12. April 2024 08:00

Wilhelm Reichs Massenpsychologie des Faschismus – Teil 1 Die Staatsidee ist reaktionär

Zur Aktualität des Psychoanalytikers Reich

von Stefan Blankertz

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Bildquelle: Flickr Wilhelm Reich, 1946: „Ich für meinen Teil lehne einen Kampf um Macht, um mein Wissen aufzudrängen, ab“

Diese Serie ist eine Notwehr gegen die um sich geifernde Vorstellung nicht nur in der Politik, vielmehr auch in der Therapie und sogar in der Poesie, dass immer mehr Staat und immer weniger Freiheit gegen Faschismus feiten. Der österreichische Arzt, Psychoanalytiker und Pionier der Sexualforschung Wilhelm Reich (1897–1957) ist darum ein so guter Zeuge gegen diesen Glaubensirrtum, weil er selber den Weg gegangen ist – den Weg vom Anbeter des Staats zu seinem Skeptiker. Als er 1933 seine „Massenpsychologie des Faschismus“ schrieb, war er Mitglied der Kommunistischen Partei Deutschlands (KPD), die ihn aufgrund dieses Buches aus der Partei ausschloss. Wir werden noch sehen, warum das so konsequent wie dumm war. Von da an galt Wilhelm Reich den Kommunisten in aller Welt als Renegat und als Freiwild. 1946 brachte Reich im amerikanischen Exil eine überarbeitete Fassung heraus. Inzwischen hatte die Erfahrung ihn zum Antikommunisten gemacht. Es gibt, um Kommunismus, Faschismus und den Beitrag der parlamentarischen Demokratie dazu zu verstehen, kaum eine spannendere Lektüre als diese beiden Fassungen.

Historisch wird Faschismus immer uninteressanter, weil eine vergangene Ursache, je weiter sie zurückliegt, umso weniger wirkt. Und eigentlich wurde über Faschismus in historischer Hinsicht bereits alles oder sogar mehr als alles über ihn gesagt.

Aber er bleibt aktuell; denn der Vorwurf, die jeweilig andere Seite sei faschistoid, beherrscht die deutsche politische Szene wie eh und je, und nicht nur die. Für die einen ist ein Faschist oder ein Nazi, wer sich der gerade herrschenden öffentlichen Auffassung widersetzt, zum Beispiel Rassisten wie Antirassisten, Antifeministen wie Feministinnen, Antisemiten wie Philosemiten, Kollektivisten wie Individualisten, Reaktionäre wie Liberale, Nationalisten wie Globalisten, sie alle werden in einen Topf geworfen, einmal verrührt und mit dem Label „Populisten“ behängt, denn sie kommen immer besser beim Volk an, genau wie damals. Und damit sind wir schon mitten im Thema der „Massenpsychologie“. Denn diese verbissenen Verteidiger des Bestehenden, die sich anders als damals die einzig wahre Linke zu sein dünken (damals waren sie die Konservativen), fragen sich genau wie damals nicht, warum die anderen beim Volk besser ankommen als sie selber. Vielmehr regen sie sich bereits auf, wenn man, statt „Nazis“ abzukürzen, die Eigenbezeichnung von damals voll ausspricht und „Nationalsozialisten“ sagt. Denn „Sozialisten“, das sind doch die Guten, die dürfen nicht beschmutzt werden. Dass man nicht besser dastünde, wenn man sich auf die Seite der Gegner der Nationalsozialisten stellt, der Bolschewisten mit ihrem Josef Stalin an der Spitze, ist dem historischen Vergessen anheimgefallen.

Jene als „Faschisten“ gebrandmarkten (Rechts-) Populisten werfen den „linken“ Verteidigern des Bestehenden nun ihrerseits vor, faschistische oder Nazi-Methoden anzuwenden. Politische und religiöse Intoleranz, Diffamierung, Denunziation, Behinderung der Meinungsfreiheit und Zensur, Ausschluss aus der Öffentlichkeit, ja auch Angriffe auf Sachen wie auf Menschen gehören zu den Methoden, die hier namhaft gemacht werden. Teilweise rechtfertigen sie mit den Angriffen der Gegenseite, nun ihrerseits legitimiert zu sein, derartige Methoden in Anschlag zu bringen. Indem sie die Gegenseite als „faschistisch“ charakterisieren, machen sie jedenfalls deutlich, dass sie selber sich durchaus nicht als Faschisten begreifen, sondern stilisieren sich, ganz im Gegenteil, zu den wahren Antifaschisten. Wenige greifen auf echte faschistische Traditionen zurück, und bloß ganz krasse Außenseiter ohne jedes erkennbare Potenzial zum Populismus bekennen sich offen zu Adolf Hitler. Denn heute schreckt er so sehr ab, wie er damals anzog; negativer Populismus sozusagen.

Als Schnittmenge einer Definition dessen, was „Faschismus“ sei, die bei beiden Seiten der aktuellen Debatte im Zentrum steht, lassen sich Intoleranz und politische Gewalt bestimmen. Auf diesen Punkt gebracht, wird es allerdings ziemlich schwer, den Faschismus von der ganz normalen Politik ganz normaler Staaten zu differenzieren, auch der Staaten, die sich selber als „demokratisch“ und „pluralistisch“ bezeichnen. Oft stößt die Identifizierung, dass Gewalt jedem Staat zugrunde liege, auf Unverständnis. Jedoch hebt das Grundgesetz damit an zu beteuern, alle Staatsgewalt gehe vom Volke aus. Ist Gewalt, die vom Staat ausgeht, etwa keine Gewalt? Und heißt doch Gewalt! Was unterscheidet die Staatsgewalt von anderer Gewalt? Dass das Volk zustimmt. Was unterscheidet das Volk von der Masse? Egal, wie diese Fragen beantwortet werden, es zeigt sich, dass die Unterschiede zum Faschismus gradueller, nicht prinzipieller Natur sind.

„Der politische Reaktionär unterscheidet sich vom echten Demokraten grundsätzlich durch seine Stellung zur Staatsgewalt. Der Reaktionär fordert typischerweise die Macht des Staates über die Gesellschaft; er fordert die ,Staatsidee‘“, schrieb Reich 1946. Nur die Ablehnung von Staatsgewalt hat laut Wilhelm Reich das Anrecht, sich „demokratisch“ zu nennen, nicht der Gebrauch derselben.

Wenn die Verteidiger des Bestehenden so unverhohlen mit der Nazi-Keule zuschlagen, verkennen sie, auf welch dünnem argumentativen Eis sie sich bewegen. Der Zusammenhang von Faschismus und Demokratie ist stärker, als ihnen lieb sein kann. Damit sind ihre politischen Gegner nicht exkulpiert, weil auch sie auf der Klaviatur der Massendemokratie spielen, deren Faschismusanfälligkeit weder historisch noch aktuell ernsthaft bestritten werden kann.

Dennoch glaubt gerade die Opposition – sei es die gegen den Krieg, sei es die gegen anderen Irrsinn der Politik –, dass sie umso nachdrücklicher auf Demokratie drängen müsse, als ob sich nicht jedes herrschende System auf die zumindest passive Duldung, wenn nicht Zustimmung der Mehrheit der Untertanen verlassen kann. Dass es eine Mehrheit gegen das System gäbe, ist eine Illusion, die die Herrschenden mit reichlich Streicheleinheiten und allerhand Geldmitteln aufrechtzuerhalten versuchen. Denn diese Illusion nutzt ihnen. Solange das Prinzip der Staatsgewalt nicht ins Fadenkreuz der Kritik gerät, droht ihnen keine Gefahr.

Wilhelm Reich musste das schmerzlich erfahren. Denn er hatte sich zu weit in die falsche Richtung hervorgewagt zu einer Zeit, in der man nur auf der einen oder der anderen Seite sein durfte, wenn man ein sicheres Leben anstrebte. Wir werden im Laufe der Serie sehen, mit welchen Aussagen und Einsichten er sich die Verfolgung eingehandelt hatte.


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