Sexualität und Freiheit – Teil 6: Was ist pervers?
Sadismus und Masochismus

Dass es immer noch islamisch geprägte Rechtsräume gibt, in denen das Opfer einer Vergewaltigung schuldig ist und entsprechend bestraft wird, während der Täter oftmals gar keine oder nur eine geringe Strafe erhält: Dies ist pervers, eine Umkehrung der Verantwortung. Es ist, welthistorisch gesehen, noch gar nicht so lange her, als erst Ende der 1990er Jahre in der Bundesrepublik Deutschland die Deliktmöglichkeit einer Vergewaltigung in der Ehe geschaffen wurde, und zwar gegen den erbitterten Einwand der Konservativen. Davor herrschte die Fiktion, dass ein Partner in der Ehe (in der Regel der Mann) einen Rechtsanspruch auf das willige Geben von Sexualität (in der Regel die Frau) habe und diesen Anspruch auch mit Handgreiflichkeit durchsetzen dürfe. Oder anders gesagt: In der Ehe gab es keine Freiwilligkeit der Sexualität; Nein zu sagen war nicht erlaubt. Dies war pervers, eine Umkehrung des Rechts.
Zu den Eigentümlichkeiten einer Reihe von Religionen, zu denen leider auch das Christentum zählt, gehört es, dass die Vorstellung herrscht, Gott würde kleine sexuelle „Verfehlungen“ oder angebliche Perversitäten wie Onanie, vorehelichen Geschlechtsverkehr oder Homosexualität umgehend mit Härte quittieren, während er Gewaltverbrechen wie Vergewaltigung, Folter im Namen der Staatsraison und Kriegführen recht nachsichtig behandelt, wenn nicht gar mit Wohlwollen betrachtet. Der mittelalterliche Philosoph Thomas von Aquin dagegen ließ, wie man so schön sagt, die Kirche im Dorfe, indem er sagte, sexuelle Verfehlungen wiesen dann eine untergeordnete Rolle im Kanon der Sünden auf, wenn sie niemandem Schaden zufügten. Dies reicht nahe an die libertäre Definition heran, dass es kein opferloses Verbrechen geben könne.
Allerdings ist das Kriterium „niemandem Schaden zuzufügen“ leider recht ungenau. Während es zwar eindeutig ist, dass etwa bei Homosexualität beide Seiten zustimmen und insofern keine Schädigung vorliegt – vorausgesetzt, es handelt sich um keine Vergewaltigung – kann jedoch der Vater, der die Familienehre ruiniert sieht, geltend machen, dass er beziehungsweise die Familie geschädigt worden sei. Präzise formuliert muss also gesagt werden, dass alle an der Handlung Beteiligten ihr freiwillig zustimmen und dass die Handlung keinen unmittelbar ursächlichen körperlichen oder materiellen Schaden zufügt.
Perversionen fallen nach Sigmund Freud zunächst unter die beiden Rubriken Sadismus oder Masochismus, der Lustgewinn daraus, jemandem Schmerz zuzufügen beziehungsweise Schmerz von jemandem zugefügt zu bekommen. Bei Sadismus liegt klarerweise ein Verstoß gegen das Kriterium vor, niemandem Schaden zuzufügen; bei Masochismus nicht. Das Kriterium ist vielmehr die Natürlichkeit. Sadismus und Masochismus kehren die natürliche Funktion der Lust um, ein positives Tun anzuregen, und des Schmerzes, von einem schädlichen Tun abzuschrecken oder die Quelle des Schmerzes zu meiden: Sie pervertieren diese Funktion. So betrachtet, scheint am Kriterium der Natürlichkeit kaum etwas auszusetzen sein. Dennoch ist es weniger stichhaltig, als es zunächst scheint. Aber zuerst eine Nebenbemerkung zu gegenwärtigen Sado-Maso-Praktiken, die nicht nur als freiwillig, sondern auch als rücksichts- und liebevoll gelten wollen. Was immer an dieser Art SM dran sein sollte, es ist kein Sadismus und Masochismus im von Freud gemeinten Sinne: Bei Freud ging es um tatsächlichen Schmerz. Und diese von Freud gekennzeichneten Formen von Sadismus und Masochismus bestehen als psychische Störungen fort. Wir müssen nur die Geschehnisse in den Folterkellern der Despoten und auf den von den Herrschenden angerichteten Schlachtfeldern betrachten.
Die Faszination und Lust an Sadismus und Masochismus ist trotz Aufhebung der Zensur gegen sexuelle Inhalte und die Lockerung der Bannflüche gegen sexuelle Praktiken ungebrochen. In der Literatur hat die Aufhebung der Zensur gegen sexuelle Inhalte eher eine Schwemme von Vermischung des Geschlechtstriebs mit Gewalthandlungen und anderen unappetitlichen Praktiken hervorgerufen als die Beschreibung liebevoller Verbindungen, die tendenziell für kitschig gehalten wird. Ist die Faszination für das Böse auch und gerade im sexuellen Bereich ein gleichsam natürliches Verlangen? Wenn wir es so erklären, stehen zwei Begriffe der Natürlichkeit unversöhnlich neben- oder vielmehr gegeneinander: die Natürlichkeit des Aktes und der sie begleitenden Lust auf der einen und die angeblich natürliche Neigung zur Perversion und zur sadistischen oder masochistischen Lust am Schmerz auf der anderen Seite; dann aber wird die Definition der Perversion als widernatürlich unsinnig. Oder man hält an der Definition der Perversion als widernatürlich fest, muss in diesem Falle aber die Verlockung durch die Perversion auf eine andere Weise erklären: Sie ist kulturell erzeugt. Diejenigen konservativen Kulturkritiker, die die Verlockung durch die Perversion auf die Lockerung der sexuellen Sitten zurückführen, können allerdings das unbestreitbare Vorhandensein der Perversionen innerhalb eines sittenstrengen Regimes nicht erklären. Die psychoanalytischen Umstürzler, die die Verlockung durch die Perversion auf die Repression des Sexuellen zurückführen, stehen ratlos vor der Tatsache, dass trotz gelockerter Repression die Verlockung offenbar nicht nachgelassen hat.
Über die beiden Perversionen Sadismus und Masochismus hinaus gelten bei Freud alle Sexualpraktiken unter Erwachsenen als pervers, die von ihrer Funktion in der Fortpflanzung abweichen; und damit hält er an einem Begriff von Natürlichkeit fest, wie er vor allem durch das Christentum entwickelt worden ist.
An dem von mir überaus geschätzten Thomas von Aquin kann ich die Problematik gut aufzeigen: Thomas treibt das Kriterium der Natürlichkeit als Maßstab für richtig und falsch so weit, dass er Sexualpraktiken verteufelt, die seiner irrigen Meinung nach keine Zeugung zulassen wie die Position „Frau oben“. Auf der anderen Seite widerspricht er solchen Ansichten seiner zeitgenössischen Theologen, die Sexualität bei sterilen (zeugungsunfähigen) Paaren untersagen; er wendet ein, es sei überhaupt nicht Sache des Menschen, über die Zeugung zu entscheiden, sondern die Sache Gottes. Das heißt, hier wird das natürliche durch ein göttliches Kriterium ersetzt. Aber mehr noch: Die Sexualität in der Funktion zur Sicherung der Fortpflanzung kennzeichnet Thomas richtigerweise als allen sich geschlechtlich fortpflanzenden Lebewesen gemein; in diesem Betracht ist der Mensch Teil der natürlichen Tierwelt. Die spezifisch dem Menschen zukommende Natur der Sexualität wäre, so beobachtete Thomas korrekt weiter, dass sie eben nicht auf die Fortpflanzung beschränkt sei. Auch diese spezifisch menschliche Natur der Sexualität muss eine Funktion haben (sofern wir von einer Vernünftigkeit der Natur ausgehen), und diese erkennt Thomas in der innigen und dauerhaften Bindung der Gatten aneinander, eine Bindung, die notwendig ist, um die beim Menschen besonders ausgeprägte und lang anhaltende Aufzucht der Nachkommen zu meistern. Da Thomas die sexuelle Befriedigung für die innige und dauerhafte Bindung der Gatten aneinander für zentral hält, findet er sich sogar bereit, alle Restriktionen gegen Sexualpraktiken aufzuheben, wenn die sexuelle Befriedigung anders nicht zu erreichen sei oder andernfalls das Fremdgehen eines unbefriedigten Partners zu befürchten wäre. Damit allerdings macht er das ursprüngliche Kriterium der (tierischen) Natürlichkeit, um richtig und falsch zu definieren, völlig untauglich. Das entscheidende und bleibende Kriterium ist nicht Natürlichkeit, sondern dass niemandem ein Schaden zugefügt werde.
Gehen wir noch einen Schritt weiter bei der Infragestellung des Natürlichkeitskriteriums. Es ist gesichert, dass Formen der gewaltsamen Begattung in der Tierwelt durchaus regelmäßig vorkommen, auch bei nahen Verwandten des Menschen wie den Schimpansen. Soziobiologich gesehen handelt es sich um eine Fortpflanzungsstrategie, die für solche Männchen sich eignet, die bei der (freiwilligen) Partnerwahl keine Chance haben. Des Weiteren tötet in manchen Tiergruppen wie den Löwen, bei denen ein Männchen über mehrere Weibchen verfügt, nach dem Wechsel des Patriarchen dieser (manchmal) die letzte Generation des Vorgängers (dieses Verhalten ist nicht so häufig, dass es als besonders erfolgreiche Vermehrungsstrategie gelten kann, aber doch häufig genug, als dass man es nicht als pathologischen Einzelfall abtun kann, wie das noch Irenäus Eibl-Eibelsfeldt versuchte. Beides, Vergewaltigung und Infantizid, werden wir nicht darum als auch unter Menschen erlaubt ansehen, weil sie „natürlich“ in dem Sinne sind, dass sie in der nicht-menschlichen Natur regelmäßig vorkommen.
Der Problemkreis des Natürlichen wird uns weiter beschäftigen.
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