Wilhelm Reichs Massenpsychologie des Faschismus – Teil 7: Zur Kritik des Konstruktivismus
Ein Loblied auf die chinesischen Spatzen
von Stefan Blankertz
Eine in meinen Augen entscheidende Einsicht keimte bei Wilhelm Reich während der Auseinandersetzung mit der Katastrophe des Bolschewismus, die die tiefere Ursache des Sieges des Faschismus (Italien und Spanien) sowie des Nationalsozialismus (Deutschland) bildet. Er erkannte, dass eine Gesellschaft und vor allem eine gesellschaftliche Veränderung zum Guten sich nicht auf dem Reißbrett planen und dann unter Einsatz der notwendigen Gewaltmittel umsetzen lassen. Der damalige totalitäre Konstruktivismus, der genau dies vermeinte und auch erprobte, kehrt heute wieder als ausgefeilte Sozialtechnokratie in demokratischer Form zurück: Man behauptet, dass sich jedweder „gewünschte“ gesellschaftliche Zustand erreichen lasse, sofern der Staat entsprechende Gesetze, Erlasse, Verordnungen in Stellung bringe und genügend Geldmittel in die Organisationen pumpe, die den Menschen dabei „helfen“, sich auf die gewünschte Weise zu verhalten und zu verändern. Diese Form des Konstruktivismus ist weniger brutal, jedoch sehr effektiv, um jede gesellschaftliche Initiative und freie Entwicklung zu ersticken, möglicherweise effektiver noch als ihre totalitären Vorläufer.
Wenn Reich 1946 schreibt, „man kann eine neue Ordnung nicht ,ersinnen‘, ,erdenken‘, ,erplanen‘; sie muss organisch gewachsen sein“, richtet sich das genauso gegen Sozialtechnokraten (die sich selber für unideologisch hielten, von Linken stets aber als konservative Rechte bezeichnet wurden) und implizit die Konstruktivisten – die heutigen Nachfahren der Sozialtechnokaten, die den Adel erringen konnten, als Linke anerkannt zu werden – wie auch gegen Stalinisten und Faschisten. Gegen Demokraten nicht weniger als gegen die proletarischen Diktatoren: Wenn es nicht möglich ist, die Gesellschaft in der gewünschten Form auf dem Reißbrett zu entwerfen, per Gesetz und mit Gewalt durchzusetzen, ist es einerlei, wie die Entscheidung gefällt wurde, was die „gewünschte“ Form sei, nämlich von einem Diktator, einer privilegierten Gruppe oder der Mehrheit. Denn, so Reich 1946, „die natürlichen Funktionen des Arbeitsprozesses sind jeder Art menschlich-mechanistischer und autoritärer Willkür entzogen“.
Hier drückt sich die konservative Seite der Anarchie aus, für die ich Wilhelm Reich vereinnahmen möchte: Sie ist kein System, das angestrebt werden kann und etabliert werden muss, sondern sie bedarf bloß ihrer Befreiung, der Befreiung der Gesellschaft vom Staat, dem die Anarchie immer schon und immer noch zugrunde liegt. Ohne die informellen Abläufe freiwilliger sozialer Kooperation ist Gesellschaft undenkbar. Wieder und wieder betont Wilhelm Reich, „dass die natürliche Arbeitsdemokratie ein bestehendes und nicht erst einzurichtendes soziales System“ sei.
Als die Rechtfertigung der Herrschaft wurde von Anfang an neben dem Verweis auf die (angeblich) göttliche Einsetzung des Herrschers auch die (angeblich) natürliche Angemessenheit der Herrschaft als Prinzip der Organisation von Gesellschaft aufgeführt. Beide Formen der Rechtfertigung stützten einander: Da die Natur von Gott (oder von den Göttern) stamme, drücke sich dessen (oder deren) Wille indirekt in ihr aus, und ihr zu folgen, ist genauso ein Gebot der Vernunft wie eine religiöse Pflicht.
Ob es nun um Sklavenbesitzer, Feudalherren, Monarchen oder Aristokraten ging und so unterschiedlich die Formen einer herrschaftlich strukturierten Gesellschaft auch waren, stets sollten sie angeblich im Einklang mit der „natürlichen Ordnung“ stehen. Die Aufklärung setzte diesem blinden Gehorsam gegenüber einer aus der Natur heraus legitimierten Herrschaft mit der Betonung der Vernunft jedes Einzelnen Widerstand entgegen. Nicht die Natur sollte mehr über die Menschen herrschen, sondern die Menschen sollten mit Vernunft über die Natur herrschen, nicht aber gegenseitig übereinander.
Aber auch die Dekonstruktion des Naturbegriffs konnte sich, anders als die Aufklärer es sich gedacht und erwünscht hatten, zur neuen Form der Rechtfertigung von Herrschaft mausern. Die Möglichkeit, vermittels rationaler Planung Menschen und Umwelt scheinbar „optimal“ zu formen, wuchs sich zu einem Programm aus, das einen omnipotenten, gleichsam gottgleichen Staat schuf, der alles zu regeln, zu kontrollieren und zu überwachen hatte. Der eine Schritt in diese Richtung war der Staatskommunismus, wie er sich in der UdSSR etablieren konnte. Ohne Gott und mit nahezu keinerlei Respekt vor der Natur – weder vor Mensch und Tier noch vor Pflanze und Erde – sollte eine Gesellschaft aus dem Boden gestampft werden, in der alles reibungslos läuft. Herausgekommen sind unumschränkter Terror gegen die Menschen und eine beispiellose Verwüstung der natürlichen Ressourcen.
Man sollte allerdings sich keinerlei Illusionen dahingehend hingeben, dass in Anbetracht dieser schlimmen „Dialektik der Aufklärung“ eine Gegenaufklärung helfe, die die Natur erneut in ihr Recht einsetze. Der Faschismus, besonders in der Form des deutschen Nationalsozialismus, berief sich wieder auf die Natur, auf die angeblich natürlichen Rassenunterschiede, auf die angeblich natürliche Hierarchie bis hin zum omnipotenten Führer, auf die Natürlichkeit der Familie, die das Kanonenfutter für die expansionistischen Träume des Führers liefern sollte, und so weiter. Das Ergebnis dieser dem Staatskommunismus in gewissen Hinsichten diametral entgegengesetzten Ideologie war eine gesellschaftliche Struktur, die auf gespenstische Weise dem Staatskommunismus glich. Genau diese strukturellen Ähnlichkeiten von (Staats-) Kommunismus und Faschismus, ungeachtet ihrer ideologischen Gegensätzlichkeiten, verdichtete Ernst Jünger 1930 in der Gestalt des Arbeiters, in er damals die kollektivistische Zukunft heraufkommen sah. Von heute aus gesehen – also von einem Standpunkt, der die Gestalt des Arbeiters überwunden hat – muss man jedoch feststellen, dass sogar diese Analyse zu kurz gegriffen war: Auch in der Zeit nach der Herrschaft des Arbeiters ist Kollektivismus als zentrales Merkmal erhalten geblieben, selbst wenn er heute in der Gestalt des Individualismus daherkommt.
Die gesellschaftliche „Plan-“ und „Machbarkeit“ gegenüber Mensch und Natur sind es, die es zu bekämpfen gilt. Ein Sinnbild hierfür ist die „Kampagne zum Töten der Spatzen“, 1958 von Mao Zedong als Teil der „Ausrottung der vier Plagen“ initiiert. Die Spatzen sah Mao als verantwortlich an für den Rückgang der landwirtschaftlichen Produktion in der Zeit des „Großen Sprungs nach vorn“. Das ganze Volk inklusive Schulkinder – heute könnten wir vom Greta-Effekt sprechen – wurde mobilisiert, um die Spatzen zu töten, selbst jene in den Städten, die der landwirtschaftlichen Produktion niemals gefährlich werden konnten. Infolge dieser überaus erfolgreichen Kampagne erlebte China zwar eine Insektenplage, jedoch keinerlei Zunahme der landwirtschaftlichen Produktion (vielmehr kam es wegen der Planmisswirtschaft zu einer der größten Hungerkatastrophen der Menschheitsgeschichte).
Früher wusste die Umweltbewegung, dass flächendeckende, staatlich gesteuerte Großmaßnahmen nur schädlich wirken können, wohingegen Ökosysteme dezentral funktionieren und dezentral verteidigt werden müssen: So ließe sich im Einklang mit der Natur leben. Inzwischen haben die Protagonisten die Weisheit leider verloren und sind gleichsam zu den Zauberlehrlingen Mao Zedongs geworden. Mit Wilhelm Reich dagegen können wir ein Loblied auf die Arbeitsdemokratie der Spatzen anstimmen.
Handeln, Entscheiden, (freier) Wille sind für Soziologie und Psychologie, aber auch die Erziehungswissenschaft (anders als für die frühere Pädagogik) ein schwerwiegendes Problem: Sie führen dazu, dass nichts vorhersagbar ist, weil es den Schnittpunkt vieler einzelner Akteure bildet. Jeder Akteur hat seine eigene Rationalität und seine eigenen Interessen im Blick, doch die Summe bleibt im Dunkeln wie das Schwarze Loch. Auch Big Data ist ratlos. Letztlich rettet uns das vorm Stalinismus des herrschenden Konstruktivismus: Er wäre nicht in der Lage, zu sagen, was wir tun und lassen werden. Auch er bleibt darauf verwiesen, dass die Anarchie – oder in den Begriffen von Wilhelm Reich: die Arbeitsdemokratie – unterhalb der Plan- und Bevormundungsbürokratie der EUdSSR funktionsfähig bleibt. Mit dem Pfund müssen wir wuchern und es gegen ihn richten. Brexit für alle.
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