Erneute Eskalation in Nahost: Krieg zweier Terrororganisationen
Zivilisten sind nie legitime Ziele
Während der Zweiten Intifada suchten sich manche Selbstmordattentäter gezielt Bushaltestellen in Israel aus, an denen Gruppen von Soldaten standen. Das wurde mir von Palästinensern, mit denen ich gesprochen habe, gerne als besonders edel verkauft, weil jene Attentäter ja das Leben von Zivilisten zu schonen versucht hätten. Doch an Bushaltestellen stehen eben in der Regel nicht nur Soldaten, und selten waren es ausschließlich Soldaten in Uniform, die bei solchen Selbstmordangriffen den Tod fanden. Auch dafür herrscht auf palästinensischer Seite keine Erklärungsnot. Diskutiert man mit gebildeten, westlich orientierten Palästinensern, sind das Kollateralschäden im nationalen Befreiungskampf. Radikalere Palästinenser vertreten die Auffassung, dass jeder in Israel ein potenzielles Ziel sei, weil ja auch fast jeder in der Armee Dienst tue. Und wenn Kinder bei Anschlägen starben, hörte man leider auch nicht selten die ekelhaft zynische Begründung, auch ein israelisches Kind werde früher oder später zu einem Soldaten.
Für mich steht außer Frage, dass Soldaten legitime Ziele sind. Niemand muss eine Armeeuniform tragen. Man kann aus einem Staat auswandern, der einen zum Zwangsdienst in der Armee rekrutieren will, oder man lässt sich lieber aus Gewissensgründen einsperren. Doch bei Zivilisten sieht es anders aus. Deren Tod, und speziell den Tod unschuldiger Kinder in Kauf zu nehmen, ist für mich der Unterschied zwischen dem, was Palästinenser gerne Befreiungskampf nennen, und Terrorismus. Hamas und Hisbollah sind Terrororganisationen, weil sie genau das tun: Sie unterscheiden nicht zwischen bewaffneten Kämpfern und Zivilisten. Doch Israel tut dies genauso wenig und versucht es im Unterschied zu früher nicht einmal mehr.
Ich war schockiert, welch große Zustimmung Israel für die gezielten Pager- und Walkie-Talkie-Liquidierungen im Libanon erfahren hat. Bei vielen Israel-Fans ist der moralische Kompass eben schon lange komplett verloren gegangen. Auch hier sage ich: Hisbollah-Kämpfer sind für Israel natürlich legitime Ziele. Aber eben nicht deren Frauen und deren Kinder oder andere Unbeteiligte, auch dann nicht, wenn es sich um Hisbollah-Sympathisanten handelt. Deren Tod hat Israel billigend in Kauf genommen. Dass es bei der Aktion auch zu zivilen Opfern kam, steht aufgrund der Dimension außer Frage. Berichte, dass auch Kinder unter den Opfern seien, sind absolut glaubhaft und haben mit arabischer Propaganda ausnahmsweise einmal nichts zu tun. Ein Kind, das mit dem Walkie-Talkie des Papas spielt, ist nun wirklich nicht sehr weit hergeholt. Und es reicht ja schon, auch nur in der Nähe zu stehen, um einen Arm oder ein Bein zu verlieren. Und so handelt Israel auch seit Oktober 2023 im Gazastreifen. Für manche Israelis sind tote Kinder in Gaza ein notwendiger Kollateralschaden im Kampf gegen den Terror. Und das israelische Argumentationsäquivalent zu „Aus jedem Kind wird später mal ein Soldat“ ist dann häufig, dass ja bereits palästinensische Kinder in Kindergärten und Schulen zum Hass auf Israelis erzogen würden. Das stimmt übrigens und ist auch absolut verwerflich, nur kann diese Tatsache sicher nicht Bomben auf Schulen und das Töten von Kindern rechtfertigen.
Ich sehe beim besten Willen nicht, wie sich die derzeitigen Methoden und die Brutalität der israelischen Regierung und des israelischen Sicherheitsestablishments, bestehend aus Tzahal (Armee), Aman (Armeegeheimdienst), Shin Beth (Inlandsgeheimdienst) und Mossad (Auslandsgeheimdienst) von Hamas und Hisbollah unterscheiden. Ich denke, man täte gut daran, den Konflikt zwischen Hisbollah und Israel als Krieg zweier Terrororganisationen zu begreifen, die weniger Respekt vor menschlichem Leben haben als manche Mafia-Bosse. Meine Sympathien gelten den unschuldigen Opfern auf beiden Seiten, aber sicher nicht Terroristen, ganz egal, ob sie mit Halbmond oder Davidstern daherkommen.
Die israelische Regierung ist nicht nur nicht an einer friedlichen Lösung interessiert, sondern tut auch alles, eine solche zu hintertreiben. Die gezielte Tötung von Hamas-Chef Ismail Haniyya im Iran fällt darunter. Haniyya war der Chefdiplomat der Hamas, der, anders als die Radikalinskis um Yahya Sinwar, die noch im Gazastreifen verblieben sind, zumindest über genügend Verstand verfügte, alles auf eine diplomatische Lösung zu setzen. Auch im Norden versucht Israel seit Monaten durch Provokationen die Hisbollah in einen größeren Krieg zu ziehen, um am Ende mit der „Partei Gottes" genauso abzurechnen wie mit den Eiferern der Hamas. Hisbollah-Chef Hassan Nasrallah hat das allerdings bisher viel cleverer gehandhabt als in früheren Jahren und sich nicht zu größeren Schlägen hinreißen lassen. Doch der Hisbollah wird nun wohl in der Logik des Nahen Ostens, um nicht Schwäche gegenüber den eigenen Leuten und den anderen religiösen Gruppen im Libanon (vor allem Maroniten und Sunniten) zu zeigen, kaum etwas anderes übrig bleiben, als etwas weiter auszuholen. Der Hisbollah könnte nichts Besseres passieren, als wenn Israel mit Bodentruppen die Grenze zum Libanon überschreitet. Dass die Israelis das bisher noch nicht gemacht haben, liegt neben der personellen Gebundenheit in Gaza und der Westbank eben auch daran, dass man in Jerusalem weiß: Die Hisbollah ist nicht die Hamas, sondern eine reguläre, im Iran topausgebildete Armee, die den Jungs (und vielleicht ein paar Mädels) von Tzahal einiges auf die Mütze geben wird. Die Erinnerungen an 2006 sind in Israel noch sehr wach. Der damalige Generalstabschef Dan Halutz wusste schon, warum er am liebsten alles aus der Luft erledigt hätte.
Doch gibt es dann überhaupt Präzedenzfälle für einen legitimen „Befreiungskampf“, wenn die Inkaufnahme des Todes Unschuldiger die Grenze zum Terrorismus überschreitet? Mir fällt da direkt ein Beispiel von 2001, auf dem Höhepunkt der Zweiten Intifada, ein. Am 17. Oktober 2001 töteten palästinensische Kämpfer der sozialistischen Volksfront zur Befreiung Palästinas (PFLP) in einem Hotel in Ost-Jerusalem den israelischen Tourismusminister Rechaw’am Ze’ewi, der übrigens in Israel nur unter seinem Spitznamen Gandhi bekannt war. Diesen trug er allerdings aufgrund seiner kümmerlichen physischen Erscheinung und nicht wegen seiner Friedfertigkeit. Der Rechtsnationalist Ze’ewi war bei dem Angriff das einzige Opfer und es traf mit einem Kabinettsmitglied Scharons sicher keinen Unschuldigen. Israelische Minister sind in diesem Konflikt natürlich „Fair Game“. Genauso wie auch Ibrahim Aqil. Das Mitglied des Dschihad-Rates der Hisbollah, den westliche Geheimdienste für den Angriff auf die US-Marines in Beirut 1983 verantwortlich machen, wurde am Freitag von der israelischen Luftwaffe durch einen „gezielten Angriff“ getötet, wie die israelische Armee stolz bekannt gab. Zusammen mit acht weiteren Menschen, die das Pech hatten, sich zum Zeitpunkt der Explosion mit Aqil im selben Haus aufgehalten zu haben. Über 3.000 Libanesen erging es seit Oktober 2023 genauso. Manche von ihnen Kämpfer, viele andere nicht. Was soll das anderes sein als zionistischer Terrorismus?
Kommentare
Die Kommentarfunktion (lesen und schreiben) steht exklusiv nur registrierten Benutzern zur Verfügung.
Wenn Sie bereits ein Benutzerkonto haben, melden Sie sich bitte an. Wenn Sie noch kein Benutzerkonto haben, können Sie sich mit dem Registrierungsformular ein kostenloses Konto erstellen.