21. Mai 2024 16:00

Besitzergreifendes Fürwort „Unsere“ Demokratie

Aussagekräftige Klarstellung mit Hilfe eines unscheinbaren Possessivpronomens

von Christian Paulwitz

von Christian Paulwitz drucken

Artikelbild
Bildquelle: Shutterstock Demokratie als Farce: Herrscher immunisieren sich mittels peinlicher Rhetorik

Kaum ein politischer Begriff ist heute im Grundton so positiv besetzt wie die Demokratie. Wer würde es heute schon wagen, sich dazu zu bekennen, kein Demokrat, oder sogar ein Anti-Demokrat zu sein? Wenn es ein Begriff geschafft hat, in der öffentlichen Wahrnehmung so durchgehend positiv wahrgenommen zu werden und über jeder Kritik zu stehen, so dass sich jeder mit ihm identifizieren will, ist eine wachsende Unschärfe seiner Bedeutung bis hin zur Beliebigkeit in der Anwendung eine folgerichtige Entwicklung.

Nach dem begrifflichen Ursprung im antiken Griechenland wird Demokratie im Allgemeinen als Herrschaft des (Staats-)Volkes verstanden. Basierend auf kleinen Einheiten kamen die dazu berechtigten, somit den Staat tragenden Bürger – also nicht alle Menschen, die auf dem Gebiet lebten – zusammen, um über die öffentlichen Angelegenheiten zu diskutieren und in Abstimmungen zu entscheiden. Da das Recht als über Generationen gewachsenes Wissen und Gebräuche nicht als gesetztes und jederzeit änderbares Regelwerk galt, stand es unabhängig von Mehrheitsentscheidungen als gegeben fest, und es bedurfte anerkannter, weiser Menschen, um es zur Auflösung von Konfliktfällen anzuwenden.

In der Neuzeit war die Wiederbelebung des Demokratiegedankens letztlich die Lösung für das Problem der staatlichen Herrschaftsbegründung im sich verändernden Menschenbild seit der Renaissance. Mit der wachsenden Bedeutung des Individuums als frei und eigenverantwortlich handelndes Subjekt verloren Herrschaftsbegründungen, die aufgrund des Zufalls der Geburt den einen Menschen Herrschafts- und damit Eigentumsrechte über andere einräumten, an Akzeptanz. Die Lösung des Staates war nicht, den Menschen die Fähigkeit und Möglichkeit zur Selbstherrschaft zuzugestehen, sondern diese nur über ein konstruiertes Kollektiv vorzuspiegeln. In der „repräsentativen Demokratie“ wurden zudem nicht über die Angelegenheiten selbst Mehrheitsabstimmungen abgehalten, sondern über die personelle Besetzung der Entscheidungsträger. So konnte sich der Staat als Organisations- und Herrschaftsstruktur in der Hand weniger erhalten und in großen Gebilden wachsen, während den Objekten der Herrschaftsausübung eine ethisch akzeptierte Herrschaftsbegründung gegeben werden konnte.

Im Wettbewerb der staatlichen Systeme war das durchaus ein Erfolgsmodell, solange es mit dem Menschenbild des eigenverantwortlichen Individuums einherging, der Staat sich demzufolge auf einen eng gefassten Organisationsrahmen zu beschränken hatte und darüber hinaus die Menschen weitgehend in Ruhe und sie ihre eigenen Dinge machen ließ. Zahlreiche Akteure des Staates waren ja noch von dem Menschenbild der Eigenverantwortung mitgeprägt worden. Das ist der Hintergrund, vor dem „die Demokratie“ ihre hohe Akzeptanz erworben hatte. Bis in unsere Zeit liegen die aus den europäischen Kulturen hervorgegangenen demokratischen Staaten, zu denen die USA, Kanada, Australien und Neuseeland auch zu zählen sind, an der Spitze des Pro-Kopf-Einkommens ihrer Bürger, korrelierend mit der mittlerweile allerdings abnehmenden individuellen Freiheit.

Denn die relative Freiheit in demokratischen Systemen dürfte weniger diesen selbst zu verdanken gewesen sein, als dem Wert, der ihr von den Individuen ihrer Gesellschaften allgemein zugemessen wurde. Das System musste dem Freiheitswillen der Bürger gerecht werden – so ist die Ursache-Wirkungs-Abhängigkeit und nicht umgekehrt. Das Herrschaftssystem konnte sich nur über das Zugeständnis relativer bürgerlicher Freiheit erhalten; es musste sich anpassen und hat seine Herrschaft über die Menschen nur soweit ausüben können, wie es akzeptiert worden ist. Ein demokratisches System „erzieht“ seine Bürger selbstverständlich nicht zum Freiheitswillen, denn seine Akteure haben ja andere Interessen als von freiheitsliebenden Menschen ständig in die Schranken verwiesen zu werden.

Spätestens mit Beginn des 20. Jahrhunderts und der Vermassung der Gesellschaft haben die europäischen Kulturen nach und nach einen anderen Weg eingeschlagen. Die Gewalt, die von einem gelenkten Massenstrom ausgeht, hat sowohl die Herrschaftswilligen fasziniert als auch deren Herrschaftsobjekte in ihren Bann geschlagen. Das allgemeine Ansehen des Individuums hat an Wert und Respekt verloren – und es selbst an Selbstwertgefühl. Während die Masse als Mehrheitsentscheider nicht nur sich als demokratisch verstehenden, sondern auch autoritären bis totalitären Systemen als Legitimationsgeber diente, wurde sie nichtsdestotrotz von allen, die sich berufen fühlten, sie zu lenken, mehr oder weniger verachtet. Das verbindet diese Systeme, die daher stets das Potential haben, sich freiheitsfeindlicher zu entwickeln, wenn die Individuen sich dem nicht entgegenstellen, sondern es vorziehen, sich als Masse lenken zu lassen, sei es aus Ignoranz oder aus Bequemlichkeit.

„Demokratie“ wandelte sich so von einer Idee, die dem Zwecke dient, dem anerkannten Wert der Freiheit von Individuen im Vergleich zu anderen staatlichen Systemen relativ gut gerecht zu werden, zu einer reinen Herrschaftsbegründung, die als eigener Wert (miss-)verstanden werden will. Sie dient dann schließlich keinem anderen Zweck mehr, als die gegebenen Herrschaftsstrukturen abzusichern, unabhängig davon, wie diese sich in ihrer Erscheinung verändern. Die Herrschaftsobjekte haben in dieser Entwicklung das Ziel möglichst großer Freiheit zur eigenen Entfaltung gegen den Wunsch eingetauscht, möglichst „gut“ regiert und dabei abgesichert und versorgt zu werden. Das Wissen über die enge Verbindung von Freiheit und allgemeinem Wohlstand ist verlorengegangen. Daher wird die ethisch wie ökonomisch richtige Kritik des libertären Anarchismus am demokratischen Konzept, die auf der Nichtbegründbarkeit von Eigentumsrechten der einen über die anderen Menschen beruht und somit auch der Nichtübertragbarkeit solcher Rechte über Wahl- und Abstimmungshandlungen, von den Herrschaftsobjekten nicht verstanden und von der herrschaftsausübenden Klasse nicht ohne Grund als Bedrohung gesehen.

Vor diesem Hintergrund und angesichts der notwendigerweise wachsenden Enttäuschung der Massen durch die herrschaftsausübende Klasse, da diese deren Wohlstandserwartungen nicht erfüllen kann, ist die Aushöhlung des Demokratiebegriffs gerade durch diejenigen, die sich auf ihn zur eigenen Legitimation berufen, uneingeschränkt zu begrüßen. Statt ihn als Wettbewerb der Konzepte zu verstehen, die in einem Wahlwettbewerb diskutiert und sich vor dem Wahlvolk bewähren müssen, finden die richtungsgebenden Diskussionen tatsächlich in intransparenten Gremien statt, um der Öffentlichkeit schließlich und im besten Falle – begleitet von gelenkter Berichterstattung – die Ergebnisse mitzuteilen. Wer den präsentierten Narrativen nicht klaglos folgen will, sondern sie in Frage stellt und eine andere Sicht der Dinge vertritt, die andere Entscheidungen erforderten, wird als Bedrohung für die Herrschaftsausübung erkannt. Da die Herrschaftsklasse das so nicht formulieren kann, ohne ihre Legitimitätsgrundlage in Frage zu stellen, spricht sie ausweichend von einer „Bedrohung für die Demokratie“, um der Diskussion ihres Handelns und dessen Voraussetzungen zu entgehen. Sie kann nicht mehr erklären, was sie selbst unter Demokratie versteht, obwohl, oder vielleicht besser weil sie sich selbst quasi identisch mit ihr sieht. Umso weniger kann sie das freie Wort noch ertragen.

Zuletzt fügte sie zur bedrohten Demokratie zunehmend das besitzanzeigende Fürwort „unsere“ hinzu und macht damit unterschwellig deutlich, dass sie von dem System der Demokratie Besitz ergriffen hat und es für sich beansprucht. Natürlich soll das „unser“ eigentlich jovial klingen und die Adressaten der Phrase auf die eigene Seite ziehen. Doch angesichts der zunehmenden Entfremdung der Beherrschten zu den Herrschenden kommt genau das Gegenteil an: Es ist „deren“ Demokratie, diejenige der über den Staatsapparat Herrschenden, nicht die unsere. Der freie Mensch, den der Staat als Ziel von Regulierung und Ausbeutung auserkoren hat, ist eine Bedrohung nicht für „die“ Demokratie, sondern für „deren“ Demokratie. Und das ist gut und wichtig so.


Sie schätzen diesen Artikel? Die Freiheitsfunken sollen auch in Zukunft frei zugänglich erscheinen und immer heller und breiter sprühen. Die Sichtbarkeit ohne Bezahlschranken ist uns wichtig. Deshalb sind wir auf Ihre Hilfe angewiesen. Freiheit gibt es nicht geschenkt. Bitte unterstützen Sie unsere Arbeit.

PayPal Überweisung Bitcoin und Monero


Kennen Sie schon unseren Newsletter? Hier geht es zur Anmeldung.

Artikel bewerten

Artikel teilen

Kommentare

Die Kommentarfunktion (lesen und schreiben) steht exklusiv nur registrierten Benutzern zur Verfügung.

Wenn Sie bereits ein Benutzerkonto haben, melden Sie sich bitte an. Wenn Sie noch kein Benutzerkonto haben, können Sie sich mit dem Registrierungsformular ein kostenloses Konto erstellen.