Lebensuntüchtigkeit: Der Krieg ist fern…
…nur die Frage der richtigen Meinung zu ihm ist wirklich nah
von Christian Paulwitz drucken
Letzte Woche las ich die berührende Kolumne von Carlos A. Gebauer in der aktuellen Ausgabe von eigentümlich frei mit dem ambivalenten Titel „Kriegstüchtig“, in der er beschreibt, wie der II. Weltkrieg das Leben seines Vaters und dessen Haltung zum Leben geprägt hat. Sie sei hiermit wärmstens empfohlen, nicht nur weil sie literarisch wie immer ein Sahnehäubchen ist. Es gab wohl keine Familie in Deutschland, in der der Krieg nicht großes Leid verursacht und erheblich in die Lebensläufe eingegriffen hatte. Väter, Brüder, Söhne waren im Krieg, und dennoch ist die Perspektive des Soldaten in der Kriegsmaschinerie heute wenig bewusst; eher noch das Leid, das die Zivilbevölkerung durch Bombenterror, Flucht und Vertreibung erfahren hat. Mein Vater war zu Kriegsende noch ein Kind, aber meine beiden Großväter durfte ich nie kennenlernen. Wer aus dem Krieg zurückkehrte, musste in der Regel tiefe Traumatisierungen verarbeiten, ohne dass ihm professionelle psychologische Aufarbeitung zur Seite stand – ausgehend vom Zustand des heutigen politisierten Gesundheitssystems mag das möglicherweise manchmal sogar besser gewesen sein.
Die Strategie dieser Generation, die Traumata zu verarbeiten, war vielfach, sie irgendwo in einem Kästchen tief in sich drin hineinzupacken, dieses zuzuschließen und sich mit aller Energie auf den Aufbau der Zukunft für sich und die Seinen zu konzentrieren. Arbeit lenkt ab und gibt Sinn, um der Zeit zu helfen, die Wunden vernarben zu lassen. Mit Anstrengungen und Herausforderungen konnte man im besten Fall konstruktiv umgehen, hatte man doch jedenfalls schon Schlimmeres erlebt. Im Westen Deutschlands wurde das Programm der „Umerziehung“ umgesetzt, das die Deutschen mit den Verbrechen der Nationalsozialisten konfrontieren sollte, um einen Bruch zu verursachen. Die Wehrmacht galt als die Organisation, mit der die Nationalsozialisten Krieg über ihre Nachbarn gebracht hatten und damit als verbrecherisch – wo ist da Raum für das Leid, das diejenigen erfahren haben, die in ihr gekämpft haben? Erst als die Wiederbewaffnung Westdeutschlands im Kalten Krieg anstand, wozu zum Aufbau einer neuen Truppe ehemalige Wehrmachtsangehörige notwendig waren, gab der damalige NATO-Oberbefehlshaber und spätere US-Präsident Eisenhower 1951 eine soldatische Ehrenerklärung für die Wehrmacht ab; Bundeskanzler Adenauer folgte. Politische Symbolik – die Traumata blieben im Kästchen verschlossen, erstes Narbengewebe überzog sie – nichts, woran man tiefer rühren möchte, um nicht alte Wunden aufzureißen. Blick nach vorne.
Die „Umerziehung“ lief in der sowjetischen Zone etwas anders ab als im Westen, und der neue Sozialismus appellierte in seiner Anfangszeit gerne an das sozialistische Ethos ehemaliger nationalsozialistischer Mitläufer, um mit deren Hilfe nun den richtigen Sozialismus aufzubauen. Da dieser sich selbst als Sieger über den Faschismus definierte, war die Läuterung gleich inbegriffen. Die alten Wehrmachtshelme behielt die Nationale Volksarmee praktischerweise gleich bei – eine Durchsuchung ihrer Truppe nach Wehrmachtsanekdoten, wie unter den Verteidigungsministerinnen des wiedervereinigten Deutschlands, wäre in der DDR eine absurde Vorstellung gewesen. Ansonsten war der neue Sozialismus ausreichend mit der Verursachung neuer Traumata beschäftigt, um Raum für die Bearbeitung alter zu bieten.
Die Perspektive des Frontsoldaten im Grauen des Maschinenkriegs wurde mit Bezug auf den I. Weltkrieg vielfach literarisch verarbeitet und somit späteren Generationen bis zu einem gewissen Grad nachvollziehbar gemacht. Ernst Jüngers „In Stahlgewittern“ sei hier genannt oder auch Remarques „Im Westen nichts Neues“. Die Entfremdung des Frontkämpfers vom zivilen Leben, seinen Werten und Maßstäben, ist ein durchgängiges, wichtiges Motiv.
Demgegenüber ist die Aufarbeitung der Soldatenperspektive des II. Weltkriegs überraschend dünn, Werke mit tiefer Substanz sind kaum bekannt und die mit größerer Popularität fast durchgängig von einem politischen Hintergrund geprägt, welcher bei oberflächlicher „Antikriegsbotschaft“ die Unterscheidung von Gut und Böse als wesentliche Aussage wichtig ist. Hollywood war nicht nur zur Unterhaltung, sondern immer auch zur Propaganda aktiv. In den USA führte die Vietnam-Katastrophe einer breiten Masse vor Augen, was der Kriegseinsatz aus den Menschen macht, die durch die „Wehrpflicht“ zu ihm einberufen werden. Der erste Teil der „Rambo“-Filme hat sich damit auseinandergesetzt, aber auch geschickt mit einer „patriotischen“ Komponente verknüpft (die weiteren Teile waren dann nur noch Action-Propaganda).
Die Aussetzung der Wehrpflicht im Jahre 1973 war eine direkte Folge des Vietnamkriegs, der nach Auffassung mancher Militärs nicht zuletzt an der „Heimatfront“ verloren wurde. Das Bewusstsein, dass Väter, Söhne, Brüder jederzeit in den Krieg geschickt werden konnten, und die Ahnung, was dies mit ihnen macht, wurden Ende des 20. Jahrhunderts zu einem direkten Problem für die militärische Einsatzpolitik. Die Aussetzung der „Wehrpflicht“ in Deutschland 12 Jahre nach dem Kosovo-Krieg und dem anschließenden Beginn der Bundeswehr-Auslandseinsätze im amerikanischen „Krieg gegen den Terror“ hatte meiner Ansicht nach keinen anderen Hintergrund. Jedenfalls ist er sicher nicht der Einsicht fehlender ethischer Grundlage im Zwang gegen das Individuum entsprungen. Wie die immer wieder erfolgenden Vorstöße aus der Politik für einen „sozialen“ Zwangsdienst für junge Leute zeigen, gewinnt die Idee eines staatlichen Dienstzwangs für andere in einer vergreisenden, kinderarmen Gesellschaft grundsätzlich eher an Attraktivität, jedenfalls solange mit ihr keine direkte Bedrohung für Leib und Leben verbunden ist.
Als ich in den 80er Jahren meinen 15-monatigen Dienst im Rahmen der „Wehrpflicht“ der Bundeswehr tat, war letztlich jeder Rekrut – inklusive Familienangehöriger – gezwungen, sich mit der Perspektive des Soldaten im Einsatz mehr oder weniger auseinanderzusetzen. Nicht wenige wichen unter Inkaufnahme einer längeren Zeit anhand eines Ersatzdienstes aus, der immerhin den Vorteil bot, sich mit einer gewissen Freiheit die Dienststelle selbst suchen zu können. Doch wer den kürzeren Wehrdienst wählte, kam um eine zumindest oberflächliche Auseinandersetzung nicht herum. Unter den Umständen des Kalten Krieges zwischen Atommächten war die Stimmung unter dem Großteil der Wehrpflichtigen allerdings eher so, dass es im Kriegsfalle sowieso kein Entrinnen gab. Wenn möglich, war rechtzeitiges Abhauen nach möglichst weit weg angesagt. Solange es noch nicht so weit war, diente der Dienst der Bundeswehr der Abschreckung, auf dass der Kriegsfall möglichst nie eintrete, und war damit in einem großen Teil der Bevölkerung entsprechend akzeptiert. Mit den Auslandseinsätzen der Bundeswehr hatte sich diese Situation verändert. Damit das Volk nicht zu sehr darüber nachdenke, was mit ihren möglicherweise einzuberufenden Söhnen, Brüdern und Vätern passieren könne, hat man von Beginn an die Wehrpflichtigen von den Auslandseinsätzen ausgenommen, so dass nur der relativ kleine Kreis der Berufs- und Zeitsoldaten und deren Angehörige darüber nachdenken musste.
Ich hole deswegen so weit aus, weil ich glaube, dass diese Zusammenhänge wichtig sind, um die gedankenlose Verrohung zu verstehen, mit der die Debatte um den Ukraine-Krieg geführt wird, in der das Sterben, das Verstümmeln, Verbluten und Traumatisieren der beteiligten Soldaten, die Waisen, zerbrochenen Familien, zerstörten Lebensentwürfe, mittellosen Witwen und das ganze durch den Maschinen- und Drohnenkrieg verursachte Grauen nur eine statistische Rolle spielt. Würde man sich dieses tatsächlich vor Augen führen als das, was es individuell bedeutet, wäre die Nutzung jeder Chance für eine Waffenruhe zu Verhandlungen das überragende Gebot der Stunde. Regierungen können sich nicht ganz den Stimmungen im Volk entziehen, wenn sie eine gewisse Breite haben. Stattdessen erdreistet sich ein Bundeskanzler Scholz zu Ostern zu der Phrase „Frieden ohne Freiheit heißt Unterdrückung, ohne Gerechtigkeit gibt es ihn nicht“, um die militärische Befähigung des ukrainischen Staatsapparats zur Fortsetzung des Krieges als einzige Option und Perspektive zu rechtfertigen; als ob dieser Staatsapparat irgendetwas mit Freiheit zu tun hätte. Scholz wird sich an seinen Worten messen lassen müssen, wenn die Zeit für die Aufarbeitung der staatlichen Coronaverbrechen gekommen ist – wir werden ihn daran erinnern. Kein denkbar erzielbarer Vorteil seitens des ukrainischen Staats gegenüber der bereits 2022 vorhandenen Verhandlungsbasis für einen Friedensplan, der auf britische und amerikanische Intervention zurückgewiesen wurde, wird für einen ukrainischen Soldaten sein eigener Tod, sein zerstörtes Leben, seine körperliche oder seelische Verstümmelung wert gewesen sein, soviel ist sicher.
Doch diese Perspektive existiert nicht im öffentlichen Bewusstsein, oder nur in sehr geringem Maße. Sonst käme ein deutscher Bundeskanzler nicht mit einer solchen selbstgerechten, unverschämten Äußerung ohne medialen Aufschrei davon. Täglich wird in den Kommentaren beschworen, wie nahe der Krieg in der Ukraine sei. Doch das persönliche Empfinden der Masse ist ein anderes. Er ist so nahe wie alles, was über den Bildschirm kommt: Es reicht zum Gruseln und für ein paar diffuse Ängste, die einen den vermeintlichen Wert einer Regierung schätzen lassen, die sich darum kümmert. Sterben müssen nur die anderen, zu denen man keinen persönlichen Bezug hat; andere werden verstümmelt und ihre Existenz zerstört. Die Behauptung, die ukrainischen Soldaten würden für „unsere Freiheit“ kämpfen und sterben, ist dabei an verlogener Heuchelei und Bösartigkeit nicht zu überbieten. Da ist es nicht mehr als recht und billig, dass wir uns „solidarisch“ zeigen und zulassen, von unserer Obrigkeit geplündert zu werden, um die Sache am Laufen zu halten. Wenn es dann Zeit ist, kollektives Mitleid für die Folgen zu zeigen, an denen ausschließlich andere schuld sind, darf man dann auch nicht abseits, sondern muss freudig bereitstehen – Prominente werden sich in einer Kampagne präsentieren –, um sich Mittel abpressen zu lassen, die wiederum die den Staat lenkende Oligarchie nach ihren Klientelinteressen in korrupte Strukturen verteilt. Aber das wird alles ganz weit wegbleiben.
Oder nicht?
Quellen:
Make love not law: Kriegstüchtig (eigentümlich frei)
Scholz: Ostern 2024 – Über Frieden in schwierigen Zeiten (bundesregierung.de)
Kommentare
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