Meinungsfreiheit: Verbotszonen für Lebensschützer
Schlimmer als die US-Demokraten
Für US-Lebensschützer war es einer der spektakulärsten Erfolge vor dem Obersten Gerichtshof in der Zeit vor der Revision von Roe versus Wade. Doch in Wirklichkeit war es ein Erfolg für die Meinungsfreiheit in einem juristischen Streit, der sich eigentlich mit einem kurzen Blick auf den Ersten Verfassungszusatz hätte erledigen können. Mit neun zu null urteilten die ansonsten in ethischen Streitfragen gerne gespaltenen Obersten Richter 2014 für Eleanor McCullen, die vor einer Planned-Parenthood-Abtreibungsklinik in Boston Frauen angesprochen hatte, in dem Versuch, sie von ihrer Entscheidung abzubringen.
Dass die damals schon über 70 Jahre alte Rentnerin dabei aufdringlich geworden sei oder Frauen körperlich bedrängt habe, wurde ihr nicht einmal von Gegnern vorgeworfen. Das hielt allerdings den Commonwealth of Massachusetts nicht davon ab, in einem Gesetz von 2007 eine Sperrzone um Abtreibungskliniken von umgerechnet rund elf Metern zu verfügen. Ein Gesetz, das auf McCullen abzielte. Die Katholikin klagte dagegen und bekam am Ende höchstinstanzlich Recht. Nicht nur von der konservativen Supreme-Court-Mehrheit, sondern auch von Sonia Sotomayor, Elena Kagan (beide von Obama nominiert), Stephen Breyer und selbst Ruth Bader Ginsburg (beide unter Clinton ernannt).
Antonin Scalia, Samuel Alito, Clarence Thomas und Anthony Kennedy wollten sogar die Gunst der Stunde nutzen und gleich mit dem Bostoner Statut noch ein Gesetz des Bundesstaates Colorado abräumen, das es Lebensschützern im Umkreis von 30 Metern um Abtreibungskliniken verbietet, Frauen und Klinikpersonal gegen deren ausdrücklichen Willen näher als 2,50 Meter zu kommen. Ein Gesetz, das man jetzt nicht für völlig unverhältnismäßig halten muss.
Meinungsfreiheit hat in den USA einfach einen viel höheren Stellenwert als in Deutschland. Das illustriert einmal mehr der in der vergangenen Woche veröffentlichte Gesetzentwurf der Bundesregierung zur sogenannten Gehsteigbelästigung. Die Älteren unter Ihnen werden sich erinnern: Das hieß früher mal Gehsteigberatung, bis alle Medien wie auf Knopfdruck plötzlich anfingen, von „Gehsteigbelästigung“ zu schreiben. Ein bisschen so wie quasi über Nacht aus Weißrussland im Blätterwald „Belarus“ wurde. Ich halte im Übrigen beide Begriffe in ihrer Pauschalität für ungeeignet. Es ist eben keine Beratung, wenn man Frauen, die das gar nicht hören wollen, die eigenen Argumente aufnötigt. Belästigung hingegen ist etwas sehr Subjektives und kann für sich kein Argument dafür sein, die Meinungsfreiheit derer zu beschneiden, von denen man sich belästigt fühlt.
Selbst ein Großteil der US-Demokraten hat wohl mehr Respekt vor der freien Rede als das von Lisa Paus geführte Bundesfamilienministerium. Laut dem Gesetzentwurf soll künftig nämlich eine Sperrzone für die freie Rede von 100 Metern um den Eingangsbereich von Beratungsstellen und anderen Einrichtungen gelten, die Abtreibungen vornehmen. Warum nicht gleich einen Kilometer? In dieser verbotenen Zone sind „wahrnehmbare Verhaltensweisen“ untersagt, die „geeignet sind, die Inanspruchnahme der Beratung in der Beratungsstelle oder den Zugang zu Einrichtungen, in denen Schwangerschaftsabbrüche durchgeführt werden, zu beeinträchtigen“. Darunter fällt für die Bundesregierung, „einer Schwangeren gegen ihren erkennbaren Willen die eigene Meinung aufzudrängen oder sie mit unwahren Tatsachenbehauptungen oder verstörenden Inhalten zu konfrontieren“.
Schon einer Frau hinterherzurufen, „Sie sind auf dem Weg, Ihr eigenes Kind zu töten“, gilt dann vermutlich als unwahre Tatsachenbehauptung für Abtreibungsfanatiker, die in einem Fötus nicht mehr als einen Zellklumpen erkennen wollen. Es ist das gute Recht von Lebensschützern, vor Abtreibungskliniken zu demonstrieren, zu beten, Bilder im Mutterleib getöteter Föten hochzuhalten, Frauen anzusprechen, ihnen Hilfsangebote zu machen. Es käme mir umgekehrt als Christ ja auch nie in den Sinn, Satanisten, Atheisten oder Abtreibungsbefürwortern verbieten zu wollen, für ihr Anliegen zu werben.
Die meisten Gehsteigberaterinnen, die ich während meiner Zeit in der kirch- und freikirchlichen Szene kennenlernen durfte, waren von nichts anderem getrieben als der Liebe für die werdende Mutter und das ungeborene Leben. Dass es da auch ein paar schwarze Schafe gibt, die statt ausgestreckter Hand und Hilfsangebot auf die Schuld- und Höllenkarte setzen, ist zwar schlimm (und nebenbei auch ziemlich kontraproduktiv), kann rechtlich aber nichts zur Sache tun. Es ist nicht die Aufgabe der Regierung, Frauen davor zu schützen, sich ob ihrer Entscheidung schlecht zu fühlen.
Zumindest sollten für Gehsteigberaterinnen dieselben Standards wie für Bettler gelten. Von denen fühle ich mich auch manchmal belästigt und doch käme ich nie auf die Idee, ein Bettelverbot zu fordern. Selbstverständlich soll jeder Mensch das Recht haben, sich mit einem Schild in die Fußgängerzone zu setzen und um Geld zu bitten oder auch Passanten direkt anzusprechen. So etwas verbieten zu wollen, zeugt von einem sehr autoritären Weltbild.
Aber wie für das Betteln gibt es natürlich auch für Gehsteigberaterinnen Grenzen. Diese sind spätestens dann überschritten, wenn unerwünschte Berührungen im Spiel sind, der Weg versperrt wird oder der Zutritt zu Kliniken oder zum eigenen Pkw blockiert wird. Oder natürlich, wenn Lebensschützer den öffentlichen Raum verlassen und ihr Anliegen unerwünschterweise auf privatem Grund vorbringen wollen. Neue Gesetze braucht es dafür allerdings nicht.
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