Wahl-Analyse: Die Botschaften der EU-Wähler
Was uns das Wahlvolk noch sagen wollte
von Oliver Gorus
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Die EU-Wahl (die alles, nur keine Europawahl ist) hat jede Menge Erkenntnisse über den momentanen politischen Zustand Deutschlands geliefert. Einige möchte ich herausgreifen und danach, ganz am Ende, die für mich interessanteste, weil in die Zukunft weisende ansprechen.
Also, wo fange ich an? Zunächst mal ist die EU-Wahl eigentlich unwichtig, denn die EU-Politik wird von der EU-Kommission und den nicht gewählten Bürokraten gemacht. Das Parlament hat nichts Entscheidendes zu sagen, sogar der Kommissionspräsident wird im Hinterzimmerchen gekürt, wie die nie gewählte Von der Leyen beweist. Hinzu kommt, dass der Wähler auch bei der EU-Wahl ja nur Listen wählen kann und keinen Einfluss auf das Personal derselben hat und dass die Stimmen der Wähler nicht einmal das gleiche Stimmengewicht haben: Eine Wahlstimme aus Malta ist fast zehnmal mehr wert als eine aus Deutschland.
Es ist eine Farce, eine rein symbolische Demokratiesimulation. Die EU hat schlicht keine demokratische Legitimation. Insofern ist so eine Wahl eher als ein Kommunikationsinstrument zu sehen, mit dem die Untertanen Botschaften an ihre Herrscher senden können.
Und das haben sie getan.
Den Schröder machen
Sie haben beispielsweise gesendet, dass die Ampel wegmuss. Alle Ampel-Parteien haben gegenüber der letzten EU-Wahl Stimmen verloren, die Grünen sind sogar brutalst abgestraft worden. Sie „erfahren erstmals, was Degrowth in der Realität bedeutet“, wie der Hamburger FDPler Gert Wöllmann das wunderbar auf X ausdrückte. Diese grün dominierte Regierung will bei einer bundesweiten Wahl mittlerweile gesichert nur noch knapp ein Drittel der Wähler. Wie verheerend ist das denn?
Ein solches Desaster erfordert eigentlich mindestens die Vertrauensfrage im Bundestag und den Rücktritt der grünen Parteiführung. Zur Erinnerung: Schröder hat im Mai 2005 nach einer verlorenen Landtagswahl, bei der die SPD nur noch gut 37 Prozent der Stimmen holte, die Vertrauensfrage gestellt, um nicht als lahme Ente zu regieren, sondern eine vorgezogene Neuwahl zu ermöglichen. Zum Vergleich: Die SPD holte jetzt bei der EU-Wahl knapp 14 Prozent, das schlechteste Wahlergebnis bei einer bundesweiten Wahl in der kompletten Parteigeschichte.
Schröder sagte damals: „Deutschland befindet sich in einem tiefgreifenden Veränderungsprozess. Es geht darum, unser Land auf die Erfordernisse des 21. Jahrhunderts auszurichten. Vor allem aber braucht es die Unterstützung der Bürgerinnen und Bürger für eine solche Politik. Deshalb erachte ich es als Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland als meine Pflicht, so rasch wie möglich Neuwahlen zum Deutschen Bundestag herbeizuführen.“
So geht das.
Wenn der Kanzler nach diesem Wahlergebnis nicht die Vertrauensfrage stellt – und nichts deutet darauf hin, dass er die Cojones dazu hätte –, dann ist er ein Waschlappen, der bis zum Ende der Legislaturperiode keine Autorität für irgendwas mehr hat. Die Unionsfraktion wird keine Mühe haben, ihn vor sich herzutreiben und mit der Ampel Zwickmühle zu spielen, indem sie spaltende Gesetzesentwürfe einbringt. Wenn Scholz erst noch die Landtagswahlen im Herbst abwartet, wird er sein blaues Wunder erleben. Einstellige Wahlergebnisse stehen einer Kanzlerpartei nicht ganz so gut zu Gesicht …
Die Strack-Strategie
Apropos einstellige Wahlergebnisse: Auch bei der FDP darf man nachfragen, wie oft hintereinander Lindner eigentlich noch Wahlen verlieren darf, bis sie ihn feuern. Aber gut, beim Mitgliederentscheid über den Verbleib in der Sozialisten-Ampel hat die FDP ja schon gezeigt, aus welch morschem Holz sie geschnitzt ist. Mitgefangen, mitgehangen, und ist der Ruf erst ruiniert, regiert es sich ganz ungeniert, lieber falsch als gar nicht.
Erstaunlich ist nur, wie wenig die FDP im Vergleich zur letzten EU-Wahl verloren hat. Das ist eine echte Überraschung. Meine Vermutung: Der Prollpopulismus der vulgär-platten Strack-Zimmerman hat bei einigen FDP-Wählern niedere Instinkte geweckt. Die Wunschprojektion lautet: „Ich angepasster Krawattenträger will mich nicht immer so zivilisiert verhalten, ich will auch mal so unterirdisch rumpöbeln, hetzen und Leute beleidigen wie diese Rüstungs-Oma – ich trau mich das zwar nicht, aber dafür wähl ich die jetzt halt …“
Auch interessant: Die etwa elf Prozentpunkte, die die Ampel verloren hat, gehen im Saldo fast komplett an die AfD und das BSW. Die Union konnte kein bisschen davon profitieren, dass der Wähler die Ampel abschalten will. Von Lagerwahlkampf kann also keine Rede sein.
Der Wähler tendiert stattdessen zu neuen Parteien und zu neuen Gesichtern. Diesen Trend zur Erneuerung des Parteiensystems werden die verkrusteten, reformunfähigen, in Sumpf und Filz gefangenen etablierten Parteien nicht mehr drehen können. Anti-Establishment ist angesagt. Und das ist ein angedeuteter Hinweis auf den guten Willen der Wähler, der Parteiendemokratie eine friedliche Chance für eine nochmalige Laufzeitverlängerung unter erneuertem Farbschema zu geben.
Brandmauer-Prozente
So viel zu den Verlierern. Als nächstes die Gewinner: Die von Faesers Regierungsschutz, den Narrativstrickern von Correctiv und dem Zehn-Milliarden-Euro-Ampel-Werbebudget der Staatsfunker fabrizierten AfD-Skandalisierungen sind verpufft. Da können noch so viele Gegen-Rechts-Aufmärsche inszeniert werden, da können die AfD-Politiker noch so oft als Nazis verunglimpft werden, die AfD ist dagegen mittlerweile immunisiert. Sie gewinnt einfach trotzdem oder vielleicht sogar gerade deswegen von Wahl zu Wahl dazu.
Dass die AfD bei den Arbeitern inzwischen die mit Abstand größte Partei ist und nach der die Arbeiter im Stich gelassen habender Lehrer-Partei SPD kein Hahn mehr kräht, ist nicht neu, wurde aber wieder bestätigt. Dass die Ampel-Politiker nicht das Selbstwertgefühl haben, mit der kontraproduktiven Dämonisierung des politischen Gegners aufzuhören – geschenkt. Dass die Brandmauer die Wähler, die die Grünen abwählen wollen, dazu zwingt, AfD zu wählen; und sie dann tragischerweise dennoch und erst recht Schwarz-Grün bekommen – ja, haben wir kapiert. Und dass die Jungwähler so überhaupt nicht mehr gerne Grün wählen, sondern AfD und CDU, kann nur Boomer überraschen, die keine jungen Leute kennen und sich darum nicht vorstellen können, dass es am Anfang einer Berufskarriere und mit der Aussicht, demnächst eine Familie zu gründen, ziemlich uncool ist, vor einem Scherbenhaufen von Wirtschaft zu stehen und die Familie irgendwie vor messerstechenden Moslems aus Zentralasien beschützen zu müssen, während man einen signifikanten Teil des Jahres nur für deren Lebensunterhalt schuftet. Während die Lehrer die AfD dämonisieren, schauen die Jungen Tiktoks von Krah und finden, dass der lauter vernünftige Sachen sagt.
Spannend und überraschend finde ich allerdings: Deutschland ist mittlerweile in drei relativ homogene Großregionen aufgeteilt:
Ostdeutschland, exakt das Gebiet der ehemaligen DDR, mit den meisten Stimmen für die AfD und den zweitmeisten Stimmen für die CDU in fast allen Wahlkreisen außer Berlin.
Süddeutschland, exakt Bayern und Baden-Württemberg, mit den meisten Stimmen für die Union und den zweitmeisten Stimmen für die AfD in fast allen Wahlkreisen außer den Großstädten mitsamt Vorstädten.
Westdeutschland, exakt der Rest der alten Bundesländer nördlich von Bayern und Baden-Württemberg, mit den meisten Stimmen für die CDU und den zweitmeisten Stimmen für die SPD in fast allen Wahlkreisen, außer in den grünen Großstädten und in einigen blauen ländlichen Regionen.
Wenn dereinst eine Teilung Deutschlands unausweichlich ist, deutet sich hier schon an, wo die Grenze zwischen den Kulturräumen am besten verläuft: Marktwirtschaft und Bürgertum in Süd- und Ostdeutschland auf der einen Seite und Ökosozialismus und Kalifat in Westdeutschland auf der anderen Seite des großen Grabens. Also hier eine konservative, individualistische, bürgerliche Republik und da ein revolutionärer Gottesstaat mit Allah und Klima. Denn jeder soll nach seiner Fasson glücklich werden.
Listen für das 21. Jahrhundert
Und nun zur eigentlich zukunftsweisenden Nachricht: Dass die personenzentrierte Nichtpartei Sahra Wagenknechts aus dem Stand bei ihrer ersten Wahl über sechs Prozent geschafft hat, ist für mich die größte Überraschung und die Bestätigung einer Voraussage, die ich schon vor einiger Zeit gemacht habe. Ich schrieb nämlich in einem früheren Kommentar, dass die Zukunft nicht den ausgeleierten Volksparteien gehört, sondern den Nichtparteien. Und damit meinte ich entweder personenzentrierte Listen wie etwa die von Geert Wilders in den Niederlanden oder die von Javier Milei in Argentinien oder themenzentrierte Listen wie die Brexitpartei in Großbritannien oder die Islamistenpartei Dava in Deutschland.
Dass der Wähler so schnell nach Gründung so zahlreich dem BSW seine Stimme gab, und das, obwohl es bereits genügend linke Parteien gibt, ist nur möglich, weil Wagenknecht so ein bekanntes und von vielen so geschätztes charismatisches Fernsehgesicht ist. Es ist eben so: Menschen vertrauen Menschen, nicht Kollektiven.
Damit verbunden ist auch ein ernstgemeinter Hinweis an Maaßen und die Werteunion: Wenn sie versuchen, Volkspartei nach dem Muster des 20. Jahrhunderts zu werden, wird das wie bei den Grünen oder der AfD Jahrzehnte für erste Erfolge brauchen. Wenn die Werteunion aber von Wagenknecht lernt und die Strategie wählt, die Maaßen-Partei zu sein, und als zentrales Thema sein unbestrittenes Spezialgebiet der Migrationspolitik in den Fokus nimmt, hat sie eine Chance, sehr schnell wahrgenommen zu werden und von vielen Bürgern aus allen möglichen Lagern gewählt zu werden, nur damit die Masseneinwanderung möglichst schnell endet.
Dass Wagenknecht relativ gleichmäßig von allen anderen Parteien Wähler hinzugewinnen konnte (am meisten freilich von SPD, Linke und Union) ist unerwartet, hängt meines Erachtens aber damit zusammen, dass sie als medial präsente Einzelperson, die höflich, freundlich, ruhig, intelligent und niveauvoll spricht und thematisch glaubwürdig für innere und äußere Sicherheit, insbesondere für Friedensverhandlungen mit Russland, steht, klare Alleinstellungsmerkmale und einen scharfen Kontrast zu allen Altparteien transportieren konnte, was sie grundsätzlich für alle Lager wählbar macht – so wie der libertäre Milei aus der anarchokapitalistischen Nische plötzlich für Jung und Alt, Stadt und Land, Links und Rechts, Arbeiter und Akademiker und somit von der absoluten Mehrheit wählbar war.
Zu Wirtschaft und Klima, um nur zwei bei Wagenknecht unterbelichtete Gebiete zu nennen, hat sie dagegen kaum Profil – und diesen Mut zur Lücke belohnt das Wählerverhalten im 21. Jahrhundert.
Also: Fokus auf populäre Personen und Fokus auf einzelne Themen, keine Volkspartei, kein handelsübliches Feld-Wald-und-Wiesen-Programm, das ist der Schlüssel! So haben es auch Farage in Großbritannien, Milei in Argentinien, Wilders in den Niederlanden, Meloni in Italien oder (mit etwas längerem Anlauf) Le Pen in Frankreich geschafft.
Ich bin gespannt, welche Politikprofis das begreifen und welche Themen- oder Personenlisten wir in der nächsten Zeit in Deutschland sehen werden. Eine Liste eines ausgewiesenen Wirtschafts- und Finanzprofis, der glaubwürdig vertritt, im Falle einer Regierungsbeteiligung die Staatsausgaben um zehn Prozent pro Legislaturperiode zu senken, würde mich beispielsweise sofort aus dem Nichtwählerlager an die Urne bringen.
Kommentare
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