21. August 2024 06:00

Wozu kämpfen? Viele Herbste

Über ein Gedicht, seinen Dichter und neuen Mut

von Oliver Gorus

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Bildquelle: Tobias Falberg / Wikimedia Arzt und Dichter Gottfried Benn (1886–1956): Wandlung vom Befürworter eines „neuen Staates“ zum Zweifler

Als ich gestern auf gewohnten Wegen nach Südtirol fahren wollte, waren sowohl der Arlbergtunnel als auch die Arlberg-Passstraße gesperrt. Ersterer musste repariert werden, Zweitere ist bei Sankt Anton von den Wassermassen einer Sturzflut weggespült worden. Ich fuhr einen mehrstündigen Umweg über verwinkelte Alpenpässe mit Blick auf abgerutschte Hänge und durch schöne Täler, die selbst bei Regen hübsch anzuschauen waren, und fühlte geradezu körperlich das wissenschaftliche Konzept der Entropie und ihrer Unumkehrbarkeit.

Während meine abendlichen Telefontermine in zeitliche Bedrängnis gerieten und mein Improvisationstalent herausforderten, wurde mir in Analogie zum Reparaturbedarf von Straßen durch Abnutzung und Naturkräfte die abnehmende Leistungsfähigkeit meines Körpers und seiner Organe durch Abnutzung und Naturkräfte mit aller Schärfe bewusst und auch, dass ich schon eine Weile in der zweiten Spielhälfte des Lebens spiele und auch das unumkehrbar ist: Ich kann das Navi neu programmieren und auch sonst vieles von vorne anfangen, aber eben nicht alles, vor allem nicht mein Leben.

Und als ich beim überlangen Fahren so weiter – hinunter, hinunter, hinunter – dem weißen Kaninchen in den Kaninchenbau folgte, kam ich in Gedanken bei meinen jungen Jahren an, als ich zu Zeiten meines Zivildiensts, meines Studiums und meiner Berufsausbildung nebenher Bass in einer Rockband spielte. Wir hatten über viele kreative Wochen hinweg in einem Kreuzlinger Keller aus einem meiner liebsten Gedichte einen Rocksong gemacht. Der Musikstil war Bodensee-Grunge – also so etwas wie eine Mischung aus Pearl Jam, Faith No More, Soundgarden und Red Hot Chili Peppers mit Reinhard Mey – und das Gedicht war „Viele Herbste“ von Gottfried Benn.

Gottfried Benn war eine widersprüchliche, zeitweise wohl verwirrte Figur im politischen Spiel der 20er und 30er Jahre. Von Haus aus Arzt litt er unter seiner Arbeit, die ihn langweilte, dafür blühte er in den Goldenen Zwanzigern in Berlin als Künstler und Lebemann auf, denn er war ein sprachliches Genie, ein wahrer Dichter. In der Weimarer Republik war er einer der berühmten Expressionisten und ein erfolgreicher, anerkannter Künstler.

Als solcher war er weltfremd genug, über den gesellschaftlich-politischen Umwälzungen seiner Zeit zu schweben. Er verstand wohl nicht wirklich, was passierte. Zeitweise schwärmte er für den Faschismus – aber mehr aus ästhetischer Perspektive – und setzte Hoffnungen in den „neuen Staat“ ab 1933, träumte von einer „Konservativen Revolution“ und hing dabei der künstlerisch-verklärten Vorstellung an, der Führung des Staates müssten Dichter angehören. Er phantasierte von der „Züchtung des neuen Menschen“, dem „Hervortreten eines neuen biologischen Typs“ und war offensichtlich von der nationalsozialistischen Ideologie benebelt.

Während viele seiner Autorenkollegen nach der Machtergreifung Hitlers aus Deutschland flohen, blieb Benn und half beim Umbau der Preußischen Akademie der Künste zur Deutschen Akademie der Dichtung durch die Formulierung einer Loyalitätserklärung zugunsten der Nazis „im Sinne der geschichtlichen Lage“.

Das half ihm aber nicht dabei, dass er anschließend von den neuen Machthabern verstoßen, beschimpft, verunglimpft und aussortiert wurde. Ihm wurde befohlen, nichts mehr zu veröffentlichen, er wurde öffentlich als „geiler Mistfink“, „Schwein“ und schließlich und endgültig als „Jude“ bezeichnet, seine Schriften wurden verboten, er wurde überall „gecancelt“, wie es Sozialisten eben immer wieder und überall tun: Goebbels erließ für ihn ein Berufsverbot. Benn ging in die „innere Emigration“.

Nach dem Krieg verdrängte er seine Mittäterschaft im ersten Jahr des Nationalsozialismus nicht. Er schrieb: „Sich irren und doch seinem Inneren weiter Glauben schenken müssen, das ist der Mensch.“ Belohnt wurde er mit weiteren zehn Jahren künstlerischen Erfolgs – er war einer der herausragenden deutschen Dichter der Nachkriegszeit.

1952, im Alter von 66 Jahren, schrieb er mit all seiner Lebenserfahrung – im Rückblick seines Rausches, seiner Ernüchterung, seines Realismus – das Meisterwerk, das wir jungen Bodenseerocker vertonten: „Viele Herbste“.

Jetzt, da der Sommer längst über seinen Zenit ist und die Tage spürbar kürzer werden, denke ich, während ich mich hinter einem unfähigen Busfahrer einen engen Alpenpass hochquäle, wieder an unseren Song. Die letzte Zeile, „Was hast du seelisch eingesetzt?“, habe ich damals als Auftrag verstanden. Und verstehe ihn noch immer so.

Warum soll ich mich nicht völlig unrealistischerweise für die Verwirklichung meiner Vorstellungen und Träume ins Zeug werfen? Weil man scheitern könnte? Ich bin doch nicht „man“! Warum sollte ich nicht krachend scheitern, wenn ich mit vollem Herzen dabei war? Ist es nicht besser, alles zu verlieren, als zu versuchen, nichts zu gewinnen?

Wenn wir in einer Gesellschaft, die ihre Wurzeln verleugnet und vieles vergessen hat, was sie einst stark und lebens- und liebenswert gemacht hat, für so etwas Anachronistisches wie die Freiheit kämpfen, die mehr und mehr zum knappen Gut wird, dann mag das unrealistisch sein. Dann mag das ein ungleicher Kampf gegen eine übermächtige Horde von machtbesoffenen Sozialisten, egozentrischen Etatisten und machtgeilen Kollektivisten sein. Aber es ist kein aussichtsloser Kampf, jedenfalls dann nicht, wenn ich seelisch alles einsetze, was ich zu bieten habe. Dann kann ich scheitern, aber verlieren kann ich mich nicht.

Wenn viele Herbste sich verdichten
in deinem Blut, in deinem Sinn
und sie des Sommers Glücke richten,
feg doch die fetten Rosen hin,

den ganzen Pomp, den ganzen Lüster,
Terrassennacht, den Glamour-Ball
aus Crepe de Chine, bald wird es düster,
dann klappert euch das Leichtmetall,

das Laub, die Lasten, Abgesänge,
Balkons, geranienzerfetzt –
was bist du dann, du Weichgestänge,
was hast du seelisch eingesetzt?


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