Der aufgeblähte Staatsapparat: Führen Steuersenkungen zu Steuerausfällen?
Über ein verbreitetes Klischee
von Olivier Kessler
In der politischen Debatte wird jeder Versuch, das staatliche Ausgabenwachstum zu bremsen, so dargestellt, als wäre dadurch das Überleben des Staates in Gefahr. Tatsache ist jedoch: Der Staat wird seit vielen Jahren immer größer. Betrugen die Gesamtausgaben des Bundes in der Schweiz 1990 noch 31 Milliarden Franken, sind sie bis 2022 auf rund 81 Milliarden Franken gestiegen. Das ist ein Wachstum von sage und schreibe 161 Prozent in gerade einmal 32 Jahren. Diese Aufblähung des Staatsapparates ist keinesfalls durch ein entsprechendes Wirtschaftswachstum zu rechtfertigen: Das nominale Bruttoinlandsprodukt pro Kopf stieg in derselben Periode nämlich nur von 53.181 auf 88.209 Franken, also lediglich um 65 Prozent.
Selbst unter der zweifelhaften Annahme, dass der Staatsapparat in einem ähnlichen Umfang wie die Wirtschaft wachsen sollte, sehen wir uns also mit einer überproportionalen Aufblähung konfrontiert. Dass jedes Mal, wenn gegen diese tickende Zeitbombe etwas unternommen werden soll, von „Kaputtsparen“ und „Steuerausfällen“ gewarnt wird, muss deshalb stutzig machen.
Der Begriff „Steuerausfall“ impliziert, dass das Geld, das der Staat vorher von den Bürgern wegbesteuerte, um Leistungen zu erbringen, nach der Steuersenkung auf magische Weise verschwinden würde – so, als würde das Geld von einem mysteriösen schwarzen Loch verschluckt. Steuersenkungen bedeuten jedoch lediglich, dass der Bürger einen höheren Anteil seines verdienten Einkommens selbst verwenden darf. Anstatt dass die Politik den Bürgern befiehlt, wie sie ihr hart verdientes Geld einzuteilen haben, könnten es die Menschen nach Steuersenkungen vermehrt wieder so ausgeben, sparen oder investieren, wie sie es für richtig erachten. Steuersenkungen führen also mitnichten zu irgendwelchen „Ausfällen“ oder „Verlusten“, sondern zu mehr individueller Freiheit und Selbstbestimmung.
Selbst wenn der Staat seine Steuern senkt, bedeutet dies noch lange nicht, dass dies automatisch zu Defiziten führt. Das zeigt etwa die berühmte Laffer-Kurve des Ökonomen Arthur Laffer: Werden die Steuern von einem hohen Niveau gesenkt, steigen die Steuereinnahmen. Dies zum einen, weil Unternehmern durch niedrigere Steuern einerseits wieder mehr Freiraum für produktive Tätigkeiten und Innovationen eröffnet wird, was zu mehr Arbeitsplätzen, höheren Einkommen und damit auch zu höheren Steuereinnahmen führt. Andererseits werden die Bürger mit sinkender Steuerlast weniger Zeit dafür aufwenden und weniger Steuerexperten konsultieren, um Steuern zu optimieren, weil die Last als ertragbarer, fairer und daher akzeptabler angesehen wird.
Steuersenkungen führen auch nicht dazu, dass gesellschaftlich gewünschte Leistungen plötzlich nicht mehr angeboten werden. Selbst wenn Entstaatlichungsschritte in Form von Privatisierungen durchgeführt würden, bedeutet das nicht, dass nachher niemand mehr diese Dienstleistungen erbringen würde und die Leute darauf verzichten müssten. Es gibt immer Alternativen zum Staat. Vielmehr werden Aufgaben, die den Bedürfnissen der Menschen entsprechen, dann von Privaten erbracht. Unternehmer sind laufend damit beschäftigt, die Nachfrage der Konsumenten zu analysieren und entsprechende Angebote zu deren Befriedigung zu offerieren.
Werden die Leistungen, die zuvor vom Staat angeboten wurden, neu von Privaten erbracht, steigt die Qualität, während die Preise tendenziell sinken. Dies aufgrund des Erfordernisses des Gewinns und der Restriktion des Verlusts sowie wegen des Wettbewerbs, der die Leistungserbringer zu Hochleistungen antreibt. Wer zu teure oder schlechte Produkte anbietet, muss besseren Konkurrenten weichen und scheidet aus dem Markt aus.
Staatliche Defizite entstehen nicht in erster Linie aufgrund von Steuersenkungen, sondern aufgrund übertriebener und unnötiger Ausgaben. Das zeigt sich daran, dass sich die Defizite ohne Ausgabenbremse selbst in Zeiten stark steigender Steuereinnahmen vergrößern. Das liegt unter anderem an der Logik der Bürokratie, bei der kein Gewinnerfordernis und entsprechend auch keine Anreize für einen sparsamen Umgang mit Ressourcen bestehen. Außerdem wird das Geld anderer Leute leichtsinniger ausgegeben als das eigene.
Auch das Parkinson’sche Gesetz trägt zur fortlaufenden Staatsaufblähung bei. Die wichtigste Erkenntnis aus diesem, auf den britischen Wirtschaftswissenschaftler und Historiker Cyril Northcote Parkinson (1909–1993) zurückgehende Gesetz ist, dass es in Verwaltungen keinen eigentlichen Zusammenhang gibt zwischen der zu erledigenden Arbeit und der Zeit, die dafür aufgewendet wird. Es gibt in Bürokratien folglich keinen Zusammenhang zwischen dem Arbeitsaufwand und der Anzahl der dafür zuständigen Angestellten. Denn: Arbeit lässt sich grundsätzlich beliebig ausdehnen, um die verfügbare Zeit auszufüllen. Dies gilt erst recht für Büroarbeit, die an Bedeutung und Komplexität gewinnen kann, je mehr Zeit man für sie verwenden darf. Gemäß dem Parkinson’schen Gesetz muss sich also der Mangel an echter Tätigkeit nicht notwendig in auffälligem Nichtstun oder in Ablenkungen wie Zeitunglesen oder Solitärspielen auf dem Computerscreen offenbaren. Im Gegenteil: Müßiggang erhöht oft völlig unnötig und inflationär das Arbeitspensum für noch so kleine Aufgaben. Parkinson veranschaulicht diesen Tatbestand humorvoll mit einem Alltagsbeispiel, das sich allerdings auch auf die Bürokratie übertragen lässt: „So verbringt eine alte Dame ohne Beruf ihren ganzen Tag damit, eine einzige Postkarte an ihre Nichte in Oberammergau zu schreiben und abzuschicken. Eine Stunde vergeht mit der Suche nach der Postkarte, eine weitere mit der Suche nach der Brille, eine halbe, bis die Adresse gefunden ist. Es folgen fünfviertel Stunden, die der Komposition des Schriftstückes gewidmet werden, zwanzig Minuten für die wichtige Entscheidung, ob man für den Weg zum Briefkasten an der nächsten Ecke einen Schirm mitnehmen soll oder nicht. Kurz und gut, eine Arbeit, die einen geschäftigen Mann nicht länger als insgesamt drei Minuten beansprucht, kann bei andersgearteten Personen das Gefühl völliger Erschöpfung nach einem Tagewerk voller Zweifel, Angst und Mühen hinterlassen.“
Die staatliche Verwaltung ist für die grenzenlose Elastizität der Arbeit besonders anfällig, weil hier die Disziplin des Marktes – das heißt der Maßstab der Rentabilität und die Signale der freien Preisbildung – außer Kraft gesetzt werden. Es ist daher ein Grundgesetz, dass staatliche Ämter hochineffizient und verschwenderisch arbeiten, wenn keine systematische Korrektive eingesetzt werden. Dies ist umso mehr der Fall, wenn sich die Steuereinnahmen des Staates durch wachsende Wirtschaftsproduktivität, höheres Wirtschaftswachstum und steigende Bevölkerungsanzahl automatisch und ohne Not erhöhen, was ständig größere Budgets und Belegschaften ermöglicht. Aus diesen Gründen wären institutionelle Mechanismen für regelmäßige Steuersatzsenkungen neben Ausgaben- und Schuldenbremsen nötig.
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