Weihnachten und die Liebe: Über das Fest der Liebe
Die theologische und ethische Bedeutung des Liebesgebots
Über das Fest der Liebe
Wir haben wieder das Fest der Liebe gefeiert. Aber was genau feiern wir da eigentlich? Was hat denn die Geburt Jesu, welcher durch unbefleckte Empfängnis in die Welt kam, mit Liebe zu tun? Die theologische Interpretation ist, dass es Gottes Liebe zu den Menschen ist, die sich in der Geburt seines Sohnes offenbarte: „So sehr hat Gott die Welt geliebt, dass er seinen einzigen Sohn gab“ (Joh 3,16).
Vielen Menschen fällt bei Liebe und Christentum aber wahrscheinlich etwas anderes ein: „Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst“. Das hat Jesus gesagt, es stammt aber nicht von ihm. Das Gebot ist alttestamentarisch, circa 500 Jahre älter als Jesus: Levitikus 19,18. Man geht davon aus, dass es wie die anderen Gebote aus dem Buch Levitikus während des Babylonischen Exils der Israeliten oder in der frühen nachexilischen Zeit (Judäa) entstand, mithin ein Gemeinschafts- und Überlebensprinzip für eine machtlose Minderheit ist. Der „Nächste“ ist ein Mitglied der eigenen Gemeinschaft, das Gebot ist also nicht universell zu verstehen. Bemerkenswert ist allerdings, dass es ein Rechtssatz ohne Staat, eine Ethik ohne Macht ist und Liebe als ein Ordnungsprinzip verstanden wird.
In der christlichen Interpretation kommt es dann zu einer Bedeutungsverschiebung, weil das Christentum nicht wie das Judentum an eine Volkszugehörigkeit gekoppelt ist. Der „Nächste“ wird nun derjenige, der mir jeweils begegnet. Damit ist aber keine grenzenlose Selbstaufgabe gemeint. Es ist eine Anti-Eskalationsnorm, weil die seinerzeit herrschende Ehrenkultur zu Eskalation neigte. Das Gebot stellt die menschliche Würde über die Ehre, was man auch an dem Satz aus der Bergpredigt „Wenn dich einer auf die rechte Wange schlägt, dem halte auch die andere hin“ sieht. Das ist keine Aufforderung zur Unterwerfung, sondern die Aufforderung zu würdevollem Widerstand, um die mit der Ehrenkultur verbundene Eskalationsspirale zu durchbrechen. Die Tat wird nicht legitimiert, sondern ihrer Macht beraubt. Es ist kein Verbot von Notwehr, der Verzicht ist nur empfohlen.
Da der Westen christlich geprägt ist, eine Kultur der Würde hervorgebracht hat, ist es heute möglicherweise schwer verständlich, warum das Durchbrechen der Eskalationsspirale so hoch gewichtet ist. Es gab damals keine Instanz, an die sich jemand, dessen Ehre angegriffen wurde, wenden konnte. Ihm blieb nur, den Täter selbst zu bestrafen, gegebenenfalls den eigenen Clan zur Hilfe zu holen, um seine Ehre wiederherzustellen. Tat er es nicht, war seine gesellschaftliche Existenz, sein „Gesicht“, zerstört. Auch das „Auge um Auge, Zahn um Zahn“ ist ein Prinzip, das der Eskalation entgegenwirken sollte. Jesus hatte erkannt, dass das nicht ausreicht, um Gewalt wirklich einzudämmen. In dem Liebesgebot verbirgt sich in dem Halbsatz „… wie dich selbst“ das Reziprozitätsprinzip der „Goldenen Regel“: Behandle andere so, wie du von ihnen behandelt werden willst. Thomas von Aquin hat klar gesagt, dass man sich selbst kein geringeres Gut als dem Nächsten schulde, hat also eine Interpretation als Selbstaufgabe abgelehnt.
Ist das christlich interpretierte „Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst“ also eine frühe Formulierung des Nichtaggressionsprinzips (NAP), welches ja ebenfalls Aggression zur Selbstverteidigung oder Vergeltung erlaubt, jedoch zuvörderst auf Deeskalation gerichtet ist? Die Antwort ist nein, wenngleich beide Ansätze ein ähnliches Ziel und somit eine Verbindung haben. Das NAP ist ein rein formales, rationales Prinzip, es verzichtet auf eine „emotionale“ Begründung durch einen Verweis auf etwas wie „Liebe“, von dem dann angenommen werden müsste, dass jeder wüsste, was das ist. Man könnte das NAP kühl, indifferent, minimalistisch einhalten, ohne jemanden zu lieben. Aus dem NAP lassen sich direkt Rechtsnormen ableiten, es ist eine negative Norm, die zu einer Unterlassung auffordert und somit einen Mindeststandard formuliert. Das Liebesgebot empfiehlt positiv eine bestimmte „liebende“ Lebensweise, deren Einhaltung ein höchster, selten tatsächlich erreichter Standard ist. Nicht-Aggression ist eine notwendige Bedingung für Nächstenliebe oder anders gesagt dessen Reduktion auf einen rationalen Kern.
Psychologisch ist die Relation zwischen Vernunft und Emotion jedoch genau umgekehrt: Vernunft findet ohne emotionale Basis schlicht nicht statt, wie der Neurowissenschaftler António R. Damásio empirisch nachweisen konnte (zur Vertiefung siehe Quelle unten). Es gibt kein rein rationales Handeln in dem Sinne, dass nicht das emotionale System in unserem Gehirn die notwendigen Vorarbeiten erledigt hat, auch wenn uns das nicht bewusst werden mag. Eine rationale Begründung ist immer eine Rationalisierung, das heißt, sie findet nachträglich statt und blendet dann die emotionale Grundlage aus. Das wirft die Frage auf, welches denn die emotionale Grundlage des NAP ist. Oder anders gefragt: Was genau bringt einen Menschen dazu, für sich das NAP als Lebensprinzip zu übernehmen? Die Frage mag jeder für sich selbst beantworten. Sie könnte wichtig sein, um zu verstehen, warum das NAP so schwer vermittelbar ist. „Liebe“ ist leichter zu vermitteln.
Quellen:
Das Buch Levitikus, Kapitel 19 - Universität Innsbruck
Wege aus dem Wirrwarr der Möglichkeiten
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