23. Februar 2024 07:00

Libertäre Psychologie – Teil 1 Sigmund Freud: Der Kulturpessimist als Befreier

Das Unbehagen in der Kultur überwinden

von Stefan Blankertz

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Bildquelle: Massimo Todaro / Shutterstock Freud und seine berühmte Couch: Im Wachsfigurenkabinett Madame Tussauds in Berlin verewigt

Lange Zeit war die Psychologie ein Teil der Philosophie und als solche war ihre einzig mögliche Fragestellung, wie sich das Bewusstsein logisch aufbaue. Sigmund Freud (1856–1939) räumte damit auf. Nein, nein, sagte Freud, ein großer Teil der psychischen Aktivität liege im Unbewussten, umgangssprachlich oft auch „Unterbewusstsein“ genannt – was Freud betrifft, gibt es jedenfalls kein Unterbewusstsein, sondern nur das Unbewusste im Gegensatz zum Bewussten; dem, was landläufig als „unterbewusst“ bezeichnet wird, entspricht bei Freud am ehesten das „Vorbewusste“.

Freud eilt der Ruf voraus, „alles“ auf die Prägung in der frühen Kindheit und auf Sexualität zurückgeführt zu haben. Dieser Ruf lässt sich für jeden leicht durch eigene Lektüre widerlegen. Sei es die berühmte „Traumdeutung“, seien es die eindrucksvollen Vorlesungen zur Einführung in die Psychologie: Freuds Beispiele drehen sich keineswegs nur um frühe Kindheit und Sexualität. Dennoch ist in dem Ruf, der Freud vorauseilt, viel von dem enthalten, was psychoanalytisch erklärt werden kann: Es ist in diesem Ruf die (verständliche) Abwehr dagegen zu spüren, von Mächten beherrscht zu werden, die man nicht mit Bewusstsein kontrollieren kann. Aber nehmen wir ein so unverfängliches Beispiel wie die Sprache. Der erste Spracherwerb der Muttersprache findet weitgehend in der Phase statt, bevor ein erinnertes Bewusstsein vorhanden ist. Die intuitiv erfassten Regeln können befolgt werden, ohne dass sie bewusst sein müssen. Und außer für Linguisten bleibt die Anwendung der Regeln ein Leben lang unbewusst. Kunsthistorisch Interessierten empfehle ich Freuds wunderbare Interpretation des Davids von Michelangelo, in der es weder um Kindheit noch um Sexualität geht, sondern um Zorn und die Möglichkeit, ihn zurückzuhalten (psychoanalytisch: zu „retroflektieren“).

Eine spezielle Abwehr erfährt immer noch der Nachdruck Freuds darauf, dass Sexualität das ganze individuelle und gesellschaftliche Handeln bestimme. Nach wie vor grassiert die ausgenzwinkernde Klassifizierung von Sex als „schönster Nebensache der Welt“. Wie bitte? Nebensache? Ohne Sexualität gäbe es keine höher entwickelten komplexeren Lebewesen. Vielleicht wäre es ja besser gewesen, wenn sich das Leben nicht über das Stadium der Amöbe hinaus entwickelt hätte (darüber spekuliert Freud in seinem pessimistischsten Text, „Jenseits des Lustprinzips“, als er 1920 nach dem Ersten Weltkrieg an der Destruktivität der Menschen schier zu verzweifeln drohte). Die Besonderheit der menschlichen Sexualität liegt in ihrer Entgrenzung oder umgekehrt gesagt: darin, dass sie zeitlich und funktional nicht mehr auf die Fortpflanzung eingegrenzt ist. Dies hat entwicklungsgeschichtlich die Ursache darin, dass bei Menschen die Brutpflege über viele Jahre stattfindet und einer stabilen Familie bedarf. Die Funktion der Sexualität als Bindemittel für die Familie hat übrigens nicht erst Freud entdeckt; sie wird bereits bei Thomas von Aquin im 13. Jahrhundert ausführlich beleuchtet. Es gibt übrigens einige wenige Ethnien wie die Trobiander auf Papua-Neuguinea und die Arrernte in Zentral-Australien, deren Familienstruktur sowohl für Psychoanalytiker wie für Thomisten eine Herausforderung darstellen, da die Kernfamilie nach anderen Prinzipien gebildet wird.

Nun wird Freud von konservativer Seite immer noch und gerade auch wieder verstärkt vorgeworfen, die Familie „zerstört“ zu haben: Seine Aufklärung über die Bedeutung der Sexualität und über die Abgründe, die sich in Familien leider allzu oft finden, habe zur Auflösung der Familie geführt, zu rebellischen Kindern, zu Müttern und Vätern, die ihrer sexuellen Befriedigung nachjagten, statt ihre Pflicht zu tun. Dieser Vorwurf tut so, als habe Freud sich all das, was er über die Familie und deren problematische psychische Dynamik zu sagen hatte, ausgedacht. Wer das meint, soll nicht Freud angreifen, sondern aufzeigen, dass die Familie immer und überall nur Friede, Freude, Eierkuchen war und ist. Dass die Mütter und Väter vor Freud nur ihre Pflicht getan hätten und niemals ihrer Lust gefolgt seien. Dass Kinder niemals rebelliert oder niemals stumm unter ihren Eltern schwer gelitten hätten. All das ist mehr als unwahrscheinlich.

Ein anderer Freud gern gemachter Vorwurf lautet, er habe die Verantwortung vom Einzelnen auf die Gesellschaft verschoben. Wenn es vor allem soziale Vorgänge in der Kindheit seien, die das Handeln unbewusst motivierten, dann folge daraus, dass nicht der Handelnde schuld sei, wenn etwas schieflaufe, sondern die anonyme Gesellschaft. Dies ist zugegebenermaßen häufig aus Freuds Theorien geschlussfolgert worden und heute weitgehend Standard, sowohl in der Rechtspraxis als auch im allgemeinen Bewusstsein. Aber es ist nicht das, was Freud anstrebte. Sein therapeutisches Ziel bestand ganz im Gegenteil darin, die Entwicklung des von seinem Unbewussten gesteuerten, in der Kindheit verhafteten „Es“ hin zu einem aktiven, erwachsenen, Verantwortung übernehmen könnenden und wollenden Ich zu unterstützen.

Der für das Verständnis der sozio-psychologischen Dynamik der Gesellschaft wichtigste Text Freuds ist „Das Unbehagen in der Kultur“. Er ist 1930 – nach dem katastrophalen Ersten Weltkrieg, während Kommunismus und Faschismus in Europa auf dem Vormarsch und ein neuer Krieg im Anzug war – erschienen, und Freud stellte sich darin die Frage nach dem Warum: Warum sind die Menschen bereit, sehenden Auges die Zerstörung all dessen in Kauf zu nehmen, was sie aufgebaut haben und was ihr Leben angenehm macht? Die Analyse der (ökonomischen) Interessen, die die Herrschenden zu solchem Handeln treibt, beantwortet die Frage nicht hinreichend; denn diese mögen ja durchaus Gründe für ihr Handeln haben, aber warum macht die Masse mit? Freud entwickelt in dem kleinen Text die These, dass die sozio-psychologische Dynamik der Gesellschaft von zwei Mächten bestimmt werde: den individuellen Bedürfnissen (vor allem Sexualität und Aggressivität) und den gesellschaftlichen Bedürfnissen nach Ordnung und Gegenseitigkeit. Um die gesellschaftlichen Bedürfnisse zu befriedigen, ist es – laut Freud – nötig, die individuellen Bedürfnisse teilweise einzuschränken: Die individuellen Bedürfnisse können nicht immer, nicht alle und vor allem selten sofort befriedigt werden, ohne die gesellschaftliche Ordnung oder die Gegenseitigkeit zu verletzen. Die Frustration der individuellen Bedürfnisse bleibt allerdings nicht ohne Folgen. Die Menschen machen sich gegenüber den eigenen Bedürfnissen taub, diese werden ins Unbewusste verdrängt, sind jedoch dort umso wirksamer. Viele Menschen reagieren mit Selbstschädigung (auf der psychischen Ebene Depression, auf der somatischen Ebene Krankheit), manche mit ungezügelter Destruktivität. Insgesamt entsteht ein „Unbehagen in der Kultur“, das heißt, dass die Kultur und ihre Leistungen (Ordnung und Gegenseitigkeit) nicht nur positiv gesehen, sondern auch negativ erlebt werden. Die Frustration der individuellen Bedürfnisse, also das „Unbehagen“, kann ein solches Ausmaß erreichen, dass es in die Bereitschaft mündet, alles kurz und klein zu hauen. Freud, selber bereits schwer krank, war zum Zeitpunkt der Veröffentlichung des Textes pessimistisch dahingehend, ob es je gelingen werde, ein lebensfähiges Gleichgewicht zwischen individuellen und gesellschaftlichen Bedürfnissen herzustellen.

Bemerkenswerterweise lobte der individualistischen Ökonom Ludwig von Mises in seinem Spätwerk „Theorie und Geschichte“ (1957) Freud dafür, erkannt zu haben, dass für ein geordnetes Miteinander die Einschränkung der individuellen sexuellen Bedürfnisse notwendig sei. Das ist bemerkenswert, da Ludwig von Mises in seiner Ökonomik davon ausgeht, dass sich zwischen individuellen und gesellschaftlichen Bedürfnissen kein Gegensatz auftue. Im Gegenteil, Mises streitet vehement ab, dass es von den individuellen Bedürfnissen abweichende gesellschaftliche Bedürfnisse überhaupt geben könne. Leider ging Mises nie darauf ein, wie man in theoretischer Hinsicht erklären könne, dass für Psychologie nicht dasselbe gilt wie für die Ökonomik. Er ging auch nicht darauf ein, wie ein repressives Regiment in psychologischer Hinsicht mit einem freien Handeln in der Ökonomik zu vereinbaren wäre (mehr zu Ludwig von Mises als Psychologen im letzten Teil der Serie, Folge 7).

Einen libertären Gebrauch von Freuds Theorie des Unbehagens in der Kultur machten sein Schüler Wilhelm Reich (ihn behandele ich in der Folge 2 dieser Serie) und der Anarchist und Mitbegründer der Gestalttherapie Paul Goodman (auf ihn gehe ich in der Folge 6 dieser Serie ein). Sie gingen davon aus, dass das lebensfähige Gleichgewicht zwischen individuellen und gesellschaftlichen Bedürfnissen erreichbar sei, aber nicht in einer starren und zentralistischen herrschaftlichen Ordnung, sondern in einer dezentralen Ordnung, in der es mehr Möglichkeiten gibt, die Ordnung an die wirklichen Bedürfnisse der Handelnden anzupassen (anstatt an die Bedürfnisse der Ordnung).


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