10. Mai 2024 06:00

Wilhelm Reichs Massenpsychologie des Faschismus – Teil 5 Nazis als echte Sozialisten

Das Ringen mit der Bürde des Antikapitalismus

von Stefan Blankertz

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Bildquelle: Picryl Aus dem Jahr 1932: Wahlplakatausschnitt der Nationalsozialisten

Heute kann man manch einen Linken bereits in Rage versetzen, wenn man, statt zu „Nazis“ abzukürzen, von „Nationalsozialisten“ spricht. Kein Schmutz darf auf das geheiligte Schlabberlätzchen des Sozialismus gelangen. Sie tun ganz so, als gäbe es nur eine oder nur eine richtige und wahre Form des Sozialismus. Sie wollen vergessen, was marxistische Sozialisten dann unter Josef Stalin oder Mao Zedong den Menschen angetan haben. Sie unterstellen, es wäre besser gewesen, wenn die Nationalsozialisten echte Sozialisten gewesen wären. Wir können diese Verwirrung gut bei Wilhelm Reich aufspüren. Er ringt mit ihr. Er weiß, dass sie falsch ist. Er findet aber keinen geeigneten Packan, um sie zu überwinden.

Am Anfang seiner „Massenpsychologie“ konstatiert Wilhelm Reich „das Versagen der Arbeiterinternationale beim Ausbruch des Ersten Weltkriegs“. Das „Versagen“ der sozialistischen Arbeiterbewegung setzt nicht bei Stalin ein, nicht einmal bei Lenin (den Wilhelm Reich über alle Maßen verherrlichte und sogar in der Fassung von 1946 aus der Schusslinie der Kritik herauszunehmen versuchte), sondern es bestand darin, dass sie beim Ausbruch des Ersten Weltkriegs keine internationale Front gegen die kriegführenden Staaten zu bilden vermochten. Das Konzept der sich (teils fälschlich) auf Karl Marx berufenden Sozialisten in der reformistischen ebenso wie in der revolutionären Variante war bereits 1914 erledigt und hatte nicht erst 1917, 1927 oder gar 1934 seine Unschuld verloren.

Wie wurde „der massenpsychologische Boden fähig, die imperialistische Ideologie aufzusaugen, die imperialistischen Parolen in Tat umzusetzen. Man beantwortet die Frage nicht zufriedenstellend, wenn man den ,Umfall der Führer der Zweite Internationale‘ dafür verantwortlich macht. Warum ließen sich die Millionenmassen der freiheitlich und antiimperialistisch gesinnten Arbeiter verraten?“, fragte Reich 1933. „Wer die Mobilisierung 1914 mitgemacht hat, weiß, dass sich in den Massen verschiedenartige Stimmungen zeigten. Von bewusster Ablehnung bei einer Minderheit angefangen über eine merkwürdige Ergebenheit in das Schicksal oder einer Stumpfheit bei sehr breiten Schichten bis zu heller Kriegsbegeisterung nicht nur in Mittelschichten, sondern weit hinein in Industriearbeiter-Kreise. Die Stumpfheit der einen wie die Begeisterung der anderen waren fraglos massenstrukturelle Fundierungen des Krieges.“ Die Kriegsbegeisterung ist das eigentliche Fundamt des Verhängnisses.

Das „Versagen“ ist also nicht in einer subjektiven Bosheit oder einer persönlichen Unzulänglichkeit der Führer zu suchen, sondern gerade darin, dass sie den Massen folgen (nicht etwa die Masse ihnen). Die Massen und ihre Psychologie sind das Problem und auch irgendwie das Übel selber: dass es sie gibt. Dass sie strukturiert sind, wie sie es sind.

Dann kommt Wilhelm Reich auf „kluge, ehrlich gesinnte, wenn auch nationalistisch und metaphysisch denkende Revolutionäre wie Otto Strasser“ (1897 –1974) zu sprechen. Strasser gehörte dem sozialistischen Flügel der NSDAP an, die er Mitte 1930 verließ, und emigrierte Anfang 1933. Sein Bruder Gregor, der Mitglied der Partei blieb, wurde im Rahmen des vermeintlichen Röhm-Putsches 1934 von der SS ermordet. Kaum zu glauben, dass Wilhelm Reich ernsthaft davon ausgehen konnte, Otto Strasser wäre als Machthaber weniger schlimm wie Hitler oder wie Stalin gewesen. Reich selber weist ja oft genug darauf hin, dass der Faschismus nicht auf den schlechten Charakter einiger führender Köpfe zurückgeführt werden könne, sondern vielmehr in einer zum Faschismus treibenden gesellschaftlichen Dynamik gründe.

Dass Reich dieser Verklärung erlag, ist für mich erschreckend. Er hätte es besser wissen können und sollen. Und doch passt der Ausrutscher bezüglich Otto Strassers ins Bild: In gleicher Weise behauptete er, die bolschewistische Revolution in Russland wäre segensreich gewesen beziehungsweise geblieben, wenn bloß hätte verhindert werden können, dass Josef Stalin die Macht übernimmt. Manche Male behauptete er es, doch auch hier wusste er’s besser. Es ist immer wieder dasselbe Elend: Man kann es nicht lassen, auf die Güte der Mächtigen zu hoffen.

Was Wilhelm Reich verführt haben mochte, Otto Strasser die Stange zu halten, könnte Reichs fehlgeleiteter Antikapitalismus sein. Strasser war der führende Kopf des linken, des anti-kapitalistischen Flügels der NSDAP und ein erklärter Gegner Hitlers. Das allein macht ihn noch lange nicht zu einem guten Menschen, ebenso wenig, dass er sich kaum für Antisemitismus erwärmte. Auch nach dem Zweiten Weltkrieg engagierte er sich weiter in rechtsradikalen antikapitalistischen Kreisen. Seine Alternative zum Kapitalismus war jedoch der Staat. Und in der Fassung der „Massenpsychologie“ von 1946 macht Reich eins deutlich: Für ihn ist der Staat keine Lösung. Er ist das Problem.

Hingegen blendete Wilhelm Reich vollständig aus, dass der Holodomor der UdSSR in der Ukraine 1932, der Beginn der Lager, der Schauprozesse, das Abschlachten der Anarchisten und anderer Oppositioneller vor allem dazu beitrugen, dass der Parteikommunismus in den Augen von immer weniger Menschen Deutschlands als Alternative für das Elend der Demokratie gesehen werden konnte. Die Massen haben die schlechteste aller Möglichkeiten gewählt. Warum? Darum geht es in der „Massenpsychologie des Faschismus“, wenn wir sie aus einer heutigen Perspektive an Wilhelm Reich anknüpfend, jedoch auch über ihn hinausgehend weiterführen wollen.

Beim Lesen dieser entsprechenden Passagen ist Reichs Verwirrung körperlich spürbar: „Ohne das Versprechen, den Kampf gegen das Großkapital aufzunehmen, hätte Hitler die Mittelschichten nie gewonnen. Sie verhalfen ihm zum Sieg, weil sie gegen das Großkapital waren. Sofern der Nationalsozialismus seinen Charakter als Mittelschichtbewegung hervorzukehren gezwungen war (vor der Machtergreifung und knapp nachher), ist er in der Tat antikapitalistisch.“

Sofern Antikapitalismus revolutionär ist, ist Revolution falsch. In Wirklichkeit ist der Antikapitalismus aber das A und O des bestehenden Etatismus: Darum finanzierte das Großkapital die NSDAP beim Endspurt, also nachdem klar war, dass die Weimarer Republik keinen Bestand mehr haben würde. Die nationalsozialistische „Revolution“ war das Gegengift gegen eine Erhebung, die die faschistischen nicht weniger als die kommunistischen sowie etablierten Bonzen hinweggefegt hätte. Hätte. Denn die Freiheit war aufgeteilt in zwei Lager, den Liberalismus und den Anarchismus, die sich gegenseitig bekämpften und stattdessen mit ihren jeweiligen Erzfeinden paktierten: Liberale mit den Faschisten, Anarchisten mit den Kommunisten, von denen sie umgehend, nachdem sie ihre Funktion als nützliche Idioten übererfüllt hatten, an die Wand gestellt wurden. Wilhelm Reich entkam mit knapper Not; nie hat er bis dahin gefunden, seine Verankerung in jenen beiden Lagern der Freiheit gänzlich zur Kenntnis zu nehmen – leider.

Mir scheint ein Schaudern durch Wilhelm Reich zu gehen, wenn er einen Dr. Jarmer – Rechtsanwalt und im NS-Staat für „Raumordnung“ (ein Euphemismus für die brutale „Osterweiterung“) zuständig – aus dem „Angriff“ vom 24. September 1931 zitiert, der als Trennlinie zwischen den Deutschnationalen und Nationalsozialisten definiert, dass sich Erstere nur gegen den internationalen, Letztere jedoch auch gegen den nationalen Kapitalismus wendeten. Reich dazu: „Das klingt fast kommunistisch.“ Das klingt (ja) fast, als hätten die Nationalsozialisten zu den Guten werden können, wenn sie echte Kommunisten gewesen wären und sich Otto Strasser durchgesetzt hätte.

Reich sagte 1946: „Die faschistische Ideologie meinte es ehrlich. Wer diese subjektive Ehrlichkeit nicht einsah, begriff den ganzen Faschismus und seine Anziehungskraft auf Massen nicht. Es ist nie aus den Augen zu verlieren, dass Hitler stets an den berechtigten Hass des Massenmenschen gegen die Scheindemokratie und das Parlamentssystem anknüpfte.“ Die faschistische Ideologie, heißt dies, meinte es ehrlich mit ihrem Antikapitalismus und Sozialismus. Und Antikapitalismus wie Sozialismus sind, vom Standpunkt der Freiheit, des Wohlstands jedes Menschen und seiner Lebenslust ausgehend, falsch.

Auch heute fehlt ein jedes Verständnis dafür, dass der viel gescholtene und nie verstandene (Rechts-) Populismus irgendein Interesse bedienen muss, weil er sonst keine Massenbewegung werden könnte und kein Populismus wäre. Bezogen auf Populismus, reagiert die herrschende „Linke“ genau wie vordem bezogen auf den Faschismus, indem sie eine (soziologische) Erklärung mit der (politisch-moralischen) Akzeptanz gleichsetzt. Auch diese Abwehr von Erklärung ist natürlich aus dem Interesse der Herrschenden heraus zu erklären, da die Erklärung ihren Anspruch auf Herrschaft schmälert. Es ist nicht schwer zu verstehen, aber sehr schwer zu realisieren, dass Opposition kein Erfolgsrezept ist. Darum leben wir, wie Herbert Marcuse sagte, in einer eindimensionalen Gesellschaft ohne Opposition.


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