01. Dezember 2025 16:00

Meer, Umweltschutz und Kommunikation Wann ist Flaschenpost Abfall?

Was der Staat verwaltet, wird vermüllt

von Robert Grözinger drucken

Flaschenpost: Symbol für den forschenden Schritt ins Ungewisse
Bildquelle: e-Redaktion Flaschenpost: Symbol für den forschenden Schritt ins Ungewisse

Ich beginne mit einer Geschichte aus meiner Jugend. Als ich 14 war und wir wieder einmal an der Nordseeküste der Grafschaft Norfolk im Südosten Englands Sommerurlaub machten, warf ich – nicht zum ersten und auch nicht zum letzten Mal – eine Flaschenpost ins Meer. Ein mit unserer südniedersächsischen Heimatadresse und meinem Namen versehener Zettel mit der darauf auf Englisch und Deutsch geschriebenen Bitte, mir im Fall des Auffindens eine Mitteilung zu schicken, hatte ich in den kleinen glasigen Schweppes-Behälter gesteckt. Diesen übergab ich, möglichst wasserdicht verschlossen, per Weitwurf der ebbenden Salzflut.

Wochen später, so erinnere ich mich, jedenfalls innerhalb eines halben Jahres, erhielt ich Post. Von einem, so schrieb die Verfasserin, elfjährigen Mädchen, das auf einer der deutschen nordfriesischen Inseln lebte und dort meine Flasche am Strand gefunden hatte. Aus Gründen, die sogleich klar werden, nenne ich die konkrete Insel nicht. Sie bat mich, ihr zurückzuschreiben und ihr ein Foto von mir zu schicken. Das tat ich und fügte eine per Pauspapier selbstgezeichnete Karte der Nordsee hinzu, auf der ich zeigte, wo ich die Flasche ins Meer geworfen hatte und dass der Fundort bestätigte, welche Richtung die Abzweigung des Golfstroms in der Nordsee vollzieht. Ich bat sie auch um ein Foto ihrerseits.

Die Antwort aus dem Wattenmeer kam postwendend. Der Umschlag war diesmal so rosafarben wie das Briefpapier. Mit roter Tinte bekundete die Absenderin in dem mit selbst gezeichneten Herzen garnierten Schriftstück ihre Liebe für mich und fragte, ob ich sie auch lieben würde. Ein Foto von ihr war nicht dabei. Ein wenig, beziehungsweise mittelschwer erschüttert von diesem Emotionsüberfall, legte ich den Brief weg. Wenige Tage später erhielt ich eine mit anderer Handschrift geschriebene Postkarte aus derselben Insel, diesmal von einem nach eigenen Angaben 13-jährigen Mädchen, das ebenfalls bekundete, meine Flasche gefunden zu haben. Auch diesem Mädchen schrieb ich dankend zurück, verschwieg aber nicht meine Verwunderung über diesen merkwürdigen Doppelfund einer einzigen Flasche. Von ihr erhielt ich keine weitere Antwort.

So viel intensive weibliche Aufmerksamkeit auf einmal war für den angehenden Nerd, der ich damals war, ein wenig überwältigend. Ich ließ den Schriftverkehr aus dem hohen Norden in einer selten aufgesuchten Ecke meines Zimmers verschwinden. Einige Jahre später zogen wir um. Als beim Ausräumen diese Papiere wieder auftauchten, schmiss ich sie weg. Nochmals ein paar Jahre später bereute ich diesen Räumungswurf, denn zur Grundausbildung bei der Bundeswehr wurde ich in eine Kaserne nicht weit von Husum einberufen. Ich war 19, ebenso nerdig wie mit 14, nun aber mit deutlich gestiegenem Interesse am anderen Geschlecht ausgestattet. Die beiden traum-schaumgeborenen Grazien von der Insel wären damals 16 und 18 gewesen. Ich hätte an einem Wochenende eine Fähre nehmen und einer von ihnen einen Besuch abstatten können. Oder beiden. Ohne Kenntnis der auf dem von mir gedankenlos final deponierten Schriftverkehr vermerkten Namen und Anschriften wäre das allerdings schwierig gewesen. Einfach auf der Insel auftauchen und herumfragen wollte ich damals nicht. Nun ja. „Ssellawih“, wie der Franzose sagt.

Warum ich das erzähle? Weil eine aktuelle Meldung über eine Flaschenpost jede Menge Symbolik über unsere Zeit mit sich trägt. Und ich ein wenig stolz auf meinen kleinen jungforscherischen Erfolg bin. Und weil ich noch immer ein wenig belustigt bin über die frühreife holde Weiblichkeit an der deutschen Nordseeküste und meine diesbezüglich verpassten Chancen. 

Vor kurzem erhielt eine englische Flaschenpostwerferin ebenfalls eine Rückmeldung. Allerdings eine deutlich weniger romantische als ich im vergangenen Jahrhundert; eine vom Ungeist der aktuellen Zeit inspirierte Antwort. Die Plattform Breitbart berichtet, dass die englische Hobby-Flaschenpostwerferin Lorraine Forbes erzürnte Post von einem anonym bleibenden britischen Strandmüllsammler erhielt, der ihr ein „Gebühr zahlt Empfänger“-Paket voller Steine schickte. Frau Forbes, die in Eastbourne an der Kanalküste lebt, dieses Hobby ihren Angaben zufolge seit 30 Jahren ausübt und gelegentlich Rückantworten aus den Niederlanden oder Frankreich erhält, zeigte sich schockiert darüber, wie auch über die auf einem dem Paket beigelegten Zettel gekritzelten Worte: „Hören Sie bitte auf, Müll ins Meer zu werfen. Er trifft einen Tag später in Pevensey Bay oder Normans Bay ein. Vielen Dank, ein Müllsammler.“

In vielen Kulturen symbolisiert das Meer Chaos, das Unbekannte, die Gefahr, das Unendliche. Aber auch das zu erforschende Potenzial. Ähnlich wie der Wald, aus dem es herausschallt, wie man in ihn hineinruft – früher jedenfalls. Gut vorstellbar, dass in Urzeiten Küstenvölker, in der Hoffnung auf reichhaltigen Fischfang, Opfergaben ins Meer warfen. Eine rationalere Anwandlung dieser Tradition sahen wir im 19. Jahrhundert: In der Hoffnung auf Erkenntnisgewinn setzten Geologen Flaschenpost mehrfach zur Erforschung von Meeresströmungen ein. So wie ich als jugendlicher Hobbyforscher auch.

Für diesen Strömungserforschungszweck brauchen wir im Weltraumzeitalter, in dem hochsensible Forschungssatelliten unseren Planeten umkreisen, Flaschen nicht mehr zu entfremden. Aber der Drang, ins Unbekannte hinein zu rufen und zu reichen, ist uns geblieben. Das beweisen die verschiedenen Botschaften, die wir mittels Radiostrahlung oder Sonden in den interstellaren Raum senden. Pessimistische Kosmologen wie etwa Stephen Hawking warnen uns sogar davor, bloß nicht mit allzu viel Lärm die noch unbekannten Nachbarn aufzuschrecken. Er ventilierte damit unbewusst die in vielen Legenden manifestierte Urangst vor dem Betreten eines realen oder metaphorischen Neulands, vor dem Versuch, zumindest konzeptionell Ordnung ins wahrgenommene Chaos zu bringen. Es könnte sich dort ein gefräßiger, bösartiger Lindwurm verbergen. Oder ein alles verschlingendes, liebestolles Weibsbild. Oder ein Giftzwerg oder zumindest ein Troll.

Ein Troll ist jener anonyme Strandmüllsammler. Jedenfalls benimmt er sich wie einer. Ein wütender Troll, der sich freiwillig der Sisyphusarbeit des Einsammelns an der Grenze zwischen Festland und Wasser deponierter entropischer Reste zivilisatorischen Ordnungsschaffens verschrieben hat. Bei jedem Kniff seiner Greifzange und beim Schleppen seines immer schwerer werdenden Müllsacks reflektiert er, ähnlich wie Caspar David Friedrichs Mönch am Meer, über den Sinn seines Daseins angesichts eines so gleichgültig wie unerbittlich erscheinenden endlosen Abfallstroms. Nicht die dunkelkalte Flut lässt ihn klein und ohnmächtig vorkommen, sondern die unerschöpfliche menschliche Unachtsamkeit der von ihm geradezu vergötterten, der Verderbnis ausgesetzten Natur gegenüber. Das kann jeder ein wenig nachempfinden, der wie ich manchmal mit so einer Greifzange bewaffnet in der Nachbarschaft spazieren geht.

Ich vermute jedoch, dass der Strandtroll anders als ich noch nie von libertärer Staatstheorie oder der österreichischen Schule der Ökonomie gehört hat. Sonst wüsste er, warum er sich abrackert. Nämlich weil der sich den öffentlichen Raum anmaßend zu Eigen machende Staat für das Müllsammeln jenseits der dafür von ihm designierten Tonnen kaum bis gar kein Geld übrig hat. Weil so etwas seinen Interessen am seltensten dienen würde. Was der Staat hat, gibt er heutzutage lieber für das Aufspüren und die Verfolgung von Falschdenkern aus.

Eines Tages entdeckt unser Strandtroll ein, wie er es empfindet, Stück Müll, dem praktischerweise Name und Adresse der „Verursacherin“ beigefügt sind. Auf ihr entlädt er seinen ganzen Frust und Zorn über die seiner Ansicht nach die Natur blasphemisch behandelnde Menschheit. Man kann sogar sagen, dass er die „Frevlerin“ stellvertretend für die Menschheit sozusagen steinigt. Abgesehen von der Manifestation seiner religiösen Empfindungen über die von ihm so gesehene Schutzwürdigkeit einer unbefleckten Mutter Erde offenbart dieser Zeitgenosse eine Unkenntnis über die von Ökonomen so bezeichnete „Tragik der Allmende“: Was nicht in Privatbesitz ist, sondern der Öffentlichkeit frei zugänglich, wird naturgemäß übernutzt.

Ferner zeigt unser Troll wenig Zuversicht in die Fähigkeit des Menschen, Lösungen zu finden, wenn die Anreizstruktur stimmt. Erfindungen erreichen immer genau dann ihre Marktreife, wenn sich ein Markt für sie findet. Die Privatisierung jedes letzten Meters Strand allein würde die Müllfreiheit des Meeressaums nicht garantieren. Dafür ist noch ein weiterer Faktor notwendig, nämlich der Leidensdruck einer ausreichenden Zahl ausreichend zahlungskräftiger Menschen. Diese würden Erfindungen zur Marktreife führen, die den Eigentümern der Strände eine bequeme und effiziente Räumung ihrer Grundstücke von unwillkommenem Material ermöglichen würde.

Ein Nachteil eines solchen Szenarios wäre, dass Flaschenpost nur noch mit – wahrscheinlich gebührenpflichtiger – Zustimmung der Eigentümer sowohl der Sender- wie auch der Empfängerstrände möglich wäre. Schlussendlich auch noch mit der Zustimmung der Eigentümer der Ozeanparzellen dazwischen. Spätestens dann taugt das Meer als Symbol für das Chaos, das Unbekannte und die Unendlichkeit nicht mehr. Zumindest bleibt uns dann noch das Weltall, mitsamt aller dort lungernden Monster, Trolle und liebestollen Weibsbildern.

Quellen:

Woman Sends Message in Bottle Out to Sea, Gets Angry Letter In Return


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