Wirtschaftswissenschaften: Praxeologische Grundlagen von Gesellschaft und Staat
Lehre vom menschlichen Handeln

Aus praxeologischer Sicht ist der Staat nur insoweit legitimiert, wie seine Tätigkeit die freiwillige Zusammenarbeit der Individuen fördert.
Die Österreichische Schule der Nationalökonomie, geprägt von Denkern wie Carl Menger, Friedrich August von Hayek und vor allem Ludwig von Mises, zeichnet sich durch ihre einzigartige methodische Grundlage aus: der Praxeologie. Mises sah in ihr den entscheidenden Beitrag dieser Tradition, der sie von anderen wirtschaftswissenschaftlichen Ansätzen abhebt. In einer Disziplin, die zunehmend von empirischer Forschung und quantitativen Modellen dominiert wird, betont die Praxeologie die Grenzen des Wissens und warnt vor der „Anmaßung von Wissen“ (Hayek). Empirische Versuche, aus historischen Daten sichere Vorhersagen für die Zukunft zu gewinnen, stoßen regelmäßig an ihre Grenzen – sei es in der Wirtschaftskrise von 1929, der Stagflation der 1970er Jahre oder den Finanzkrisen des 21. Jahrhunderts. Die Praxeologie lehrt uns stattdessen, die logische Struktur des menschlichen Handelns zu durchdringen, ohne illusorische Gewissheiten zu versprechen. In dieser Demut gegenüber der Komplexität der Realität liegt ihre wahre Stärke und ihr Potenzial für nachhaltige Erkenntnisse.
Praxeologie ist die „Wissenschaft vom menschlichen Handeln“ – eine deduktive Lehre, die den Begriff des Handelns als Ausgangspunkt nimmt (Ludwig von Mises, „Nationalökonomie“, 1940, Seite 40). Der praxeologische Ansatz fragt nicht danach, ob Handeln moralisch gut oder schlecht ist, sondern analysiert seine reine Form: die intentionalen, zielgerichteten Aktivitäten, durch die Menschen Knappheit bewältigen und Mittel zu Zwecken einsetzen. Praxeologie macht die inneren Gesetzmäßigkeiten des Handelns sichtbar – Gesetze, die apriorisch, also vor jeder Erfahrung, gültig sind. Beispiele sind das Prinzip der Knappheit (Menschen handeln immer unter Zwängen) oder die Kategorie der Zeitpräferenz (Zukünftiges wird geringer bewertet als Gegenwärtiges). Im Gegensatz zu den Naturwissenschaften, die auf wiederholbaren Experimenten beruhen, ist menschliches Handeln einzigartig und historisch kontextuell. Erfahrung lehrt uns nur über das Vergangene – an einem spezifischen Ort, zu einer bestimmten Zeit. Sie kann keine universellen Gesetze liefern, da jeder Akt individuell und nicht replizierbar ist. Die praxeologische Methode ist daher notwendig „a priori“: Sie leitet allgemeingültige Erkenntnisse aus der logischen Struktur des Handelns ab, unabhängig von empirischen Daten. Geschichte hingegen ist „a posteriori“: Sie beschreibt, was war, ohne daraus zwingende Vorhersagen zu gewinnen. Damit weist die Praxeologie den Ansprüchen des Positivismus (der alles auf messbare Fakten reduziert) und des Panphysikalismus (der soziale Phänomene wie physikalische Prozesse behandelt) eine klare Absage. Mises formuliert es prägnant: „Die Theorie vom menschlichen Handeln ist daher notwendig apriorisch: Sie leitet allgemeingültige Erkenntnisse aus der Struktur des Handelns selbst ab. Geschichte hingegen arbeitet individualisierend und kann aus ihrem Material keine empirischen Gesetze gewinnen“ (Mises, 1940, Seite 48).
Die Praxeologie startet beim Individuum als einzigem Träger von Handlung. Gesellschaftliche Gebilde wie „Staat“, „Nation“, „Klasse“ und so weiter sind abstrakte Konstrukte, die nur durch individuelles Handeln erkennbar werden. „Nur weil etwas einen Namen hat, heißt das nicht, dass es in der Realität ein Objekt oder Subjekt gibt, das Träger dieses Namens ist“ (Tiedtke, „Kompass zum lebendigen Leben“, 2021, Seite 40). Kollektive handeln nicht eigenständig; sie sind bloße Summen oder Koordinationen individueller Entscheidungen. Mises unterstreicht: „Die Anschauung mag uns zeigen, dass viele Menschen – ein Haufen, eine Menge im arithmetischen Sinne – beisammen sind. Dass sie als soziologische Masse oder als organischer Verband oder sonst als gesellschaftliche Gesamtheit handeln, sagt uns erst das Denken, das ihr Handeln erfasst. Und dieses Handeln ist immer ein Handeln Einzelner. Nicht Anschauung, sondern Überlegung führt uns zur Erkenntnis der gesellschaftlichen Gebilde, und diese Überlegung muss von dem ausgehen, was uns im Handeln Einzelner unmittelbar entgegentritt“ (Mises, 1940, Seite 34). Gesellschaft entsteht aus freiwilliger Zusammenarbeit, die auf Arbeitsteilung basiert – einer natürlichen Konsequenz menschlicher Ungleichheit und Spezialisierung. Für Mises ist das Wesen der Gesellschaft eine „Vereinigung des Handelns“: Menschen kooperieren, um durch Spezialisierung und Austausch höhere Produktivität zu erzielen (Mises, 1940, Seite 115). Im Vergleich zur Isolation bietet die Gesellschaft klare Vorteile: Der Einzelne kann mehr erreichen, weil er auf die Leistungen anderer aufbaut. Diese Zusammenarbeit ruht auf drei Grundlagen. Erstens: Ungleichheit der Menschen. Individuen haben unterschiedliche Fähigkeiten, Talente und Vorlieben, was die Spezialisierung ermöglicht. Zweitens: Ungleiche Verteilung der Ressourcen: Ressourcen sind lokal begrenzt, was Handel und weiträumige Kooperation notwendig macht. Drittens: Bündelung: Viele Aufgaben übersteigen das Leistungsvermögen des Einzelnen und erfordern Zusammenarbeit.
Durch Arbeitsteilung wird der Mensch produktiver: Ein Jäger, der auch sammelt, erntet weniger als ein Spezialist, der mit anderen tauscht. Gesellschaft ist somit kein Zwang, sondern eine freiwillige Ordnung, die Wohlstand schafft.
Der Kollektivismus in allen seinen Formen birgt ungeheure Gefahren. Der Kollektivismus, der abstrakte Gebilde wie den „Staat“ oder die „Gesellschaft“ als eigenständige Akteure hypostasiert (verselbstständigt), birgt erhebliche Risiken. Anthropomorphismus – die Vermenschlichung solcher Konzepte – führt dazu, dass der Staat wie ein denkendes Wesen behandelt wird, obwohl er lediglich ein Netzwerk individueller Interaktionen ist. Dies verleitet zu Fehlentscheidungen: Der Einzelne wird zum bloßen Rädchen im Staatsgetriebe degradiert, seine Autonomie ignoriert. Kollektivismus untergräbt die Arbeitsteilung, indem er freiwillige Kooperation durch Zwang ersetzt – etwa durch Umverteilung oder Regulierungen, die Anreize verzerren. Mises kritisiert dies scharf: Der Kollektivist verkennt, dass wahre Gesellschaft auf gegenseitigem Nutzen beruht, nicht auf Unterwerfung. Wo Kooperation Vorteile bringt, die die Kosten übersteigen, blüht sie; Zwang zerstört sie. Historische Beispiele wie der Sozialismus des 20. Jahrhunderts zeigen, wie kollektivistische Illusionen zu wirtschaftlichem Niedergang und Unfreiheit führten. Stattdessen plädiert die Praxeologie für eine Ordnung, in der Individuen frei kooperieren und der Wettbewerb Innovationen fördert.
Aus praxeologischer Perspektive ist der Staat, als organisierter Teil der Gesellschaft, nur so weit legitim, wie er die gesellschaftliche Kooperation stärkt – etwa durch Schutz von Eigentum und Verträgen, die Arbeitsteilung sichern. Wo er jedoch freiwillige Interaktionen behindert (zum Beispiel durch hohe Steuern, die Investitionen entmutigen, oder Regulierungen, die Märkte verzerren), verliert er seine Rechtfertigung. Vollends illegitim wird staatliches Handeln, wenn es zerstörerische Ziele verfolgt, wie Krieg oder Unterdrückung, die Kooperation unterbrechen und Ressourcen vernichten. Mises warnt eindringlich: „Auch Mehrheiten können irregehen und die Menschheit ins Verderben stürzen. Das Vernünftige muss nicht schon darum siegen, weil es vernünftig ist. Nur wenn die Menschen so geartet sind, dass die Vernunft schließlich doch die Oberhand gewinnt, wird unsere Kultur weiter fortschreiten, werden Gesellschaft und Staat die Menschen zwar nicht glücklich, doch glücklicher machen. Ob diese Bedingung zutrifft, wird die Zukunft lehren“ (Mises, 1940, Seite 180). Die Praxeologie fordert also einen minimalen Staat, der Handlungsfreiheit respektiert, anstatt sie zu kollektivieren.
Frieden ist die Grundlage der Gesellschaft. Die Praxeologie lehrt, dass Gesellschaft nicht auf Konflikt, sondern auf Frieden gründet. Theorien, die Zivilisation auf Krieg oder Feindschaft zurückführen (zum Beispiel Hobbes) widersprechen der Logik des Handelns: Krieg zerstört Arbeitsteilung, Ressourcen und Kooperation, während Frieden diese ermöglicht. Mises und Hayek betonen, dass Handel und Spezialisierung friedliche Interdependenz schaffen – Nationen, die voneinander abhängen, kämpfen seltener. „Nicht der Krieg, sondern der Frieden ist der Vater aller gesellschaftlichen Dinge.“ In einer globalisierten Welt unterstreicht dies die Aktualität der Praxeologie: Nur durch friedliche Kooperation kann Wohlstand entstehen und die Knappheit gemildert werden. Zusammenfassend bietet die Praxeologie eine robuste Grundlage für die Österreichische Schule, die den Fokus auf individuelle Freiheit und marktorientierte Kooperation legt. Sie bleibt relevant, um aktuelle Herausforderungen wie Digitalisierung oder Klimapolitik zu analysieren – immer mit dem Appell, Handeln logisch zu verstehen, statt es zu zentral planen.
Ludwig von Mises: „Nationalökonomie. Theorie des Handelns und Wirtschaftens“, 1940
Andreas Tiedtke: „Der Kompass zum lebendigen Leben“, 2021
Antony P. Mueller: „Kapitalismus, Sozialismus und Anarchie“, 2021
Kommentare
Die Kommentarfunktion (lesen und schreiben) steht exklusiv nur registrierten Benutzern zur Verfügung.
Wenn Sie bereits ein Benutzerkonto haben, melden Sie sich bitte an. Wenn Sie noch kein Benutzerkonto haben, können Sie sich mit dem Registrierungsformular ein kostenloses Konto erstellen.