04. September 2024 10:00

Lesetipp der Woche (mit Einschränkungen) „Die China-Konvergenz“

Die brillanteste, ausführlichste und tiefschürfendste Analyse der „Managerial Revolution“ seit langer Zeit

von Axel B.C. Krauss

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Bildquelle: helloabc / Shutterstock Chinesisches Modell: Vorbild für die westlichen Eliten

Um den eigenen Platz in der Geschichte besser bestimmen zu können und das ungute Gefühl loszuwerden, nur ein Korken zu sein, der von den Oberflächenströmungen der Zeit hin- und hergeworfen wird – um also das weitverbreitete, aber falsche Gefühl der „Ohnmacht“ gegenüber den „Zeitläuften“ zu beseitigen –, bedarf es vor allem guter Kenntnisse über die historischen Grundlagen der Situation, in der man sich als Mensch zwangsläufig wiederfindet. Ohne geschichtlichen Kontext, ohne die Suche nach den Wurzeln der eigenen Gegenwart ist man natürlich Spielball derjenigen Kräfte und Verhältnisse, in die man „ungefragt“ einfach hineingeworfen wird, und kann keinen geistigen Halt finden. In diesem Fall wird man das „existenzielle Schleudertrauma“, wie ich es gerne nenne, nicht los. Dieser Lernprozess, der ein Leben lang andauert, kommt, um bei maritimen Metaphern zu bleiben, dem Versuch gleich, genug Planken in den mal mehr oder weniger schäumenden Wellen zu finden und daraus ein Floß und ein Paddel zu zimmern, um das Ufer ansteuern zu können.

Ein Autor namens N. S. Lyons, den ich bislang nicht kannte und auf dessen herausragenden Artikel „The China Convergence“ ich unlängst von einem Leser meiner Website aufmerksam gemacht wurde, liefert dafür genug Holz: Der Artikel ist fast ein „halbes Buch“, weshalb man genug Zeit für die Lektüre mitbringen sollte. Doch die lohnt sich, denn ich habe seit langer Zeit keine scharfsichtigere Analyse derjenigen Entwicklung mehr gelesen, die der amerikanische Autor James Burnham in seinem 1941 erschienenen Buch „The Managerial Revolution“ beschrieb (auf das sich Lyons Text natürlich bezieht). Burnham schrieb damals – eine Idee, die wenige Jahre später ein gewisser George Orwell für seinen Roman „1984“ mopste –, nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges müssten „noch viele Kriege geführt“ werden, um schlussendlich eine Zustand zu erreichen, in dem die Welt in „drei große Machtblöcke“ aufgeteilt sei und ein „Manager-Regime“ herrsche oder, mit anderen Worten: ein sozialkybernetisch-technokratisches System, das alle Belange des menschlichen Lebens und Wirtschaftens umfassend zu „managen“, sprich zu steuern versucht.

Warum dann das im Titel „mit Einschränkungen“? Weil Lyons, was angesichts seines profunden Kenntnisreichtums der „manageriellen“ Methodologie doch etwas überrascht, die sogenannte „populistische Revolte“ von 2016 teilweise falsch einschätzt. Dies ist jedoch nur ein förmlich verschwindend kleiner Kritikpunkt, denn der Text ist ansonsten herausragend. Lyons glaubt, die Eliten seien darob „in Panik“ geraten: „Sie gerieten in Panik, weil sie einen Moment erlebten, in dem sie das Gefühl hatten, fast die Kontrolle zu verlieren. Dieser Moment war 2016, als der Sozialist Bernie Sanders Hillary Clinton in den Vorwahlen der Demokratischen Partei fast besiegt hatte. Überall im Westen geriet die Managerelite daher sofort in einen Rausch angesichts der angeblich vom ‚Populismus‘ ausgehenden Gefahr und rief ihre eigene Revolte aus, indem sie einen Schmitt’schen Ausnahmezustand ausrief, in dem alle üblichen Regeln und Normen der demokratischen Politik außer Kraft gesetzt werden konnten, um auf diese existenzielle ‚Krise‘ zu reagieren. Einige begannen sogar zu fragen, ob die Demokratie selbst ausgesetzt werden müsse, um sie zu retten.“

Dies war jedoch keine Panikreaktion, im Gegenteil: „Lass niemals eine gute Krise ungenutzt verstreichen.“ Will sagen: Es ist ja fast schon selbstverständlich, dass diese „Krise“ – die übrigens keine rein genuine war, sondern von Claqueuren, politischen „Influencern“ und Aufpeitschern, die aus den Reihen eben dieser „Manager-Elite“ selbst stammten oder von ihr gefördert wurden, bewusst mit angeheizt wurde – schnell in der gewohnten dialektischen Manier herhalten musste, um für das Problem eine Lösung anbieten zu können: nämlich genau jenen „Ausnahmezustand“, jenes Außerkraftsetzen „demokratischer Prozesse“, das auf den gewünschten Machtzuwachs hinauslaufen sollte.

Dies gilt erst recht für Bernie Sanders: Er war nicht mehr als ein „Quotenrebell“ und vor allem ein äußerst „nützlicher Idiot“, in seinem Fall ein nützlicher sozialistischer: Denn die von ihm vertretene Politik passte perfekt zu den Enteignungs-, Steuerung- und Kontrollphantasien des „therapeutischen Staates“, wie Lyons ihn in seiner fachgerechten Zerlegung der Ideologie des „Wokeismus“ nennt. Dazu ein etwas längerer Auszug für Genießer: „Der Wokeismus stellt keine Bedrohung für die Grundlagen des Managerregimes dar – ganz im Gegenteil. Zunächst einmal ist er eine radikale, aber geradlinige Erweiterung der weichen Managerideologie. Er hält an denselben Grundprinzipien fest (erinnern Sie sich daran?): Szientismus, Utopismus, Meliorismus, Liberalismus, Hedonismus, Kosmopolitismus und Dematerialisierung (zu denen man wohl auch den ‚Safetyismus‘ hinzufügen könnte, wie bereits beschrieben). Zweitens steht sein Ziel, ein neues Opferbewusstsein zu schaffen und die menschliche Natur zu rekonstruieren, in perfekter Übereinstimmung mit den Zielen und Methoden des therapeutischen Staates. Der Wokeismus wird von den Managern – ohne die er nicht zustande gekommen wäre – befürwortet, weil er direkt an die Eigeninteressen aller Managementbereiche appelliert. Für die Managerintelligenzia bietet er ganz neue Politikfelder, in denen sich alle auf ihr verschlüsseltes Wissen und ihre besondere Expertise berufen müssen. Für die Managermedien eine ganz neue zivilisatorische Mission, um die Massen ständig darüber zu informieren, wie rückständig sie sind, und sie auf Schritt und Tritt zu korrigieren. Für die Philanthropie der Manager: endlose neue Kreuzzüge zur Linderung unendlicher Unterdrückung. Für die Manager-Konzerne: neue Grenzen der hedonistischen Befreiung, mit ganz neuen Gewohnheiten, die als Konsumbedürfnisse verkauft werden können (‚geschlechtergerechte Pflege‘ ist sehr profitabel!). Und das Beste von allem: Für den Managerstaat biet er einen angeschwollenen Teil der Bevölkerung, der mit jedem neuen expansiven Anspruch auf infantile Opferrolle den technokratischen Staat und seine Stellvertreter ständig anfleht, einzugreifen, um ‚Gerechtigkeit‘ durchzusetzen und den Notfall ihres individuellen Rechts auf ‚Sicherheit‘ in jeder Situation, in jedem Lebensbereich und in jeder menschlichen Interaktion zu verwalten, vom Arbeitsplatz über romantische und familiäre Beziehungen bis hin zu ihrem emotionalen Zustand und jedem Wort, das sie im Internet hören oder lesen.“

Mit „weicher“ Ideologie meint Lyons im Wesentlichen das, was Aldous Huxley einmal als „Wissenschaftliche Diktatur“ beschrieb, also die Technokratie: Im Unterschied zu offen totalitären, „harten“ Systemen, die ihren Untertanen nicht genug „Zuckerbrot“ boten, sondern sie durch rabiate Repressalien bis hin zu brutaler Gewalt in „neue Menschen“ umzuformen versuchten (wofür er das massenmörderische Regime Maos als Beispiel anführt), setzen die „weichen“ Systeme auf psychologisch viel raffinierterere Methoden zum effizienten Massenmanagement: unterschwellige Hirnwäsche unter Vortäuschung „edler“ Absichten, Manipulation vor allem auf emotionaler Ebene, „Umprogrammierung“ und Konditionierung durch unablässige Wiederholung vermeintlich humanistischer Botschaften („Nudging“), völlige Gleichschaltung von Menschen unter dem Vorwand, doch nur Ungerechtigkeiten ausmerzen und dadurch ein soziales „Paradies“ aufbauen zu wollen, in dem angeblich niemand mehr „benachteiligt“ wird et cetera.

Doch warum trägt der Artikel den Titel „Die China-Konvergenz“? Weil Lyons den überaus berechtigten und mulmigen Eindruck aufgreift, die westlichen Eliten beziehungsweise „Manager“ näherten sich in ihrer Politik immer mehr dem „chinesischen Modell“ an. Lyons argumentiert, sie hätten aus den Fehlern der chinesischen Vergangenheit gelernt und seien eben deshalb zu einem „weichen“ Vorgehen gewechselt. Wenn also ein Justin Trudeau, Premierminister Kanadas, „heimliche Bewunderung“ für die „chinesische Diktatur“ äußerte, weil sie sehr viel schneller und effizienter politische Ziele wie zum Beispiel die Umgestaltung der Wirtschaft erreichen kann, so kann dies nicht mehr überraschen.

Orwell selbst beschrieb unter Bezugnahme auf Burnham den Endzustand eines solchen Systems. In ihm würde „[der] Kapitalismus [verschwinden], aber nicht der Sozialismus wird an seine Stelle treten. Was jetzt entsteht, ist eine neue Art von geplanter, zentralisierter Gesellschaft, die weder kapitalistisch noch in irgendeinem akzeptierten Sinne des Wortes demokratisch sein wird. Die Herrscher dieser neuen Gesellschaft werden die Menschen sein, die die Produktionsmittel tatsächlich kontrollieren, das heißt Führungskräfte, Techniker, Bürokraten und Soldaten, die von Burnham unter dem Begriff ‚Manager‘ zusammengefasst werden. Diese Leute werden die alte Kapitalistenklasse beseitigen, die Arbeiterklasse zerschlagen und die Gesellschaft so organisieren, dass alle Macht und alle wirtschaftlichen Privilegien in ihren Händen bleiben. Private Eigentumsrechte werden abgeschafft, aber es wird kein Gemeineigentum geben. Die neuen ‚Manager‘-Gesellschaften werden nicht aus einem Flickenteppich kleiner, unabhängiger Staaten bestehen, sondern aus großen Superstaaten, die sich um die wichtigsten Industriezentren in Europa, Asien und Amerika gruppieren. Diese Superstaaten werden untereinander um den Besitz der verbleibenden nicht eroberten Teile der Erde kämpfen, werden aber wahrscheinlich nicht in der Lage sein, sich gegenseitig vollständig zu erobern. Intern wird jede Gesellschaft hierarchisch aufgebaut sein, mit einer Aristokratie von Talenten an der Spitze und einer Masse von Halbsklaven am unteren Rand.“

Kein Wunder, dass ein Klaus Schwab, ehemaliger Direktor des Weltwirtschaftsforums und nachweislich glühender Technokrat, das chinesische Modell ausdrücklich lobte – so wie viele andere westliche Führungskräfte, vor allem in der Politik. Der Unterschied ist eigentlich nur noch ein „gradueller“. Lyons: „Sowohl China als auch der Westen nähern sich auf ihre eigene Art und Weise und in ihrem eigenen Tempo, aber aus den gleichen Gründen, aus verschiedenen Richtungen dem gleichen Punkt – dem gleichen, noch nicht vollständig verwirklichten System der totalisierenden techno-administrativen Governance. Sie unterscheiden sich zwar weiterhin, aber nicht mehr in der Art, sondern nur noch im Ausmaß. China ist auf dem Weg in dieselbe Zukunft nur schon ein Stück weiter."

Sie können den Artikel in deutscher Übersetzung als PDF hier herunterladen.

Bis nächste Woche.


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