Gestahlfedert: Grunzgesetz: In schlechter Verfassung
Ein paar kritische Gedanken zum Fünfundsiebzigsten
von Michael Werner
Hurra, unser Grundgesetz wird 75 Jahre, ist das nicht toll, was für eine großartige Verfassung, die ganze Welt beneidet uns darum – so schallte es in der letzten Woche aus allen Lautsprechern, so stand es in allen Zeitungen und Zeitschriften, so quoll es unisono aus den Mündern von Politikern sämtlicher Parteien, und noch nicht mal die AfD hatte was zu meckern.
Wenn alle sich so dermaßen einig sind, läuten bei mir automatisch sämtliche Alarmglocken, und ich verspüre den unbändigen Drang, die Heilige Kuh am liebsten gleich zu schlachten, oder wenigstens das eine oder andere Haar in der Festtagssuppe zu finden.
Ob die ganze Welt uns tatsächlich um dieses Grundgesetz beneidet, vermag ich weder zu bestätigen noch zu bestreiten. Im Fall von Nordkorea bin ich sogar geneigt, das im Rahmen des Vorstellbaren zu wähnen. Klar, das ist zugegebenermaßen polemisch, aber das ist mein Job hier, und ja, es hätte weitaus schlimmer kommen können, keine Frage! Allerdings wage ich zu behaupten, dass kein Amerikaner, der noch alle Murmeln beisammen hat, die US-Verfassung gegen unser Grundgesetz eintauschen würde.
Da das hier ja die Gegenstimme sein soll, möchte ich mich an dieser Stelle outen: Ich beneide die Amerikaner um ihre „Bill of Rights“, vor allem um die ersten beiden Artikel.
Der erste garantiert die uneingeschränkte Redefreiheit, indem er jedes Gesetz, das selbige einschränkt, für verfassungswidrig erklärt. Das bedeutet, dass der Staat keinerlei Möglichkeit hat, irgendwelche Meinungsäußerungen – und seien sie noch so unerträglich oder menschenverachtend – zu verbieten, zu verfolgen oder gar zu bestrafen. Typisch deutsche Straftatbestände wie Beleidigung, Verunglimpfung des Präsidenten, Verwendung verbotener Parolen oder Volksverhetzung kann es in den USA daher nicht geben. Das heißt, Sie könnten theoretisch Joe Biden jeden Morgen zackig mit „Heil Hitler, du demente Mumie“ begrüßen, ohne dafür strafrechtlich belangt zu werden. In diesem speziellen Beispiel könnte es sogar eher passieren, dass der verwirrte alte Mann freundlich zurückgrüßt.
Unser Grundgesetz widmet sich der Meinungsfreiheit erst in Artikel 5, was alles über den Stellenwert dieses elementaren Grundrechts in Deutschland aussagt. Zunächst einmal fängt es gut an: „Jeder hat das Recht, seine Meinung in Wort, Schrift und Bild frei zu äußern und zu verbreiten und sich aus allgemein zugänglichen Quellen ungehindert zu unterrichten. Die Pressefreiheit und die Freiheit der Berichterstattung durch Rundfunk und Film werden gewährleistet. Eine Zensur findet nicht statt.“ Es wäre perfekt gewesen, wenn Artikel 5 an der Stelle einfach enden würde. Dummerweise folgen noch zwei Sätze, die sich mit möglichen Einschränkungen der Meinungsfreiheit durch den Gesetzgeber befassen, und damit ist der Drops gelutscht. Entweder hat man uneingeschränkte Meinungsfreiheit – oder man darf nur Meinungen äußern, die der Staat nicht verbietet, was die Perversion von Meinungsfreiheit ist.
Juristen kontern diese Aussage mit der „Kernbereichstheorie“, also mit dem Verbot, dass einschränkende Gesetze in den Kernbereich eines Grundrechts eingreifen und es damit aushöhlen, oder eben entkernen. Das ist gut und richtig, bietet jedoch angesichts der schweren Geschütze, die Faeser, Haldenwang und Konsorten derzeit gegen die Meinungsfreiheit in Stellung bringen, nur einen schwachen Trost. Und selbst diesen auch nur für jene, die über entsprechend starke Nerven und das nötige Kleingeld verfügen, Prozesse konsequent durch alle Instanzen zu prügeln, notfalls bis nach Karlsruhe oder gar vor den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte. Ottonormalbürger hingegen hält vorsichtshalber lieber mal die Klappe, sicher ist sicher – mission accomplished!
Im Gegensatz zum ersten hat der zweite Zusatzartikel der US-Verfassung noch nicht mal ein Gegenstück im deutschen Grundgesetz: Das Recht eines jeden Amerikaners, Feuerwaffen zu tragen. Und zwar entgegen landläufiger Meinung nicht, um mit seinem Nachbarn, weil dessen Hund in den falschen Garten defäkiert hat, ein Revival der Ballerei vom O.K. Corral zu veranstalten, sondern um sich notfalls gegen einen übergriffigen, ins Totalitäre abgleitenden Staat wehren zu können. Ein Mensch, der nicht das Recht hat, sein Leben, seine Freiheit und sein Eigentum mit der Waffe zu verteidigen, ist nach amerikanischer Lesart kein freier Bürger, sondern irgendwas Humanoides auf der Stufe eines Sklaven. Hierzu ist ergänzend anzumerken, dass ein entwaffnetes und somit wehrloses Volk die Grundvoraussetzung zur Errichtung einer jeden Diktatur ist.
Damit endet der vergleichende Exkurs zur US-Verfassung und wir werfen exemplarisch noch einen kritischen Blick auf drei weitere Artikel unseres Grundgesetzes, die sich mit libertären Herzensanliegen befassen.
Artikel 14 regelt das Privateigentum. Satz 1 kommt mir derselben Masche daher wie die Meinungsfreiheit: „Das Eigentum und das Erbrecht werden gewährleistet. Inhalt und Schranken werden durch die Gesetze bestimmt.“ Das heißt im Klartext: Ja, du darfst zwar Eigentum haben und es sogar vererben, aber wir können dir nach Lust und Laune den Löwenanteil davon einfach unterm Arsch wegbesteuern.
Es kommt aber noch besser, nämlich in Satz 2: „Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich dem Wohle der Allgemeinheit dienen.“ Die sozialistische Worthülse „Allgemeinwohl“ öffnet bekanntlich Tür und Tor zu den Abgründen der ewigen Arschhölle. Wenn man Eigentum als die alleinige und uneingeschränkte Verfügungsgewalt über eine Sache versteht, dann wird diese Verfügungsgewalt durch jedwede Form einer von außen diktierten Verpflichtung beim Gebrauch der Sache eingeschränkt und damit ad absurdum geführt.
Es wäre nachvollziehbar gewesen, wenn dort gestanden hätte: „Der Gebrauch des Eigentums darf nicht zum Nachteil Dritter erfolgen.“ Mal angenommen, ich habe einen brandneuen Riesenfernseher erworben – dann drehe ich den Ton selbstredend nicht so laut auf, dass beim Nachbarn auf dem Küchentisch die Teller Tango tanzen. Aber wie genau soll der Gebrauch meines Fernsehers „zugleich dem Wohle der Allgemeinheit dienen“? Heißt das, ich muss mindestens zweimal die Woche fernsehtechnisch benachteiligte Menschen von der Straße in mein Wohnzimmer zum gemeinsamen Glotzen einladen? Und was ist, wenn ich denen dann eine Sendung mit Jan Böhmermann zeige? Wie mag eine Rechtsgüterabwägung in diesem Fall wohl ausgehen, wenn das Grundrecht auf gemeinwohlige Teilhabe an meinem Privateigentum mit dem Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit kollidiert?
Der absolute Kracher ist jedoch Artikel 15: „Grund und Boden, Naturschätze und Produktionsmittel können zum Zwecke der Vergesellschaftung durch ein Gesetz, das Art und Ausmaß der Entschädigung regelt, in Gemeineigentum oder in andere Formen der Gemeinwirtschaft überführt werden.“ Chapeau – Karl Marx hätte das nicht besser formulieren können! Wer in Deutschland eine sozialistische Kommandowirtschaft installieren will, findet hier sein juristisches El Dorado!
Ein paar Worte noch zu Artikel 13, der die Unverletzlichkeit der Wohnung garantiert: Dieser kommt gleich mit umfangreichen Einschränkungen daher. Fast jeder dürfte Verständnis dafür aufbringen, dass die Polizei eine Privatwohnung stürmt, wenn darin eine Geisel gehalten wird oder eine Gruppenvergewaltigung in vollem Gange ist. Die meisten Menschen können die Notwendigkeit einer Hausdurchsuchung auch als Maßnahme zur Beweissicherung für derartige oder ähnlich schwere Verbrechen nachvollziehen. In der Praxis erleben wir jedoch immer häufiger Fälle, dass Hausdurchsuchungen bereits für Bagatell-Delikte, vornehmlich das Rumpöbeln im Internet mit der „falschen“ Meinung, richterlich angeordnet werden, wobei dann sämtliche Kommunikationsmittel und internetfähige Geräte beschlagnahmt werden – und das oft für Wochen und Monate, was für einen Selbstständigen die sichere Existenzvernichtung bedeuten kann. Da ist inzwischen jedes Augenmaß, jede Verhältnismäßigkeit verlorengegangen, denn das Grundrecht auf Unverletzlichkeit der Wohnung sollte zweifelsfrei schwerer wiegen als der Mimosenschutz eines Politikers mit einem viel zu dünnen Fell für den Job, den er sich ausgesucht hat. In dem Zusammenhang erinnern wir uns nur allzu gerne an die „Pimmelgate“-Affäre rund um den Hamburger Innensenator Andy Grote.
Und das ist das grundsätzliche Problem: Alle Grundrechte, die zunächst einmal schön klingen, kommen mit einen großen „ja, aber“ daher, denn sie können vom Gesetzgeber unter gegebenen Umständen eingeschränkt werden. Oder gleich mal für fast drei Jahre komplett ausgesetzt, so wie jüngst in der Corona-Diktatur. Diejenigen, die sich in dieser Zeit mit einem Grundgesetz in der Hand vor einen Polizisten gestellt und ihm etwas von der „Kernbereichstheorie“ erzählen wollten, mussten die bittere Erfahrung machen, dass man sich mit unserem konstituierenden Regelwerk genau dann, wenn es wirklich drauf ankommt, leider nur noch den Allerwertesten abwischen kann.
Und da kommen wir zum entscheidenden Kritikpunkt: Grundrechtsverletzungen bleiben fast immer folgenlos für den Verletzer!
Wenn Sie gegen ein letztinstanzliches Gerichtsurteil Verfassungsbeschwerde einlegen und diese dann zu den glücklichen anderthalb Prozent gehört, die das Bundesverfassungsgericht überhaupt zur Entscheidung annimmt (im Normalfall wird ohne Begründung einfach nur abgelehnt), dann ist das Beste, was Sie kriegen können, eine Aufhebung des angefochtenen Urteils. Das ist dann auch schon der absolute Hauptgewinn. In allen anderen Fällen passiert deutlich weniger, oder treffender gesagt, meist gar nichts: Wenn das Bundesverfassungsgericht feststellt, dass irgendein Verwaltungsakt oder irgendein politisches Agieren verfassungswidrig war, dann ist diese Feststellung nur ein moralischer Sieg für den Beschwerdeführer, ändert aber nichts mehr. So wie die von Andy Grote losgetretene „Pimmelgate“-Hausdurchsuchung rechtswidrig war, wie im Nachhinein festgestellt wurde, aber da war es halt schon ein paar Monate her, dass die Wohnung des Delinquenten auseinandergerupft wurde, und Grote ist heute immer noch in Amt und Würden, unbeschädigt.
Wir erinnern uns sicher noch zu gut, wie Angela Merkel Anfang 2020 aus dem fernen Afrika par ordre du Mutti die „Rückgängigmachung“ der Wahl Thomas Kemmerichs zum Ministerpräsidenten von Thüringen angeordnet hat. Die AfD klagte dagegen. Mit Erfolg: Knapp zweieinhalb Jahre später erklärten die roten Robenträger in Karlsruhe Merkels Vorgehen für verfassungswidrig.
Gratulation! Und welche Konsequenzen hatte das dann? Wurde Kemmerich sofort wieder als rechtmäßig gewählter Ministerpräsident eingesetzt? Klickten bei Merkel, die zu der Zeit bereits seit knapp einem Jahr im Ruhestand war, endlich mal die Handschellen, oder musste sie wenigstens eine saftige Geldbuße zahlen?
Sie ahnen es sicher schon: Nichts, nada, rien! Die AfD hat nun ein Stück bedrucktes Recycling-Papier aus Karlsruhe, das sie im güldenen Rahmen in der Parteizentrale auf dem Klo fürs dritte Geschlecht aufhängen kann, während Merkel einige Monate später von Bundesgrüßaugust Steinmeier mit dem höchsten deutschen Verdienstorden, den noch nicht mal Helmut Schmidt erhielt, beschmissen wurde.
Aus all diesen Gründen habe ich geflissentlich Abstand davon genommen, in den allgegenwärtigen Jubel über unser Grundgesetz einzufallen, und finde vielmehr, nach 75 Jahren braucht das Ding mal eine gründliche Renovierung. Besser noch eine Kernsanierung. Meinetwegen auch die Ersetzung durch eine deutlich freiheitlichere Verfassung, wie beispielsweise die der Vereinigten Staaten von Amerika. Und das sind nur meine diesbezüglichen Wünsche auf etatistischer Basis!
Konstruktive Vorschläge zur Nachbesserung des Grundgesetzes aus juristisch berufenem Munde können Sie bei meinem geschätzten Freiheitsfunken-Kollegen Carlos A. Gebauer, dessen Ansatz einer Politikerhaftung ich nicht zuletzt hinsichtlich meiner Kritik der Folgenlosigkeit ausdrücklich befürworte, nachlesen und nachhören.
Quellen und weiterführende Gedanken:
„Pimmelgate“-Razzia war rechtswidrig (Welt Online)
Äußerungen von Bundeskanzlerin Merkel zur Ministerpräsidentenwahl in Thüringen 2020 verletzen das Recht auf Chancengleichheit der Parteien (Pressemitteilung des Bundesverfassungsgerichts)
Mein Grundgesetz (Kolumne von Carlos A. Gebauer auf „Freiheitsfunken“)
Carlos A. Gebauer – Grundgesetz 2030: Modernisierungsvorschläge für eine Erhaltungssanierung (Amazon)
Rechtsanwalt über die Sanierung des Grundgesetzes und die Rundfunkreform | Carlos A. Gebauer (Youtube-Kanal von Jasmin Kosubek)
Kommentare
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