Libertäre Psychologie – Teil 6: Paul Goodman: Verantwortung als Befreiung
Die Idee der Gestalttherapie
von Stefan Blankertz
Vor 1947 hätte niemand erwarten können, dass Paul Goodman (1911–1972) einen bleibenden Beitrag zur Psychologie leisten würde – am wenigsten er selber. Der diffus linke und pazifistische New Yorker Straßenjunge und Poet hatte bei einem Professor studiert, bei dem Altgriechisch Unterrichtssprache war. Im Laufe der 1940er Jahre entwickelte er sich zum Anarchisten, nachdem alle anderen politischen Richtungen bis auf die Altkonservativen zu Bellizisten geworden waren. Mit Sigmund Freud (Folge 1 der Serie) hatte er sich beschäftigt, aber nicht aus dem Grund, um Psychotherapeut zu werden, sondern um bessere Geschichten schreiben zu können. Wilhelm Reich (Folge 2 der Serie) hatte er persönlich getroffen, um ihn, nachdem Reich dem Kommunismus abgeschworen hatte, davon zu überzeugen, Anarchist zu sein, was Reich jedoch brüsk von sich wies. Im Krieg nutzte Goodman die Theorien Reichs, um zu erklären, warum die Masse der Menschen bereit ist, zu eigenem Schaden mitzumachen: Die fortwährende Frustration, nicht Herr des eigenen Lebens zu sein, macht den Organismus dazu geneigt, das Heil in einer totalen Zerschlagung der bekannten Umwelt zu suchen.
Als Goodman drohte, gegen Ende des Kriegs zum Wehrdienst eingezogen zu werden, schrieb er eine Reihe von Essays – seine ersten nichtliterarischen Arbeiten überhaupt –, in denen er darüber reflektiert, warum es richtig ist, den Wehrdienst zu verweigern. Erschienen in kleinen Avantgarde-Zeitschriften, erreichten einige Exemplare sogar Südafrika, wo das deutsche Psychoanalytiker-Ehepaar Laura und Fritz Perls im Exil lebte. Als die beiden die Essays lasen, erkannten sie sofort eine Seelenverwandtschaft und beschlossen, Goodman zu kontaktieren, falls sie jemals in die USA kommen sollten. 1947 war es so weit. Um dem zunehmenden Rassismus in Südafrika zu entkommen, packten Laura und Fritz Perls erneut ihre Sachen und zogen in die USA weiter, genauer gesagt nach New York. (Dem südafrikanischen Rassismus durch Emigration in die USA entkommen zu wollen, war objektiv gesehen eine wenig rationale Wahl – aber das ist eine andere Geschichte.) Fritz Perls, der es verstand, unmittelbar nach ihrer Ankunft in New York eine gut gehende psychoanalytische Praxis aufzubauen, fand heraus, dass Goodman ein brotloser Künstler war. So beauftragte er ihn, ein Buch zu schreiben – Fritz selber litt unter Schreibhemmung und seine Frau Laura hatte offenbar keine Lust mehr, für ihn Texte zu verfassen, die dann unter seinem Namen erschienen. Goodman nahm Auftrag und Honorar zwar dankend an, schrieb dann aber sein eigenes Ding. Am Ende waren beide nicht so recht zufrieden. Das Buch mit dem mysteriösen Titel „Gestalt Therapy“ wurde in der Tat zum Ausgangspunkt einer eigenen Therapierichtung, deren Verbreitung in Osteuropa und in der spanischsprachigen Welt gerade erst beginnt und die dabei ist, sogar in China Fuß zu fassen.
Der sperrige Charakter des Buches aufgrund seiner Entstehungsgeschichte und sein sperriger Inhalt aufgrund der anarchistischen Gesinnung zumindest eines der Autoren haben die Gestalttherapie in Deutschland davor bewahrt, Teil des offiziellen Gesundheitswesens zu werden. Obwohl dies ein Großteil des Berufsverbandes bedauert, empfinde ich gerade die Distanz der Gestalttherapie zum staatlichen Gesundheitswesen als ein großes Glück: Es bewahrt die Gestalttherapeuten davor, Handlanger der (Staats-) Gewalt zu sein.
Gemeinsamer Hintergrund von Laura und Fritz Perls auf der einen und Paul Goodman auf der anderen Seite bildeten die Psychoanalytiker Freud und Reich und der Neurologe Kurt Goldstein (Folge 5 der Serie), bei dem Fritz Perls in Deutschland assistiert und der bei Paul Goodman in den USA Englisch gelernt hatte. Was machten sie anders als die bisherigen Ansätze in der Psychotherapie?
Wenn das Ziel wie schon bei Freud darin besteht, die individuelle Verantwortung zu stärken sowie bei der Erlangung der Verfügung über das eigene Leben zu helfen, muss der Fokus auf Gegenwärtigkeit und Gerichtetheit des Handelns gelegt werden. Nur in der Gegenwart kann verantwortlich gehandelt werden; nur bei gerichtetem Handeln macht die Kategorie der Verantwortung Sinn. Die Frage lautet, wie Menschen es fertigbringen, fortwährend so zu agieren, dass bei ihren Handlungen nicht das herauskommt, was sie wollen (oder von dem sie behaupten, dass sie es wollen). Es ist tatsächlich das Wie und nicht das Warum, das hier entscheidend ist. Auf die Frage, warum sie so handeln, wie sie handeln, haben die Menschen vielfach gut klingende Antworten. Und dennoch steht am Ende oft ein Ergebnis, das dem ausgesprochenen Wollen entgegensteht. Wie das?
In der (Gestalt-) Therapie geht es nicht (nur) darum, den Grund als Erklärung zu ermitteln, sondern (vor allem) darum, das Wie zu erkunden und Alternativen auszuprobieren. Die Gegenwärtigkeit ist die Therapiesitzung: In diesem geschützten Raum kann der Klient damit experimentieren, was geschieht (was sich verändert), wenn er sich auf eine andere Weise verhält. Mit dieser therapeutischen Idee rückt die Beziehung zwischen Klienten und Therapeuten ins Zentrum der Aufmerksamkeit. Es geht nicht darum, dass der Therapeut den Klienten über irgendetwas aufklärt und ihn zum Gegenstand von Diagnose oder Veränderungstechniken macht, sondern darum, mit ihm zusammen die Möglichkeiten zu erkunden. Was der Klient letztlich damit macht, fällt bereits in seine Verantwortung.
Paul Goodmans Interesse war freilich weniger, eine Therapierichtung zu begründen, als vielmehr eine Theorie zu entwickeln, die ihm gesellschaftliche Phänomene erklärlich macht: Die Menschen rackern sich ab und sind trotzdem unglücklich. Sie beklagen, nicht Herr ihres Lebens zu sein, und fügen sich einem System, das sie versklavt. Sein Ziel war es, die Mitmenschen dazu anzuregen, sich wieder mehr auf die Lösung ihrer eigenen Probleme zu besinnen, anstatt zu meinen, anonyme bürokratische Prozeduren könnten ihnen irgendwie nützen.
Goodman bezeichnete sich manchmal als Anarchist, häufiger jedoch als „libertarian“. Das Wort „liberal“ war (und ist) in der amerikanischen politischen Landschaft ja völlig sinnwidrig zu einem Synonym für Sozialdemokratie geworden. Ich vermute, dass es der um 15 Jahre ältere Goodman war, der Murray Rothbard dazu inspirierte, auf „libertarianism“ zurückzugreifen, als er Mitte der 1960er Jahre auf der Suche nach einem Begriff für seine spezifische Fusion von Anarchismus und klassischem Liberalismus war. Leider hat die weitere Entwicklung des Libertarismus sich fast ausschließlich auf die ökonomische Theorie gestützt und die Psychologie vernachlässigt. In der abschließenden Folge dieser Serie untersuche ich nächste Woche, inwieweit die Ökonomik des Ludwig von Mises, Murray Rothbards Lehrer, auch dazu dienen kann, in der Psychologie weiterzukommen.
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