01. Juli 2024 16:00

Argentiniens Präsident Javier Milei Erfolgsfaktoren eines libertären Superstars

Aber sind seine Überzeugungen „waschecht“ und werden sie es bleiben?

von Robert Grözinger

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Bildquelle: Shutterstock.com Ist Javier Milei in Wahrheit ein Einhorn: Mit ähnlicher Haartracht?

Manch ein Libertärer beäugt das Phänomen Javier Milei mit Misstrauen. Das ist verständlich, schließlich ist erstens ein Libertärer in hohen politischen Rängen ungefähr so alltäglich wie ein Einhorn – und dafür gibt es Gründe, siehe unten. Zweitens vertritt der neue Präsident Argentiniens eine Politik, die an einigen Stellen deutlich von der reinen Lehre eines Murray Rothbard oder Hans-Hermann Hoppe abweicht, etwa seine Unterstützung der Nato im Hinblick auf den Ukrainekrieg und die Dollarisierung der Wirtschaft seines Landes.

Zu diesen Punkten sollte und wird er eines Tages Rede und Antwort stehen. Aber seit seinem Auftritt in Hamburg vor der Friedrich August von Hayek-Gesellschaft, von der er eine Auszeichnung erhielt, sind mir zwei Dinge klargeworden. Ich habe mir diese Rede auf Youtube angehört. Ich kann kein Spanisch, muss mich also auf die dort zu hörende und in den Untertiteln zu lesende Übersetzung verlassen – siehe Link unten. Mir ist gesagt worden, eine genauere Übersetzung sei in Arbeit. Ich denke, für die Zwecke meines Artikels reicht die aktuelle aus.

Hier die mir klargewordenen zwei Punkte. Erstens: Milei ist ein waschechter Libertärer. Zweitens: Wer ihn nachahmen will, tut gut daran, sein Erfolgsrezept, das er in seiner Hamburger Dankesrede ausbreitete, genau zu studieren und je nach Umständen zu kopieren.

Zum ersten Punkt: Mileis Werdegang vom „Normie“ zum Libertären ähnelt meinem. Und, wie ich über die Jahre aus Gesprächen mit Libertären erfahren habe, auch dem vieler anderer freiheitlich Denkenden. Er offenbarte seinem deutschen Publikum eine Eigenschaft, die viele Libertäre in sich selbst wiedererkennen werden: Der ehemalige Wirtschaftsprofessor habe, so sagte er mit anderen Worten, nicht aufgehört, Fragen zu stellen, wenn ihm die Welt widersprüchlich vorkam. Etwa die Tatsache, dass Wirtschaftswachstum zu Bevölkerungswachstum führt, zu etwas Gutem also; gleichzeitig stellt die Wirtschaftswissenschaft aber Großunternehmen und Monopolbildung, eine Begleiterscheinung des Wachstums, pauschal als etwas Schlechtes, etwas zu Vermeidendes dar.

Er fand die Lösung dieses und anderer Widersprüche, als er erstmals mit Schriften eines führenden Denkers der Österreichischen Schule, nämlich Murray Rothbard, konfrontiert wurde. Es war offenbar ein großer Aha-Moment. Milei berichtet, wie er damals in einer Buchhandlung innerhalb von zwei Tagen an die 50 Bücher von Autoren der usprünglich aus Wien stammenden Denkschule gekauft habe. Wie er Ludwig von Mises‘ Wälzer „Human Action“ innerhalb weniger Tage und Nächte gelesen und mit Notizen an den Seitenrändern vollgeschrieben habe. Wie er danach zwei zusätzliche Bände dieses Werks kaufte. Eines für seine Arbeit als Ökonomieprofessor und eines in Reserve. Wie er eines Tages das zweite Buch durchblätterte und feststellte, dass er auf jeder Seite Stellen markiert und unterstrichen hatte.

Diese Schilderung können viele Libertäre nachvollziehen, weil sie ein ähnliches „Erweckungserlebnis“ nach der Erstentdeckung echten libertären Gedankenguts hatten – bei mir war das, als ich 1994 mehr oder weniger zufällig in einer örtlichen Bibliothek auf Roland Baaders „Kreide für den Wolf“ stieß und den Inhalt, nach kurzem Beschnuppern, geradezu „wölfisch“ herunterschlang. Sie ist auch deswegen glaubwürdig, weil Mileis Fähigkeit, „österreichisches“ Gedankengut korrekt wiederzugeben, von keinem angezweifelt wird. 

Nun zum zweiten Punkt, seinem Erfolgsrezept. Neben seiner Fähigkeit, die Jugend anzusprechen, sehe ich zwei unverzichtbare Zutaten: Eine hundertprozentig zuverlässige helfende Hand und einen festen Glauben an eine höhere Macht jenseits des Irdischen. Mileis Schwester Karina, die, wenig überraschend, aus ähnlich starkem Holz geschnitzt sein muss wie ihr Bruder und die jetzt seine „First Lady“ im Amt ist, war die verlässliche Hand.

Zu seinem Glauben finden wir auf Wikipedia, dass er eine Affinität zum Judentum hat, unter anderem auch deswegen, weil einer seiner Großväter kurz vor seinem Tod entdeckte, dass er jüdisch war. In seiner Hamburger Rede verwies Milei auf das Hannukafest, welches die Wiedereinweihung des Tempels nach der Eroberung Jerusalems durch die Makkabäer feiert, als Inspiration ebenso wie die Geschichte von David und Goliath.

Diese beiden Faktoren waren, so meine Einschätzung, unverzichtbar für seinen Erfolg. Hinzu kommen zwei sekundäre Faktoren. Der erste dieser beiden ist Mileis gewisse „Verrücktheit“.  Was nicht etwas an sich Schlechtes ist: In einer Welt des ungezügelten Fiatgeldes, der ungezügelten Kriegshetzerei im Angesicht eines nuklearen Overkillpotentials, einer amoklaufenden, hochsubventionierten Hofschranzen„wissenschaft“, eines postmodernen Kulturbetriebs, der die Parole herausgibt, dass „alles relativ“ sei, nur eben nicht diese Aussage – in einer solchen Welt muss man ein Stück weit „verrückt“ sein, um überhaupt noch normal denken zu können. Milei hat es offenabar nicht geschadet – im Gegenteil. Nur deswegen kann er den Inhalt der Österreichischen Denkschule nicht nur „korrekt“, sondern zugespitzt und polemisch wiedergeben. Kurz vor seinem Auftritt in Hamburg etwa hat Milei in Madrid den Sozialismus als „Krebsgeschwür der Menschheit“ bezeichnet.    

Der zweite sekundäre Faktor ist die wirtschaftlich desolate Lage Argentiens bei gleichzeitig noch vorhandenen Erinnerungsresten aus zweiter Hand in der Bevölkerung an vergangene Glanzzeiten, als das Land gegen Ende des 19. Jahrhunderts eines der Länder mit dem höchsten Pro-Kopf-Einkommen war. Darin unterscheidet sich Argentinien von vielen andren Ländern der „Dritten Welt“. Es hat daher eine größere Chance als diese, sich mit dem richtigen „Verrückten“ an der Spitze aus dem Loch, in dem es sich befindet, herauszuarbeiten. Andere noch „reiche“ Länder wie Deutschland müssen sich vielleicht erst in die Lage des heutigen Argentiniens manövrieren, bevor es dort zum ernsthaften Umkehrversuch kommen kann. 

Nun aber zu den Vorbehalten. Bei Wikipedia heißt es: „Zwischen 2008 und 2021 arbeitete Milei für Eduardo Eurnekian, einen der reichsten Unternehmer in Argentinien und Besitzer der Corporacion America Airports, des größten privaten Flughafenbetreibers weltweit. Mit Unterstützung dieses Unternehmers schaffte Milei den Sprung in die Politik.“

Die Quelle für diese Aussage ist die spanischsprachige Webseite „eldiarioar.com“. Jemandem, der Schützling eines Mannes ist, der wiederum in einem der korruptesten Länder der Welt entweder sehr reich geworden oder es geblieben ist, muss mit einem gewissen Misstrauen begegnet werden. Das heißt nicht, dass Milei oder sein Gönner selbst korrupt sind. Es heißt nur, dass es hier gilt, Vorsicht walten zu lassen.

Geht es Milei wirklich nur um die „verdammte“ Freiheit? Besonders seine kompromisslose einseitige Westbindungspolitik lässt Zweifel aufkommen. Denn er scheint den geopolitischen Trend nicht richtig einzuschätzen. Dieser Trend bewegt sich weg von den USA und hin zu einer multipolaren Welt. Argentinien ist in einer günstigeren Lage als etwa Europa, jetzt aus diesem Trend politische und wirtschaftliche Vorteile zu ziehen. Diese günstigere Lage hat Milei bis auf Weiteres verspielt. 

Innenpolitisch jedoch hat Milei bislang überzeugt. Selbst der „Spiegel“ muss zugestehen, dass schon nach einem halben Jahr Präsidentschaft der Mann mit den unbezwingbaren Haaren den Staatshaushalt ausgeglichen und die Inflation deutlich, um nicht zu sagen drastisch, zurückgefahren hat.

Wir sollten jedoch nie das mahnende Wort eines amerikanischen libertären Journalisten des 20. Jahrhunderts vergessen. M. Stanton Evans sagte einmal: „Wir Libertäre haben keine Freunde in hohen Positionen, denn sobald sie diese Positionen erreichen, hören sie auf, unsere Freunde zu sein.“

Wir dürfen gespannt sein, ob „el Loco“, „der Verrückte“, das Evans-Gesetz bricht.

Quelle:

Hamburger Rede von Javier Milei: Mein Weg zur Freiheit (Youtube, spanisch mit deutschen Untertiteln und akustischer Übersetzung)


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