20. Oktober 2024 06:00

Menschheitsgeschichte Gesellschaftsteilung als Zukunftsmodell?

Das Konzept der Schismogenese

von Antony P. Mueller

von Antony P. Mueller drucken

Artikelbild
Bildquelle: Paul shuang / Shutterstock Eine Epoche der Freiheit: Nicht nur ein Traum?

In dem Buch „Anfänge. Eine neue Geschichte der Menschheit“, das im Jahr 2021 zuerst auf Englisch erschienenen ist, dokumentieren David Graeber und David Wengrow anhand einer immensen Fülle von anthropologischen, ethnologischen und archäologischen Funden, dass das herkömmliche Bild der menschlichen Evolution nicht länger aufrechtzuerhalten ist. Die Autoren zeichnen ein dramatisch anderes Bild der frühen Menschheitsgeschichte, das unsere grundlegenden Annahmen über die soziale Evolution infrage stellt. Die Ergebnisse der vorgelegten Forschungen zeigen, dass die starre Vorstellung einer Entwicklung, die gleichsam zwangsläufig von Sammlern und Hirten ausgehend über die Landwirtschaft bis zur Gründung von Städten und der Staatsbildung erfolgt, nicht aufrechterhalten werden kann. Die soziale Evolution ist vielmehr sehr viel anarchischer verlaufen, als bisher angenommen wurde, und der Tendenz zur Konzentration steht gleichwertig die Schismogenese gegenüber, das heißt die Aufspaltung von Gesellschaften in verschiedene Teile. 

Schismogenese bezeichnet den Prozess, bei dem soziale Gruppen durch ein eskalierendes Muster von sich verstärkenden Unterschieden und Gegensätzen auseinanderdriften. Sie steht im Gegensatz zur Konzentrationsbewegung, bei der sich Menschengruppen immer mehr zusammenballen. Die Vorstellung, dass sich die Menschen immer mehr in Staaten sammeln und diese dann Staatenbündnisse eingehen, gilt vielfach immer noch als das Modell der historischen Entwicklung. Ein Land, dem diese Zusammenballung nicht gelingt, wird als „failed state“ bezeichnet.

Aber auch unsere Zeit kennt die Spaltung. Jugoslawien hat sich ebenso wie die Sowjetunion in Einzelländer aufgelöst. Doch auch im westlichen Europa sind viele Separationsbewegungen aktiv.

In vielen der Zwangseinheiten, als der sich der moderne Staat darstellt, gärt es. Überall auf der Welt gibt es Beispiele dafür, dass Gruppierungen aus dem Gefängnis der Staatlichkeit ausbrechen wollen. Nicht nur in Bezug auf die Europäische Union kommt dieses Thema zur Sprache, sondern auch für die Vereinigten Staaten. Die Hauptgefahr eines weltweiten Nuklearkrieges geht von den großen Staaten aus, indem jeder einzelne von ihnen danach strebt, Hegemon zu werden.

Das Paradigma der deterministischen Konvergenz, das immer noch als hauptsächliche Norm dient, wird immer wieder durchbrochen und widerlegt die Vorstellung, es gebe einen deterministischen Evolutionsprozess, dem sich alle Gesellschaften notwendigerweise beugen müssten. Besondern die menschliche Frühgeschichte wird besser verständlich, wenn man auch die Schismogenese in Betracht zieht. Es zeigt sich, dass der Prozess der Spaltung sozialer Einheiten nicht die Ausnahme, sondern vielleicht sogar die Regel ist. Bei einer solchen Schismogenese finden gleichsam soziale Zellteilungen statt, indem eine Gruppe in der Gesellschaft eine kulturelle, politische oder religiöse Differenzierung anstrebt und sich abspaltet, also eine eigene neue soziale Einheit bildet. Die Frühgeschichte zeigt nicht die Notwendigkeit eines menschlichen Strebens nach sozialer Assimilierung und der damit verbundenen Unterwerfung unter die jeweiligen Gesellschaftsnormen, sondern vielmehr einen Prozess vielfacher Abtrennung und gesellschaftlicher Neukonstituierung. Die menschliche Frühgeschichte ist voll von Befunden, die zeigen, wie einzelne Gruppen ihrer ursprünglichen Umgebung entfliehen, willkürlichen Autoritäten nicht gehorchen und eine eigene Gesellschaft in einer anderen Form neu erfinden.

So wie die Welt heute besteht, muss es nicht bleiben. Dass heute alle Landmassen in den Händen irgendeines Staats sind, ist kein fixes Gesetz der sozialen Evolution.

Schismogenese, die Aufspaltung von Gesellschaften, gehört ebenso zur menschlichen Frühgeschichte wie Konzentrationsbewegungen. Das derzeit gängige Modell der sozialen Evolution besagt, dass während der langen Dauer der Frühgeschichte die Menschen nur wenige an der Zahl waren, dass sie in kleinen Gruppen lebten und ihren Lebensunterhalt als Sammler und Jäger mehr schlecht als recht sicherten. Nach dieser Vorstellung waren die frühen Menschen Primitive, die in Horden lebten und als solche die weite Welt durchstreiften. Vor etwa zehntausend Jahren soll es dann zu einem revolutionären Umschwung der Lebensformen gekommen sein. In verschiedenen Teilen der Welt begann ein Übergang von der nomadischen Lebensweise hin zum sesshaften Ackerbau und zur Tierhaltung.  Diese „neolithische Revolution“ soll dann weitreichende Auswirkungen auf Gesellschaft, Wirtschaft, Kultur und Technologie gehabt und zur Entstehung der ersten Städte und frühen Zivilisationen geführt haben. Mit der Bildung von Städten und Staaten kamen Bürokratie und Hierarchie. Die gängige Behauptung lautet, dass mit der Städtegründung notwendigerweise die vorherige soziale Gleichheit in der Sammler- und Jägergesellschaft von Machtstrukturen abgelöst wurde. Es wird behauptet, dass mit der Hierarchiebildung eine höhere Entwicklungsstufe erreicht wurde, indem die Menschen ihre ursprünglichen Freiheiten opferten und sich in Hierarchien einfügten. Dieses Bild der menschlichen Evolution mag in manchen Grundzügen nicht ganz falsch sein, aber wie Graeber und Wengrow zeigen, gibt es nicht den behaupteten Aspekt der Notwendigkeit und Zwangsläufigkeit. Nach ihren Forschungen war die Entstehung hierarchischer Gesellschaften und freiheitsvernichtender Staaten weder notwendig noch zwangsläufig. Vielmehr haben die Menschen es verstanden, ihre Freiheiten immer wieder auch für lange Zeit zu bewahren und haben mit einer Vielzahl sozialer und politischer Arrangements experimentiert. Die Wege der menschlichen Geschichte sind voll von erstaunlichen Kehrtwendungen, Gabelungen und Umwegen. Dementsprechend lautet die Botschaft dieses Buches, dass die Welt, so wie sie heute ist, nicht zwangsläufig zustande kam. Staat, Hierarchie und Kontrolle stellen ebenso wenig eine Notwendigkeit dar wie soziale Ungleichheit. Neuere archäologische Funde belegen, dass auch größere Bevölkerungszahlen nicht unbedingt die heute vorhandenen umfassenden Kontrollsysteme des modernen Staates brauchen. Folglich muss es auch in Zukunft nicht so sein. Das Buch eröffnet anhand eines reichen völkerkundlichen und archäologischen Materials die Perspektive, dass es eine Gesellschaftsordnung jenseits von Staat und Politik geben kann. Der Geschichtsverlauf ist nicht deterministisch. Ungleichheit und Unfreiheit sind nicht notwendig. Es sind mehr Optionen vorhanden, als gemeinhin behauptet wird. Der von den Herrschenden gepredigten Alternativlosigkeit zum gegenwärtigen System der politisch-technokratischen Hierarchie fehlt die Grundlage. Die historische Kontingenz zeigt, dass es auch anders hätte sein können, wie es war und wie es zum gegenwärtigen Zustand gekommen ist. Die Zukunft ist offen für Gesellschaftsformen jenseits von Staat und Politik.

Ebenso wie bei der unkritischen Übernahme der Evolutionstheorie von Darwin, hat man auch die aus dem 18. und 19. Jahrhundert stammende These unhinterfragt übernommen, die frühe Menschheitsgeschichte sei in abgrenzbaren Stufen verlaufen. Demgegenüber zeigen Graeber und Wengrow, dass die Menschen jahrtausendelang in großen, komplexen, aber dezentralisierten Gemeinwesen lebten. Wie viele neuere archäologische Funde zeigen, waren die frühgeschichtlichen Gesellschaften in ihren Strukturen äußerst vielfältig. Die Menschen waren erstaunlich experimentierfreundlich und politisch-gesellschaftlich wach. Die These einer notwendigen Verbindung von Agrarrevolution und Gesellschaftshierarchie lässt sich nicht aufrechterhalten. Die Ursprünge des Staates sind kontingent. Der Staat in seiner heutigen Gestalt ist – menschheitsgeschichtlich betrachtet – keine Notwendigkeit. In der Frühgeschichte gab es bei den Formen des politischen Zusammenlebens viel mehr Flexibilität, als bisher angenommen wurde.

Das vereinfachte Modell der sozialen Evolution, wonach es eine determinierte Abfolge gebe, sodass es, ausgehend von Sammlergruppen und Stämmen mit Häuptlingen, zu immer größeren Gebilden und schließlich zu Städten und Staaten gekommen und damit als soziales Pendant notwendigerweise die sozialen Rangordnungen entstanden seien, hält angesichts der Entdeckungen, die vor allem in den vergangenen Jahrzehnten gemacht wurden, nicht stand. Domestizierung von Tieren und Landwirtschaft führten nicht zwangsläufig zur Entstehung von Aristokratien, stehenden Heeren oder zur Schuldknechtschaft, und der Aufstieg der Städte hat die Entstehung starrer Hierarchien und Institutionen und andere Formen der sozialen Kontrolle nicht notwendigerweise hervorgebracht. Städtische Zentren der Vorzeit gingen nicht automatisch mit dem herrschaftlichen Dreigestirn von Regierung (Königen), Priestern und Bürokraten einher. Auch große Bevölkerungen kamen ohne Monarchen zurecht. Die Autokratie hat sich zwar weit verbreitet, aber sie war nie universell. Wo sie entstand, ist sie ebenso oft auch zusammengebrochen. Große Reiche entstanden, aber keines hat sich gehalten.

Es gibt keine „ursprüngliche“ Form der Gesellschaft. Das Zusammenleben von Menschen in städtischen Siedlungen hat nicht automatisch zum Verlust persönlicher Freiheiten oder zum Aufstieg herrschender Eliten geführt. Die archäologischen Beispiele weisen darauf hin, dass gesellschaftliche Kooperation auch ohne Hierarchie möglich ist. Eine solche Gesellschaft wird nicht gigantische Monumente hinterlassen, die die jeweiligen Herrscher preisen sollen. Anstatt Paläste und Grabdenkmäler zu errichten und einen Herrschaftsapparat zur eigenen Unterdrückung zu erhalten, dürfen die Menschen in kleinen Einheiten den erarbeiteten Wohlstand eher selbst genießen.

Es ist an der Zeit, sich von den Vorstellungen zu lösen, die zum Bestandteil des heute feststehenden Weltbildes gehören, wonach der Staat der Gipfel der Zivilisation sei. Die Herrschenden argumentieren gern mit der Alternativlosigkeit ihrer Zwangsmaßnahmen und stellen „Anarchie“ als gleichbedeutend mit Chaos dar. Das Buch „Anfänge. Eine neue Geschichte der Menschheit“ hilft, diese Propaganda zu durchzuschauen. Den Anarchokapitalisten geben die zusammengetragenen Studien genug Stoff, um ihre Vorstellung, dass nach dem Zeitalter der Staatenbildung und der Machtkonzentration eine neue menschheitsgeschichtliche Epoche der Freiheit möglich ist, sachlich fundierte Argumente zu liefern.

David Graeber und D. Wengrow: „Anfänge. Eine neue Geschichte der Menschheit“ (2024)

 Antony P. Mueller: „Kapitalismus, Sozialismus und Anarchie. Chancen einer Gesellschaftsordnung jenseits von Staat und Politik“


Sie schätzen diesen Artikel? Die Freiheitsfunken sollen auch in Zukunft frei zugänglich erscheinen und immer heller und breiter sprühen. Die Sichtbarkeit ohne Bezahlschranken ist uns wichtig. Deshalb sind wir auf Ihre Hilfe angewiesen. Freiheit gibt es nicht geschenkt. Bitte unterstützen Sie unsere Arbeit.

PayPal Überweisung Bitcoin und Monero


Kennen Sie schon unseren Newsletter? Hier geht es zur Anmeldung.

Artikel bewerten

Artikel teilen

Kommentare

Die Kommentarfunktion (lesen und schreiben) steht exklusiv nur registrierten Benutzern zur Verfügung.

Wenn Sie bereits ein Benutzerkonto haben, melden Sie sich bitte an. Wenn Sie noch kein Benutzerkonto haben, können Sie sich mit dem Registrierungsformular ein kostenloses Konto erstellen.