Fass ohne Boden: Hasse mal Zweifünfzig?
Eine vielsagende Begegnung am Wochenende
von David Andres drucken

Schnorren ist auch nicht mehr das, was es mal war – und die Nachgiebigkeit eher eine Lose-Lose-Situation.
Der Mann wackelt auf mich zu, als sei der Boden in Bewegung. Ein sanftes Rütteln, hin und her, von dem ich gleichwohl nichts bemerke. Nüchtern sind wir beide, keine Fahne weht mir entgegen. Der Blick verrät eher eine gewisse Unterdurchschnittlichkeit im IQ oder leichte Verwirrtheit, der Blick fliegt in alle Richtungen, die Augen einem Chamäleon gleich.
„Haben Sie zwei Euro fünfzig für mich?“
Die Präzision der Bitte überrumpelt mich völlig. Ein Euro, klar, das kennt man. Oder ganz allgemein: „Kleingeld.“ Womöglich auch kreative Geschichten, dass man gleich unbedingt einen Bus nehmen müsse und dafür noch exakt eine bestimmte Summe fehle. Aber 2,50 Euro? Das ist nicht mal wenig.
„Wieso genau zweifünfzig?“, frage ich, halb aus Abwehr, halb aus Neugier. Ich möchte nicht von Honoraren und Verdiensten im Freiberuf sprechen oder gar an den Universitäten. Aber doch, warum nicht? Eine Unterrichtsstunde an der Uni ist auf 45 Euro gedeckelt, zumindest für mich als freie Kraft. Gebe ich dem Schnorrer, was er begehrt, schenke ich ihm immerhin fünfeinhalb Prozent einer Unterrichtsstunde als Lehrbeauftragter, für die ich lange studiert und gelernt habe. Steuerfrei.
„Zweifünfzig.“
Der Mann hat wenig Varianz in Vokabular und Argumentation. Seine Augen kugeln. Die Klamotten hängen unförmig am normalgewichtigen Leib. Unförmig, aber sauber. Zu den derzeit 531.600 wohnungslosen Menschen laut zweitem bundesweiten Wohnungslosenbericht vom Januar 2025 scheint er nicht zu gehören. Wobei „nur“ 47.300 davon tatsächlich auf der Straße oder in Behelfsunterkünften leben. Der weitaus größere Teil von 439.500 sind in „Einrichtungen der Wohnungsnotfallhilfe“ untergebracht; rund 60.400 leben „verdeckt wohnungslos“, also bei Angehörigen oder Freunden, früher gern als „Couch-Surfer“ verniedlicht.
Ich krame meine Geldbörse hervor, obwohl ich eigentlich gar keine Lust habe. Fürsorgliche Gewohnheiten auf freiwilliger Basis lege ich leider nicht ab. Steuern sind Raub, Schnorren hingegen ist eine Form der Manipulation meines Gewissens, der ich gerade den Inhalt eines sehr vollgepackten Einkaufswagens ins Auto räume, der ich mich selten entziehen kann. Allerdings gebe ich dem Mann nur 1,50 Euro – aus Prinzip.
Er bleibt stehen, das Geld in der Hand, wie angewurzelt.
„Zweifünfzig.“
Jetzt werde ich sauer, werfe den Rest der Einkäufe unsortiert ins Auto, schließe es ab und schiebe den Einkaufswagen fluchend an ihm vorbei, ohne ihn während des Fluchens weiter anzusehen.
„Ich habe Ihnen was gegeben, hier sind noch jede Menge anderer Leute. Echt jetzt!“
So lasse ich ihn stehen, denn er kann seine Tätigkeit ja wohl wenigstens flächendeckend vollführen, statt das selbstgesteckte Akquise-Ziel für heute direkt mit einem Mal erreichen zu wollen. Wie viele Anrufe muss ein Verkäufer am Tag tätigen? Wie viele Menschen sprechen die Tierschutzleute in der Fußgängerzone an einem Nachmittag an? Selbst Somalier machen so viele Versuche, wie es braucht, um letztlich erfolgreich und nachhaltig die deutsche Grenze zu queren.
Während ich den Einkaufswagen wegbringe, spüre ich den Mann noch in der Nähe meines Autos stehen. Ich traue ihm zu, das Gefährt jetzt zu treten oder zu kratzen, weil ich so frech war, ihm nicht 100 Prozent seines leistungslosen Honorarwunsches zu erfüllen. Es ist eine würdelose, eine frustrierende Situation für uns beide, ein Lose-Lose. Besser hätte ich ihm von drinnen ein belegtes Brötchen mitgebracht oder meinetwegen auch einen Doppelkorn.
Zweifünfzig. Ein Bauhelfer im Hoch- oder Tiefbau, der ohne formale Ausbildung einfach malochen gehen kann, verdient im Durchschnitt derzeit 2984 Euro Brutto im Monat. Auch davon gibt man nicht Zweifünfzig hier, Zweifünfzig da, einfach so ab. Der Schnorrer lässt den Wagen in Ruhe und schlurft wieder über den Platz. Wenig motiviert, mit der Akquise fortzufahren, geht er an anderen Kunden des großen Supermarktes vorüber.
Quellen:
Bundesregierung beschließt Wohnungslosenbericht 2024 (Bund)
Bauhelfer/in – Tiefbau-Gehalt in Vollzeit (meingehalt.net)
Kommentare
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