05. April 2024 08:00

Libertäre Psychologie – Teil 7 Ludwig von Mises: Grundzüge des menschlichen Handelns

Die Freiheit lebt

von Stefan Blankertz

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Bildquelle: StunningArt / Shutterstock Keine bloße Reiz-Reaktions-Maschine: Mensch hat die Freiheit zu wählen

Der Ökonom Ludwig von Mises, ein Psychologe? Wir werden sehen. Trug sein Hauptwerk noch den schlichten deutschen Titel „Nationalökonomie“ (1940), wurde daraus in der amerikanischen Übersetzung (1957) „Human Action“, während die Ökonomik in den Untertitel verbannt wurde und der regionale („nationale“) Aspekt ganz entfiel. Es ging Mises um nicht weniger, als ein Set von allgemeingültigen Gesetzmäßigkeiten des menschlichen Handelns zu formulieren. Als Kantianer wusste er, dass Gesetzmäßigkeiten niemals aus rein empirischer Betrachtung erwachsen können. Wenn in der Vergangenheit, empirisch gesehen, ein Ereignis immer auf ein anderes gefolgt ist, bedeutet dies nicht, dass das in Zukunft so bleiben muss. Empirische Regelmäßigkeiten stellen sich auch fast nie als „immer“ oder „nie“ dar, sondern als mehr oder weniger wahrscheinlich. Eine Gesetzmäßigkeit muss sich zwar empirisch nachweisen lassen, hat aber ihre Erkenntnisquelle nicht in der Empirie. Alle Erkenntnis hebe mit der Erfahrung an, komme aber nicht aus ihr, stellte Kant fest. Eine Gesetzmäßigkeit muss auf einem logisch hergestellten Zusammenhang beruhen. Das Set von Gesetzmäßigkeiten (oder logischen Zusammenhängen), das Mises zu ermitteln versuchte, nannte er „Praxeologie“: die Lehre davon, welche Gesetzmäßigkeiten die „Praxis“ (ein anderes Wort für Handeln) bestimme.

Ein logischer Zusammenhang ergibt sich zum Beispiel daraus, dass wir von „Handeln“ dann (und nur dann) sprechen können, wenn der Handelnde die Entscheidung trifft, mit dem Handeln zu beginnen, um ein spezifisches Ziel zu erreichen. Eingeschlossen in diesen logischen Zusammenhang ist zweierlei: Zum einen bedeutet Handeln, dass das Ziel nicht von allein eintritt; es erfordert Handeln, also Anstrengung, weil auf dem Weg der Zielerreichung kleinere oder größere Hindernisse zu überwinden sind. Dies war ja auch genau die Aussage, die der Gestaltpsychologe Kurt Lewin (Teil 4 der Serie) machte, nämlich dass dem Verhalten immer eine Umgehungstendenz innewohne, die Tendenz, Hindernisse zu umgehen (überwinden) zu wollen. Hier ergibt sich bereits eine Überschneidung mit der Psychologie – jedenfalls mit der Form der Psychologie, wie Lewin sie vertrat.

Zum anderen impliziert der Begriff des Handelns die Voraussetzung, dass der Mensch handeln, also entscheiden könne und nicht nur automatisch auf Reize reagiere (die Auffassung des Menschen als bloß automatische Reaktionsmaschine auf Reize hatte der Behaviorismus formuliert, siehe Teil 3 der Serie). Unglücklicherweise nannte Mises (und später auch sein Schüler Rothbard) diese Voraussetzung ein „Axiom“, das „Axiom des Handelns“, so als sei sie eine willkürliche Setzung wie bestimmte Axiome in der Mathematik. Doch lässt sich die Voraussetzung des Handelns indirekt durch den Test auf einen „performativen Widerspruch“ (Widerspruch in sich selbst) beweisen. Denn wenn mir jemand beweisen wollte, dass es kein Handeln, sondern nur automatische Reaktionen auf Reize gebe, so muss er sowohl voraussetzen, dass seine eigene Auffassung keine bloß automatische Reaktion auf einen Reiz sei (er muss in der Lage sein, seine Auffassung frei zu wählen) als auch, dass ich in der Lage sei, auf seine Auffassung mehr als nur in Form einer bloß automatischen Reaktion zu antworten (ich muss meine Meinung frei bilden können). In einer Welt von bloß automatischen Reaktionen gibt es nicht nur kein Handeln, sondern auch kein Beweisen (denn das Beweisen ist eine Form des Handelns). Über diese an Kant angelehnte Logik hinaus hatte der Gehirnforscher Kurt Goldstein (Teil 5 der Serie) den Einwand gegen den Behaviorismus formuliert, dass ein Reiz niemals isoliert erfolge, sondern immer in einem komplexen Zusammenhang mit weiteren Reizen auftrete, aus denen der Organismus jeweils eine Auswahl treffe. Dieser Einwand ist teils logisch, teils empirisch. Empirisch ist er insofern, als eine Welt, in der immer nur ein Reiz auf einen Organismus trifft, vielleicht denkbar wäre (wenn auch schwerlich), aber nicht gegeben ist. Logisch ist er insofern, als unter der Bedingung der realen Welt mit ihrer Vielfalt an Reizen das Treffen der Auswahl, mit welchen der Möglichkeiten sich der Organismus befasse, notwendig ist.

Die Ökonomik, von der Mises herkam, schränkte traditionell die Betrachtung der Zielerreichung auf materielle, bisweilen gar auf monetäre Güter ein und tut dies bis heute weitgehend noch. Mises bekämpfte diese Sichtweise. Jemand kann beispielsweise eine Arbeit tun, die weniger Einkommen generiert als eine andere, zu der er in der Lage ist, die ihm aber weniger Freude bereitet. Jemand kann ein Produkt herstellen und verkaufen, das ihm weniger Gewinn bringt als ein anderes, das er auch produzieren könnte, das ihn aber weniger interessiert. Mises sprach hier von „psychischem Einkommen“. Das Einkommen setzt sich zusammen aus materiellen und immateriellen Gütern, und die Zusammensetzung des angestrebten Einkommens richtet sich nach der psychischen Verfassung des Handelnden. Die Optimierung des materiellen Einkommens muss nicht das Hauptziel des Handelns sein, ist es übrigens auch in den seltensten Fällen (eine empirische Aussage!). So gesehen ergibt sich auch von Mises’ Seite aus eine Überschneidung mit der Psychologie.

Da die Ökonomik laut Mises über die Zielsetzungen des Handelns selber nichts aussagen könne, sondern nur über die Logik des Handelns, um (beliebige) Ziele zu erreichen, postulierte er neben der Ökonomik eine zweite Säule der Praxeologie: die Thymologie. Der Begriff leitet sich ab vom griechischen „thymos“ (Zorn) und verweist auf eine vor-psychologische Gemütslehre. Ich vermute, dass Mises den Begriff Psychologie vermeiden wollte, weil eine exakte Abgrenzung von der Ökonomik nicht möglich ist, sondern einen Begriff finden wollte, der sich auf die Untersuchung der Zielsetzungen beschränkt. Ob eine solche Untersuchung praxeologisch in Mises’ Sinne vorgehen könnte, bleibt allerdings offen.

Der Praxeologie – Mises’ Ökonomik und Lewins Psychologie – wohnt ein klarer Hang zum libertären Denken inne. Jeder Versuch, das Zusammenleben der Menschen mittels einer durch Staatsgewalt erzwungenen Ordnung optimal zu gestalten, scheitert an der Umgehungstendenz des Verhaltens (Lewin) oder Handelns (Mises). Indem die Menschen versuchen, ihre Ziele trotz und gegen die von der Staatsgewalt erzwungene Ordnung zu erreichen, entstehen Nebenwirkungen, die, je größer die Gewalt, um so katastrophaler werden, da auf die größere Gewalt auch die größere Gegengewalt folgt. Die Menschen sind in viel geringerem Maße manipulier- und steuerbar, als es für eine durch Gewalt optimierte Ordnung erforderlich wäre; sie sind eben keine Reiz-Reaktions-Maschinen. Und dies ist die gute Botschaft, sowohl der Ökonomik als auch der Psychologie: Die Freiheit wird nicht sterben, sie ist im Handeln, im Menschsein inbegriffen. Man kann sie quälen, aber nicht töten.


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