat: „Wer nämlich keine Angst hat, dem fehlt die Sensibilität für mögliche Gefahren.“ Es sei geradezu existenznotwendig, angstfähig zu sein. Wie der Schmerz für den Körper ist die Angst ein Warnzeichen: ein Warnzeichen für eine Gefahr. Der Publizist Peter Scholl-Latour hat das einmal so ausgedrückt: „Angst ist die Voraussetzung fürs Überleben.“ Kirsch formuliert im gleichen Sinn: „Wer völlig ohne Angst wäre, befände sich in der Tat in höchster Gefahr.“
Von diffuser Angst und konkreter Furcht
Wenn man Angst, um sie von Furcht zu unterscheiden, als ein diffuses Gefühl einer Bedrohung definiert, die man noch nicht genau kennt, und Furcht als konkret identifizierte oder wenigstens identifizierbare Bedrohung und damit als konkrete Gefahr, dann gilt: Wer Angst hat, weiß nicht (oder noch nicht), wovor er sich fürchten soll, und wer sich vor etwas fürchtet, hat keine Angst (oder hat keine Angst mehr). Kirsch: „Die Furcht ist seit alters die uns intuitiv verliehene Gabe, undifferenzierte Gefühle der Angst in überschaubare und überstehbare Handlungsakte umzuwandeln: Wir identifizieren die Bedrohung und wappnen uns entsprechend.“
Mithilfe dieser definitorischen Unterscheidung, wie sie im Buch geschieht und wie sie mehrheitlich, wie Kirsch meint, wohl anerkannt ist, kommt es für ihn darauf an, diffuse Angst in eine konkrete Furcht zu transformieren. Angst ist zwar wichtig, aber es darf bei ihr möglichst nicht bleiben. Erst dann wird ein konstruktives Verhalten möglich, um der Gefahr zu begegnen oder vor ihr die Flucht zu ergreifen. Es sei also anzustreben, „vom diffusen Gefühl der Bedrohung zur Wahrnehmung von konkreten Gefahren zu gelangen“.
Zweifel an der definitorischen Unterscheidung zwischen Angst und Furcht
Dieses Streben nach Konkretisierung dürfte aber wohl auch dann nicht ohne Sinn sein, wenn man dieser Unterscheidung zwischen Angst und Furcht nicht folgen mag, sondern das eine wie das andere Wort nur als unterschiedliche Bezeichnung für das gleiche Bedrohungsgefühl nimmt, nämlich in dem Sinn: Wer sich ängstigt, fürchtet sich auch – und umgekehrt: Wer sich fürchtet, ängstigt sich auch. So leuchtet einem anderen Autor des Buches (Fritz Riemann) diese definitorische Unterscheidung zwischen Angst und Furcht auch keineswegs ein. Sie sei nicht zwingend und überzeugend genug und auch nicht immer stichhaltig.
Die Neigung, sich von diffuser Angst in konkrete Furcht zu retten
Aber die Unterscheidung ist ganz praktisch. So erläutert Kirsch mit ihr, wie die menschliche Neigung, sich von der diffusen Angst wenigstens in die konkrete Furcht zu retten, gleichsam in eine Nachfrage nach Furchtobjekten mündet, die dann auch prompt mit entsprechenden Angeboten bedient wird. Kirsch nennt Beispiele. Eines davon: Ein Wissenschaftler, der zeigt, daß die Rinderkrankheit BSE auf den Menschen wohl übertragbar ist, bietet als Furchtobjekt das Rindergehirn an, in dem die Krankheit ihre zerstörerische Kraft entfaltet und das folglich zu essen vermieden werden sollte.
Ein „Markt für Furchtobjekte“
Damit bekommen Angst und Furcht eine ökonomische Dimension. Kirsch erklärt, warum ein solcher „Markt für Furchtobjekte“ und eine liberale Ordnung mit Institutionen, mittels derer Angst in Furcht umgewandelt werden kann, ihr Gutes haben und welche Vorzüge diese im Wettbewerb mögliche Angstbewältigung gegenüber Angstzuständen in Diktaturen hat, und er bietet damit anregenden Stoff zum Nachdenken und Weiterdenken. Immerhin ist Angst auch in Demokratien zu bewältigen.
Wer keine Angst hat, hat keine Phantasie
Zum Beispiel: Um Angst zu haben, muss man sich ausmalen können, was alles passieren kann. Man muss sich vorstellen können, was Angst heraufbeschwört, was Angst macht: Angst benötigt Vorstellungskraft. Je größer das Vorstellungsvermögen, desto größer das Angstpotenzial – und umgekehrt. Das lässt sich dann auf das schöne Bonmot zuspitzen: „Wer keine Angst hat, hat keine Phantasie.“ Ob allerdings derjenige, der keinerlei Phantasie, keinerlei Vorstellungskraft hat, dann auch niemals Angst bekommt, weiß ich nicht und mag ich daher auch nicht entscheiden. Es kann sein, muss aber wohl nicht.
Angst haben die Menschen schon immer gehabt und vor allem Möglichen
Tatsache jedenfalls ist: Geängstigt haben sich die Menschen im Allgemeinen schon immer und vor allem Möglichen, wenn vielleicht auch nicht immer alle und sicher nicht rund um die Uhr. Vom biblischen Paradies sei dabei einmal abgesehen. Es gibt Angst vor der Zukunft, vor dem Ungewissen, vor der Technik, vor dem Alter, vor Versagen, vor Krankheit und Tod, vor Armut und Krieg, heute vor dem Islam, vor Islamisten, vor zu vielen Einwanderern, Angst vor den Folgen katastrophaler Politik, Angst vor Revolution, vor dem Verlust von Werten und Wertvorstellungen, die für Gesellschaften und Staaten überlebenswichtig sind, Angst vor der menschlichen Selbstzerstörungskraft, vor der Strafe Gottes und vor vielem, vielem mehr.
Die Deutschen als Angsthasen
Den Deutschen wird sogar nachgesagt, geradezu Angsthasen zu sein. Sie tun sich auch mit der Angst vor dem Aufbruch zu wirklichen Reformen besonders hervor, haben ohnehin zu viel Angst vor dem Risiko. Das Wort Reform sei in Deutschland, so schrieb Rainer Hank in der „Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung“ vom 30. Oktober 2006, ein Angstwort. Das deutsche Wort Angst wird längst auch im Englischen verwendet – nicht anders als Blitzkrieg, Waldsterben oder Kindergarten – und ist gebräuchlich in der Wendung „German Angst“.
Die Angst zu vieler Deutschen vor zu viel Freiheit
Dabei handelt es sich nicht nur um „Angst vor der Courage“, sondern mehr noch, wie Hans-Jürgen Papier (ebenfalls in der „Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung“ vom 30. Oktober 2005) schrieb, um die Angst, „sich überhaupt noch auf etwas einzulassen, weil man nicht zu erkennen vermag, worauf man sich denn mit Gewissheit und Zuversicht einlassen kann und einlassen soll“. Das sei jene Angst, die der Feind der Freiheit sei. Denn diese Form der Angst sei geeignet, das Grundvertrauen in die Demokratie zu erschüttern, ja, sie sei Ausdruck dessen, dass die Erschütterung bereits eingetreten sei.
Vor zu viel Freiheit scheinen die Deutschen ohnehin Angst zu haben, denn sonst müssten sie sich für wirkliche Reformen gewinnen lassen, die mehr Freiheit bescheren würden. Offenbar haben zu viele Deutsche vor zu viel Freiheit Angst.
Angst – ein unvermeidlicher Bestandteil des Lebens
Einer der anderen Autoren des von Kirsch herausgegebenen Buches (Fritz Riemann) schreibt: „Angst gehört unvermeidlich zu unserem Leben. In immer neuen Abwandlungen begleitet sie uns von der Geburt bis zum Tode.“
Und an anderer Stelle: „Wenn nun auch Angst unausweichlich zu unserem Leben gehört, will das nicht heißen, dass wir uns dauernd ihrer bewusst wären. Doch ist sie gleichsam immer gegenwärtig und kann jeden Augenblick ins Bewusstsein treten. Wie der Tod nicht aufhört zu existieren, so auch nicht die Angst.“
Angst entsteht, wenn man sich bedroht glaubt und verloren fühlt. Dabei sind Art, Formen und Ausmaß von Angst Veränderungen und einem Auf und Ab unterworfen. Einige Ängste treten zurück, andere in den Vordergrund, einige verlieren sich mit der Zeit, neue kommen hinzu, alte, längst vergessene kehren zurück.
Aber gegen die Angst lassen sich Gegenkräfte entwickeln: Mut, Vertrauen, Erkenntnis
Um Fritz Riemann noch einmal zu zitieren: Die Geschichte der Menschheit lasse immer neue Versuche erkennen, Angst zu bewältigen, zu vermindern, zu überwinden oder zu binden. Darum bemüht hätten sich Magie, Religion und Wissenschaft. Deren Wirken und Erkenntnisse könnten zwar helfen, Angst zu ertragen und sie für unsere Entwicklung vielleicht fruchtbar zu machen, aber zu glauben, ein Leben ohne Angst leben zu können, sei eine Illusion: Angst gehöre zu unserer Existenz einfach dazu. Wir könnten nur versuchen, Gegenkräfte gegen sie zu entwickeln: Mut, Vertrauen, Erkenntnis.
Abwehrreaktion Sicherheitsdrang
Aus der Tatsache, dass es Angst immer gibt, entspringen Abwehrreaktionen. Darüber geschrieben hat Wolfgang Sofsky in seinem Buch „Das Prinzip Sicherheit“. Er lehrte bis 2001 als Professor für Soziologie an den Universitäten Göttingen und Erfurt und machte danach als Privatgelehrter, Autor und politischer Kommentator weiter. Die eine Abwehrreaktion ist nach Sofsky „der unbedingte Wille zur Sicherheit“. Die Angst vor Gefahr versetze in Alarmstimmung, und die Kehrseite der Alarmstimmung sei, dass man alle Gefahren restlos beseitigen wolle. Diese Sehnsucht nach Sicherheit nutzen politische Führer und Parteien zum Wählerfang. Denn viele und zu viele Menschen suchen für ihre Sicherheit nicht Selbstverantwortung, Selbsthilfe und Selbstvorsorge, sondern allumfassende Behütung durch den Staat.
Mit umfassender Sicherheit geht die Freiheit baden
Mit Eingriffen in Wettbewerb und Marktgeschehen, mit immer mehr Gesetzen, immer mehr staatlicher Regulierung, immer mehr Überwachung und Kontrolle ohne Rücksicht auf alle schönen Datenschutzbekundungen wird sie ihnen beschert. Die aktuelle Politik bietet dafür Beispiele in Hülle und Fülle. Man denke nur an die Alterssicherung und die Gesundheitspolitik. Wo umfassende Sicherheit angestrebt wird, geht die Freiheit baden. Auf diesem Weg befinden wir uns schon lange.
Wenn sich die Sehnsucht nach Sicherheit mit Neid und Missgunst paart
Reformbestrebungen, die wieder mehr Freiheit bescheren sollen, machen stets sofort Angst. Prompt werden sie angegriffen, zerpflückt, über Ausschüsse, Gutachter oder Kommissionen aufs Abstellgleis geschoben, verwässert, blockiert. Paart sich die Sehnsucht nach Sicherheit mit Neid und Missgunst – und das tut sie –, bietet die Politik auch dafür etwas an, nämlich immer mehr Gleichheit und Gleichmacherei. Damit mindert oder zerstört sie die Leistungsanreize, sich aus der Masse hervorzuheben. Wenn sich Leistung nicht mehr lohnt, bleibt sie aus.
Die Kosten von Sicherheit bestehen in der Hingabe von Freiheiten
Sofsky schreibt vom Umgang mit den Gefahren, die das Leben im Übermaß beschert, und von den Institutionen, die Menschen zu ihrer Sicherheit vor Gefahren ersinnen, und davon, was diese Sicherheit kostet. Die Kosten bestehen in der Hingabe von Freiheiten. Um der Freiheit willen, schreibt der Autor, unterliege der Mensch dem Zwang, sich in selbst geschmiedete Ketten legen zu müssen. Da die Freiheit immer gefährdet ist, muss auch sie gesichert werden – durch Einschränkungen der Freiheit. So wird die Sicherheit, so wird das Streben nach Sicherheit selbst zur Gefahr.
Mit ihrer Sehnsucht nach totaler Sicherheit landen die Menschen beim Staat
Wie viel Unsicherheit ist der Mensch bereit hinzunehmen, um sich die Freiheiten zu bewahren, die er braucht? Wie die Menschen darauf antworten, beleuchtet auch ihr Staatsverständnis und ihr Verhältnis zum Staat. Denn von ihm erwarten sie Schutz vor Gefahr. Mehr Schutz bedeutet mehr Staat, und mehr Staat bedeutet weniger Freiheit. Das gilt auch für den Schutz vor Gefahren wie Krankheit, Altersarmut und Arbeitslosigkeit. Vor die Wahl gestellt, mehr Sicherheit oder mehr Freiheit zu wollen, entscheiden sich die meisten in der „Sehnsucht nach totaler Sicherheit“ (Sofsky) für mehr Sicherheit und suchen sie beim Staat.
So hat der Staat seine Herrschaft über die bürgerliche Gesellschaft ausgebaut
Diese Sehnsucht mündet in den totalen Sozial- und Interventionsstaat, der, so schreibt Sofsky, sich aufführe wie das Exekutivorgan eines kollektiven Willens nach umfassender Versorgung. Mit der Illusion der Sicherheit und Glückseligkeit stiegen die Zustimmung und Folgebereitschaft der Untertanen. Die Illusion restloser Sicherheit bezeichnet er als eine Hauptsäule politischer Herrschaft. „Nicht Freiheit, Gleichheit oder Solidarität sind die Leitideen heutiger Politik, sondern Sicherheit – jederzeit, überall. Der heutige Staat ist vor allem Sicherheitsstaat.“ So habe er seine „Herrschaft über die bürgerliche Gesellschaft ausgebaut“.
Der Staat ist heute nicht mehr Hort des Schutzes, sondern eine Quelle der Unsicherheit
Die Folgen der Sicherheitsanspruchsinflation und der staatlichen Expansion sind für Sofsky unübersehbar: „chronische Haushaltsdefizite, Misswirtschaft, explodierende Steuer- und Abgabelasten, Massenarbeitslosigkeit, Versorgungsmentalität, gesellschaftlicher Stillstand“. Reparaturen könnten den Niedergang des Interventionsstaates allenfalls verzögern, aber nicht aufhalten. Und trotz aller Vorkehrungen seien die Versprechen des Sicherheitsstaates nicht einzulösen. Damit kommt es zum Gegenteil dessen, was die sicherheitsbewegten Bürger wollen: „In seinem aktuellen Zustand ist der Staat kein Hort des Schutzes, sondern eine Quelle der Unsicherheit. Nun ist der Bürger vor die Aufgabe gestellt, sich selbst in Sicherheit zu bringen.“
Letztlich ist das Buch von Sofsky ein großes Plädoyer für die Freiheit. Es ist eine Warnung, nicht zu viele Freiheiten für zu viel Sicherheit hinzugeben und die Freiheit gegenüber einem staatlichen Für- und Vorsorgediktat zu verteidigen.
Nicht wenige fürchten schon die Freiheit der eigenen Meinung
Auch wenn das Leben lebensgefährlich ist: Nicht gegen alles Gefährliche kann und muss man sich absichern. Freiheit geht vor Sicherheit – sollte sie jedenfalls. Aber Eigenverantwortung fällt schwer, und Freiheit erzeugt Unsicherheit. Denn „wo die Freiheit regiert, müssen die Menschen ihr Leben selbst führen. Aber nicht wenige fürchten schon die Freiheit der eigenen Meinung. Sie wagen es nicht einmal, beim eigenen Wort genommen zu werden.“
Wenn man nun sieht, wie unser Land dem Ruin entgegentreibt und entgegengetrieben wird, wie auf der internationalen Bühne der politische Westen Fehler macht und wie er (durch aufstrebende Mächte wie China, Islamismus und Völkerwanderung von Arm zu Reich) immer stärker in die Defensive und damit ins Rutschen gerät, wird aus anfangs diffuser Angst immer mehr konkrete Furcht. Der Zustrom begüterter Menschen in die Schweiz, wo man sich besser aufgehoben und sicherer fühlt, zeugt davon. Aber selbst die Schweiz ist nicht mehr das, was sie einmal war. Und daher kann sich das Entfliehen dorthin eines Tages so darstellen, als sei man vom Regen in die Traufe geraten.
Abwehrreaktion Okay-Moral
Eine andere Abwehrreaktion gegen Angst findet sich im Beitrag, den der Sozialphilosoph und Psychoanalytiker Horst-Eberhard Richter in dem von Kirsch herausgegebenen Buch geschrieben hat. Er nennt es die Okay-Moral oder das Okay-Spiel. Die Menschen gaukeln sich und anderen vor, alles sei in bester Ordnung. Sich und andere zu erschrecken, ist verpönt oder mega-out, wie der heutige Jargon lautet. Sie lächeln sich zu, sie strahlen sich an, geben sich unbekümmert, inszenieren sich als munter und fit, traktieren ihre Umgebung mit ansteckend gemeinter Aufmunterung.
Wer offen zeige, so schreibt Richter, dass er Kummer, Schmerz oder Angst habe, sollte lieber nicht unter die Leute gehen, sondern besser gleich zum Lebensberater, zum Arzt, Psychotherapeuten oder in ein Sanatorium. Man wolle nur noch bestätigt, befriedigt und eingelullt werden. Zuversicht sei Pflicht und Angst verboten.
Nicht anders verfährt auch die deutsche Politik mit dem, was sie den Bürgern anbietet oder, richtiger, an wirklichen Notwendigkeiten nicht anbietet, sondern vorenthält. Und so wird auch im politischen Leben aus zunächst diffuser Angst vor der Politik und ihren möglichen Folgen mehr und mehr konkrete Furcht vor ihren tatsächlichen Folgen.
Die Gefahr, die Chance einer eben noch rechtzeitigen Abhilfe zu verpassen
Angesichts dieser zur Schau getragenen hedonistischen Sorglosigkeit fragt sich Richter: „Wie kommt es bei einer dominierenden Schicht der Entscheidungsträger und der besser Gebildeten zu der offiziellen Unbekümmertheit und Anästhesie gegenüber den globalen Bedrohungen? Was ist mit der Angst, die als Motor für wirksame Gegenmaßnahmen zu versagen scheint?“ Für Richter „wächst von Tag zu Tag die Gefahr, die Chance einer eben noch rechtzeitigen Abhilfe zu verpassen“. Diese Verblendung rechtfertige die heraufdämmernde Besorgnis, dass die Industriegesellschaften mit ihrem verantwortungslosen, egoistischen Expansionismus ein globales Inferno von Chaos und Gewalt heraufbeschwören könnten. Hier liege der Ursprung einer nur zu berechtigten Angst, die als „Weltangst“ bezeichnet werden könne.
Abermals ein „Tanz auf dem Vulkan“
In der Nazi-Zeit gab es den Gründgens-Film mit dem damals absichtsvoll politisch-beziehungsreichen Titel „Der Tanz auf dem Vulkan“. Ein solchen Tanz, so scheint es, erleben wir auch heute wieder, wenn auch nicht unter einer diktatorischen Schreckensherrschaft, aber in ebenfalls unheimlicher Weise. Müsste man – angesichts der Kriegstreiberei von Merz-Regierung und EU-Kommission – nicht gar von demokratischer Schreckensherrschaft sprechen?
Politik als Geschäft mit der Angst
Man kann auch sagen, dass Politikmachen auf Angst beruht, dass Politik von Angst beherrscht wird und vor allem deswegen (oder vielleicht sogar nur deswegen) überhaupt betrieben wird, dass also Politik ein Geschäft mit der Angst ist – im Streben der Menschen nach Sicherheit. Würde dieses Streben zugleich dazu dienen, die Freiheit der Menschen zu sichern oder herbeizuführen, dann wäre Angst freilich nicht nur ein Feind der Freiheit, sondern (nach Hans-Jürgen Papier) auch ihr Freund und Helfer.
Angst und „politische Korrektheit“
Dabei leisten wir uns auch eine Angst, die offene Worte und notwendiges Handeln hemmt. Es ist die Angst, gegen die aufgenötigte Political Correctness zu verstoßen, im zeitgeistigen Mainstream nicht mitzuschwimmen, sich dem Zeitgeist zu entziehen oder gar sich ihm entgegenzustemmen – was die einstige Fernsehnachrichtensprecherin Eva Herman zum Beispiel immerhin getan hat: Mit ihrem Buch zur Rolle der Frau, „Das Eva-Prinzip – Für eine neue Weiblichkeit“, forderte sie den herrschenden Feminismus heraus. Die rhetorischen Prügel und persönlichen Nachteile hat sie dafür in Kauf genommen. Und die haben sich auch prompt eingestellt.
Prekariat statt Unterschicht
Die Meinungsmacher der politischen Korrektheit und die selbsternannten Volkserzieher indoktrinieren bekanntlich auch mit dem Verwenden von Begriffen. Ein Beispiel dafür ist der Begriff Unterschicht, den sie untersagen wollten. Anstelle von Unterschicht holten sie zum Maskieren das Wort „Prekariat“ aus dem Instrumentenkasten. Es kommt aus der lateinischen Sprache. Dort heißt „precarius“erbettelt. Damit also würde die Unterschicht als Bettler bezeichnet und die Kennzeichnung dieser Bevölkerungsschicht sogar verschlimmert.
Angst als Selbstzensur
Angst vor dem Verstoß gegen politische Korrektheit ist ein guter Zensor. Aus Angst unterwirft man sich der Selbstzensur. Angst als Selbstzensur ist auch ständige Begleiterin im Politikerleben und in den Medien. Ein Beispiel dafür ist das Verhalten gegenüber Israel und dessen Regierungspolitik. Es gibt eine weitverbreitete Angst, mit der Kritik an der israelischen Politik als Antisemit zu gelten. Diese Angst bestimmt auch die nur verhaltene Kritik an Israels Kriegsführung in Palästina und das Zögern, sein ungehemmtes Töten ziviler Palästinenser Völkermord zu nennen.
Angst als Lebensversicherung
Noch einmal zurück zur Angst als Warnzeichen für eine vermeintliche, eine mögliche oder tatsächliche Gefahr. Angst und Furcht erfüllen einen Zweck: Sie veranlassen zur Vorsicht. Sie wirken also gleichsam wie eine in uns angelegte unentgeltliche Lebensversicherung. „Unser Gehirn“, so war einst im Magazin „Geo“ zu lesen, erkennt Gefahren schneller als Chancen, reagiert intensiver auf Unangenehmes als auf Schönes“ (Ines Possemeyer im Jubiläumsheft „30 Jahre Geo“).
Was tun, damit Angst den Tatendrang nicht lähmt?
Angst und Vorsicht als ständige Begleiter, so las man dort dann aber weiter, würden jedoch allen Tatendrang lähmen. „Was also tun?“ Der Beitrag gibt diese Antwort: „Die positiven Kräfte ‚künstlich‘ stärken. Täuschen! Belügen! Beschummeln! Und zwar uns selbst.“ Psychologen hätten hundertfach nachgewiesen, dass man dann viele Dinge positiver sehe, als es die Realität erlaube, und dass sich ebendies konkret auf unser Leben positiv auswirke. Zuversichtliche Menschen würden auch Umbruchsituationen besser als andere bewältigen. Man spürt dahinter jene Selbstermutigung, die da lautet: „Aus Angst vor dem Tag kann man auch im Bett bleiben. Aus Angst vor dem Leben kann man auch sterben.“ Lieber nicht.
Der Ratschlag, sich selbst zu beschummeln, also den Kopf gleichsam in den Sand zu stecken, mag im normalen Alltag für manches ganz brauchbar sein, aber um die großen gesellschaftlichen Veränderungen und politischen Gefahren zu bewältigen, kann er ernsthaft nicht geeignet sein. Deshalb muss es dabei bleiben, dass alle Nachdenkenden, Klugen und Mutigen gefordert sind, Angst und Furcht durch gescheite und vorausschauende Politik zu beseitigen oder wenigstens zu minimieren – was freilich leicht gesagt ist, aber sehr schwer getan.
Dieser Artikel erschien zuerst auf dem Blog des Autors.
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