17. Juni 2025 16:00

17. Juni 1953 „Szenen der Befreiung“

Es ist gut, dass heute kein staatlicher Feiertag ist

von Christian Paulwitz drucken

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Bildquelle: Wikimedia Commons / Public Domain 17. Juni 1953: Staat bei der Arbeit, nachdem sich Menschen erdreisteten, gegen ein Unrechtsregime aufzubegehren

Der Historiker Hubertus Knabe schreibt auf seiner Seite, dass im Jahr vor dem Volksaufstand in der DDR am 17. Juni 1953 die breite Unterstützung der Massenproteste gegen das SED-Regime, der sich entfaltete, von großem Mut zeuge. Die Herrschenden hätten in den Monaten zuvor ausreichend deutlich gemacht, dass sie zu gnadenlosem Terror bereit waren. Zehntausende seien im zurückliegenden Jahreszeitraum wegen Nichtigkeiten zu langen Zuchthausstrafen verurteilt worden. Offenbar hätte die Bevölkerung nun reale Hoffnungen auf einen Regimewechsel gehabt.

„Dass dies heute kaum mehr präsent ist, hat vor allem damit zu tun, dass Geschichte in der Regel von ihrem Ende her betrachtet wird. Dabei verkürzen sich historische Prozesse auf ihr Ergebnis. Im Fall des Aufstands am 17. Juni geht dadurch die ungewöhnliche Kraft verloren, mit der ein Großteil der Ostdeutschen 1953 gegen das sozialistische Regime aufbegehrte.“

Ich finde diese Betrachtung sehr gelungen und wichtig für unser Verständnis der Gegenwart. Knabes Darstellung, zum 70. Jahrestag geschrieben, ist sehr lesenswert. Wer denkt heute – von denjenigen, denen der 17. Juni 1953 überhaupt noch etwas sagt – an die politisch Inhaftierten der Zeit vor dem Volksaufstand? Damals waren sie offenbar sehr präsent im Bewusstsein. Vielerorts wurden die Gefängnisse von der Volksmenge gestürmt und Gefangene befreit – nicht in einem blinden revolutionären Sturm wie so oft in der Geschichte und womöglich in blutiger Raserei. Vielmehr wurde mancherorts mit dem kooperierenden, hilflosen Wachpersonal geprüft, welche Gefangenen aus politischen Gründen inhaftiert waren und freizulassen sind, und welche wegen echter krimineller Handlungen im Zuchthaus waren.

Nichts deutet darauf hin, dass die Massenproteste damals zentral gesteuert und koordiniert wurden, wenn auch die Berichte der westlichen Medien in diesen Tagen einen Anteil an der Dynamik gehabt haben mögen.

Wie kam es aber zu so einer breiten Bewegung, die nicht nur die größeren, sondern auch kleinere Städte umfasste, bis in die Dörfer? Die Zeit muss wohl reif gewesen sein. Das Regime hat überzogen. Die Reaktion auf eine Erhöhung der „Arbeitsnormen“ in den staatlichen Betrieben hat zu landesweiten Streiks und Kundgebungen geführt. Für gleichbleibende Entlohnung durch die misswirtschaftenden Staatsbetriebe sollte zehn Prozent mehr gearbeitet werden. Es war der Punkt gekommen, wo eine ausreichend große Minderheit für sich erkannt hat: Das dürfen wir nicht mit uns machen lassen. Der Unmut hat eine Schwelle genommen, die den einen im Gesicht des anderen erkennen ließ: Der will das auch nicht mit sich machen lassen – wir stehen auf der gleichen Seite. Wir können uns vertrauen.

Solche Momente sind für ein autoritäres Herrschaftssystem, dessen Akteure in einer eigenen Blase leben, kaum möglich vorauszusehen. Auch heute nicht. Die Gefahr ist ihnen jedoch grundsätzlich bewusst. Wie die zentrale Steuerung der Produktion aufgrund mangelnden Wissens zum Scheitern verurteilt ist, so kann auch die zentrale Kontrolle und Steuerung der Bevölkerung nicht zum Erfolg führen, da sie ebenso nur auf angemaßtem Wissen beruhen kann. Fehleinschätzungen sind zwangsläufig und die Folge kann für die Obrigkeit verheerend sein.

In meiner Jugend war der 17. Juni ein staatlicher Feiertag der Bundesrepublik Deutschland. Nach dem Mauerfall und der Wiedervereinigung wurde er durch den 3. Oktober ersetzt. Damals war ich verständnislos, wenn nicht empört. Statt eines nationalen Tages des Volksaufstands gegen eine Obrigkeit des Unrechts – auch der 9. November 1989 hätte sich angeboten – hatte man einen Bürokratentag der formalen Unterzeichnung des staatlichen Einigungsvertrags als Staatsfeiertag gewählt. Ich denke längst anders darüber. Der 3. Oktober ist der dem deutschen Staat angemessene Bürokraten-Feiertag. Den 17. Juni hat er nicht verdient – er ist ein nationaler Gedenktag des Volkes und nicht des Staates; als nationaler Feiertag sozusagen nicht zeitgemäß.Es ist gut, dass der Staat ihn nicht mehr beansprucht. Er würde nur das Gedenken verhöhnen.

In einer freien Gesellschaft sollte es möglich sein, dass sich zurückliegende Ereignisse von Bedeutung auch ohne Staat im kollektiven Gedächtnis verankern können. Mir ist der 17. Juni jedes Jahr fast präsenter als in den Jahren des staatlichen Feiertags, wobei ich aber auch einen mittelbaren familiengeschichtlichen Bezug habe.

Das Bild des Volksaufstands ist geprägt von den sowjetischen Panzern, die ihn schließlich niederschlugen. In Berlin konnte die westliche Presse das quasi vor der Haustür mitverfolgen. Die Bilder gingen entsprechend um die Welt. Die unzähligen Geschichten im Kleinen vom Tag, als die Staatsmacht die Kontrolle verlor, sind vergessen oder nur wenigen Historikern bekannt, die sich damit beschäftigen. Historische Prozesse verkürzen sich auf ihr Ergebnis: der Aufstand wurde niedergeschlagen. Der 17. Juni ist der Tag seiner Niederschlagung, nicht des Beginns und seiner Erfolge. Am Ende gab es Todesopfer, Standgerichte, Hinrichtungen, Menschen kamen ins Zuchthaus, andere in die berüchtigten Arbeitslager in Sibirien. – Und dennoch: War das das Ergebnis des 17. Juni oder war er eine Vorbedingung für den Mauerfall 36 Jahre später?

Anders als bei den Menschen damals in der DDR zielen unsere Hoffnungen heute allerdings nicht auf einen Regimewechsel. Wechselnde Regime stellen bestenfalls Zwischenschritte auf dem Weg in eine freie(re) Gesellschaft dar. Immer häufiger weisen sie sogar zunächst noch in die entgegengesetzte Richtung. Doch daran, dass unsere Hoffnungen auf lange Sicht real sind, daran hat auch der Volksaufstand vom 17. Juni seinen Anteil. Es ist möglich, dass Menschen in großer Zahl erkennen, dass sie sich gegen autoritäre Herrschaft erwehren müssen. Weil es das Richtige ist und klar ist, dass der Nächste das auch weiß. Der Erfolg ist offen, aber möglich.

Siehe auch:

Szenen der Befreiung (Hubertus Knabe)


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