19. April 2024 08:00

Wilhelm Reichs Massenpsychologie des Faschismus – Teil 2 Die Läuterung eines Kommunisten

Ein klassischer Fall von Genie und Wahnsinn

von Stefan Blankertz

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Bildquelle: Gulpen / Wikimedia Orgon-Energie-Akkumulator – entworfen auf der Grundlage von Wilhelm Reichs Hypothesen: Tatsächlich nur „Spinnerei“?

Als Arzt entdeckte Dr. Wilhelm Reich in den 1920er Jahren die Psychoanalyse Sigmund Freuds, denn ihm war klar geworden, dass viele Leiden der Patienten keine körperlichen, sondern psychische Ursachen haben. Und als Psychoanalytiker entdeckte er, dass die psychischen Störungen oft nicht im Individuum oder in seinem unmittelbaren Umfeld wurzeln, sondern in weit größeren gesellschaftlichen Zusammenhängen.

Die Nahtstelle von Körper, Psyche und Gesellschaft war für Reich die Sexualität. Sexualität und Liebe als die Grundbedürfnisse und als Hauptquellen für ein glückliches Leben haben eine ebenso körperliche wie psychische Seite, die nicht ohne Verlust des Lebensglücks voneinander getrennt werden können; sie stehen unter strikter gesellschaftlicher Kontrolle durch Gesetze, die die Staatsgewalt erlässt, sowie Normen, Sitten und Tabus, die sozialer Natur sind. Heute noch, nach der „sexuellen Revolution“ der 1960er Jahre, bleibt Sexualität weiter nur „Nebensache“. Es ist bemerkenswert, dass das, was biologisch gesehen Garant des Fortbestehens der Menschheit ist, nie zur sozialen Hauptsache erklärt werden darf, ohne gleich das Geschrei auszulösen, man reduziere den Menschen unzulässigerweise auf Biologie. Dass ein wesentlicher Antrieb zur Arbeit nicht nur die Produktion von Nahrung für die Erhaltung des Einzelindividuums ist, sondern vor allem die Produktion oder der Erwerb von Dingen, die der Attraktion von (Sexual-) Partnern dienen, unterliegt einem gespenstischen Tabu. Die perverse Koppelung von „sex  and crime“ ist akzeptierter als jede Form natürlicher, befriedigender Liebe.

Bis heute wird Wilhelm Reich als der angeprangert, der den Ausschweifungen die Stange gehalten habe. Dagegen schrieb er 1946: „Viele krankhafte Äußerungen im späteren Geschlechtsleben, wie wahllose Partnerwahl, sexuelle Unrast, Neigung zu pathologischen Ausschweifungen et cetera, leiten sich gerade aus der Hemmung der orgastischen Erlebnisfähigkeit her.“ Damit hat er Ausschweifungen als Folge der Sexualunterdrückung präzise analysiert. Wie diese Verwechselung notwendig entstehen muss, wusste Reich nur zu gut; sie ist die „emotionelle Pest“. Dass Wilhelm Reich Leben und Freude der Menschen auf Sexualität beschränkt habe, ist dagegen eine bloße Unterstellung. Der Slogan aus seinen letzten Jahren macht dies deutlich: „Liebe, Arbeit und Wissen sind die Quellen unseres Lebens. Sie sollten es auch beherrschen.“

Psychologie, und speziell die Psychotherapie, beschäftigt sich vornehmlich mit der Psyche einzelner Menschen und deren Handeln in kleinen, überschaubaren Gruppen wie Familie oder Arbeitsteam. Die „Masse“ kommt gegebenenfalls vor als ein Gruppendruck, dem der Einzelne ausgesetzt ist und dem er sich beugt oder widersetzt. Aber hat die Masse eine eigene Psyche? Handelt sie? Oder lässt sie sich wiederum von Einzelnen steuern oder manipulieren? Von Organisationen wie etwa den politischen Parteien? Von gesellschaftlichen „Agenturen“ wie etwa den Medien? Oder wird sie von spontanen Bewegungen beherrscht, die ihrer eigenen Logik folgen und gerade eben nicht – jedenfalls nicht unmittelbar und präzise geplant – steuerbar sind? Eventuell treffen auch all diese Möglichkeiten zu, in verschiedenen Misch- und Abstufungsformen, was die Analyse auf jeden Fall noch komplizierter werden lässt.

Ohne Massenpsychologie ist dem Faschismus sowie seinem kleinen Bruder, dem rechten oder auch linken Populismus, nicht beizukommen. Obwohl hinter der Entscheidung eines Wählers für eine faschistische oder populistische Partei ökonomische oder soziale Interessen auszumachen sind, erklärt dies noch nicht, warum die Wähler Politikern Glauben schenken, die offensichtlich Widersprüchliches oder Unmögliches versprechen oder offensichtliche Lügen gebrauchen. Doch auch hier gilt es zu bedenken, dass Widersprüchlichkeit oder Unmögliches ebenso wie Lügen zum Alltag der realen Demokratien gehört. Auch hier ist die Differenz zu Faschismus und Populismus nicht grundsätzlicher, sondern eher gradueller Natur.

Der Alltag der Demokratien bereitet die Massen auf Faschismus und Populismus vor. Damit forciert er zugleich auch die Tendenz zu Faschismus und Populismus, indem er es so erscheinen lässt, als seien Parteiengezänk und -egoismus die Ursachen der Krise und nicht vielmehr grundsätzlich die Tatsache, dass die Staatsgewalt, egal, wie sie politisch organisiert ist, das freie Handeln der freien Menschen (das freie Handeln freier Menschen nannte Wilhelm Reich ab ungefähr 1943 „Arbeitsdemokratie“) behindert und damit ihre Fähigkeit unterläuft, mit Krisen- und Gefahrensituationen zurechtzukommen. Indem sie den Alltag in der Demokratie mit dem freien Handeln freier Menschen verwechseln, entsteht bei den Massen das Gefühl, die Freiheit selber sei die Ursache ihrer Probleme, und sie finden sich dazu bereit, den Liberalismus zum Hauptfeind zu küren – damals wie heute.

Zunächst einmal ist Wilhelm Reich nicht schwer zu lesen oder zu verstehen. Er schreibt in einem klaren, einfachen Stil, weitgehend frei von psychologischem oder soziologischem Fachjargon; denn er wendet sich gern auch an „den kleinen Mann“, an die Arbeiter. Dennoch bleibt er, zumindest heute, ein schwieriger Autor. Die Beschäftigung mit ihm bedarf einer Rechtfertigung. Wilhelm Reich endete im Irrsinn. Paranoia ist gewiss (obwohl sie einen Kern von Wahrheit enthielt, denn schließlich wurde er tatsächlich verfolgt), vielleicht litt er auch an Schizophrenie (sofern die von ihm postulierte „Orgon-Strahlung“ keine Tatsache ist, sondern nur eine Einbildung). Seine Theorie einer frei verfügbaren Lebensenergie, die er „Orgon“ nannte und mit der er den zweiten Hauptsatz der Thermodynamik außer Kraft setzen wollte, ist zwar bis heute weder bestätigt noch widerlegt (unter anderem darum, weil Beamte der „Food and Drug Administration“ sein Labor zerschlagen ließen, weshalb wichtige Versuchsaufbauten nicht zu rekonstruieren sind); doch dass er meinte, mit akkumuliertem Orgon das Wetter beeinflussen und sogar Ufos abschießen zu können, gehört sicherlich ins Reich der Phantasie. Wie auch bei anderen der Umnachtung anheimgefallenen Denkern stellt sich mithin bei der Lektüre begleitend die Frage: Was gehört der Wahnwelt an, was hingegen ist ernst zu nehmen?

Die „Massenpsychologie des Faschismus“ kam erstmalig 1933 heraus, was bedeutet, dass Wilhelm Reich das Buch zu einer Zeit geschrieben hat, als sich einerseits der Sieg des Faschismus in Deutschland (un(?)-) aufhaltsam abzeichnete, er selber andererseits noch Mitglied der Kommunistischen Partei Deutschlands (KPD) war. Dort war er nicht unumstritten, denn er stritt für die Reform der Sexualmoral, die nicht allen Genossen geheuer war. Allerdings hatte er eine gute Gefolgschaft unter den Arbeitern und betrieb seine sexualtherapeutischen Beratungsstellen. Im Jahr 1933 war Josef Stalin bereits etliche Jahre an der Macht. Zuvor hatten Lein und Trotzki die anarchistische und rätekommunistische Opposition eliminiert. In der Ukraine wütete eine Hungersnot („Holodomor“), die die stalinistischen Zwangskollektivierungen ausgelöst hatten. Nichtsdestotrotz glaubte Wilhelm Reich bis zu diesem Punkt an die Segnungen des Bolschewismus, an Lenins heilsbringende Wirkungen. Doch die KPD hatte 1933 nichts Besseres zu tun, als Wilhelm Reich aufgrund der „Massenpsychologie des Faschismus“ wegen Konterrevolution aus der Partei zu werfen und dem Abtrünnigen in der Folgezeit überall, wohin es ihn bei seiner Odyssee des Exils verschlug, nachzustellen. Denn dieser Autor warf die Frage auf, was die Kommunisten falsch gemacht hätten. Zweifellos müssten sie, so überlegte Reich, irgendetwas falsch gemacht haben, weil nun mal nicht sie als Bannerträger der richtigen Sache siegten, wie ihre Theorie es ohne Wenn und Aber verlangte, sondern die reaktionären Kräfte. Allein die Frage roch bereits nach Verrat. Und dann erst die Antwort: Die Kommunisten hätten vergessen, dass es nicht um abstrakte Ökonomie zu tun sei, vielmehr um das Leben der Menschen, um Freude, ja, vor allem um die Sexualität, die unter dem herrschenden Regime so grausam verstümmelt werde und sich in allerlei Perversionen Bahn breche, etwa in kollektiven Gewaltphantasien.

Aber Reich blieb bei dieser Fragestellung und dieser Antwort nicht stehen. Zunehmend zweifelte er sogar an der Ernsthaftigkeit, mit der die (Staats-) Kommunisten nach dem glücklichen Leben für die Masse der Menschen strebten. In der Sowjetunion kam es Mitte der 1930er Jahre zu einer reaktionären Wende auch in der Familien- und Sexualpolitik. Die Koedukation wurde abgeschafft, Abtreibung erneut unter Strafe gestellt und so weiter und so fort. Dieses „Weg vom Kommunismus!“ zeichnet sich besonders in der Bearbeitung der „Massenpsychologie des Faschismus“ 1946 ab. Hier, inzwischen im amerikanischen Exil, notiert er zum Beispiel: „Die russischen Kommunisten waren von der Bejahung des Sexuallebens weiter entfernt als irgendein amerikanischer Mittelständler.“ Es ist erhellend, den inneren Kampf Wilhelm Reichs nachzuverfolgen und ihn zu analysieren.

Nicht allein in dieser politischen Hinsicht lohnt es sich, Reich heute zu studieren. Denn neben den marxistischen Kommunisten sind auch die Verfechter der sexuellen Revolution in den 1960er Jahren, die sich zumindest teilweise auf Wilhelm Reich bezogen, gescheitert. Zugebenermaßen haben sie zwar einiges erreicht, summa summarum die Gefahr des Faschismus jedoch nicht gebannt und zu neuen Formen der Sexualfeindlichkeit beigetragen, die sich durch eine Flut von Eingriffen der Staatsgewalt in intimste Bereiche ausdrückt. Hier müssen wir „mit Reich gegen Reich“ argumentieren.


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