Ethisch am Ende: Die Feigheit und Faulheit „unserer Demokraten“
Mandatsträger und Regierungsangehörige sind Repräsentanten einer moralischen Korruption
von Christian Paulwitz drucken

Am Freitag hat das Schmierenstück, das Deutschland mit Grundgesetzänderung und „Sondervermögen“ beschäftigt hat, mit der erwartbaren Zustimmung des Bundesrats seinen vorläufigen Abschluss gefunden. Angesichts der Diskrepanz zwischen Ankündigung vor der Wahl und Handlung nach der Wahl hat es dabei Äußerungen einiger Akteure gegeben, die ein bezeichnendes Schlaglicht auf die geistige und charakterliche Verfassung „unserer Demokratie“ – Sie wissen, was ich meine – und seiner Mitspieler wirft.
Wie sich „unsere Demokraten“ selbst sehen, dazu mag Wikipedia eine gewisse Orientierung bieten: „Demokratie (von altgriechisch δημοκρατία dēmokratía Volksherrschaft) ist ein Begriff für Formen der Herrschaftsorganisation auf der Grundlage der Partizipation beziehungsweise Teilhabe aller an der politischen Willensbildung.“
Herrschaftsorganisation und Teilhabe sind hier die beiden wichtigen Stichwörter, wobei „Teilhabe“ ein unpräziser Begriff ist, dessen politischer Anwendungsbereich sehr vielfältig und dessen inhaltliche Bedeutung schwer erfassbar ist, einer näheren Betrachtung bedarf. Folgt man Wikipedia weiter, so findet man unter Teilhabe beziehungsweise Partizipation bezüglich Menschen mit Behinderung den Ausdruck „Einbezogensein in eine Lebenssituation“; da Menschen, die einer Herrschaftsorganisation unterworfen werden, ohne Zweifel in ihrer Freiheit behindert sind, kann man dies unmittelbar auf die Demokratie übertragen: Menschen, die der Herrschaftsorganisation durch eine Demokratie unterliegen, sollen – so die Vorstellung – offenbar in die „politische Willensbildung“ einbezogen werden. Individuell bleiben sie natürlich voll und ganz Objekte der Herrschaftsausübung, kein Zweifel.
Ferner werde, so Wikipedia weiter, zwischen drei Ausführungsvarianten der Demokratie unterschieden: der liberalen, der repräsentativen und der direkten Demokratie. Bei der liberalen Demokratie gehöre zu den Kernelementen die Aufteilung der Staatsgewalt in voneinander unabhängige Organe der Regierung, Gesetzgebung und Rechtsprechung. Offenkundig kann sich Deutschland nicht als liberale Demokratie verstehen, sonst würde die Regierung nicht von einer Parlamentsmehrheit getragen, Staatsanwälte wären nicht weisungsgebunden gegenüber Regierungen, hohe Gerichte würden nicht von Regierung und Parlament tragenden Parteien durch ehemalige Abgeordnete und Regierungsangehörige ersetzt und so weiter. Die Attribute einer direkten Demokratie kommen auch nicht in Frage. Vielmehr versteht sich der deutsche Parteienstaat als repräsentative Demokratie, in der gewählte Repräsentanten zentrale politische Entscheidungen treffen.
„Man kann sich nicht darauf verlassen, dass das, was vor den Wahlen gesagt wird, auch wirklich nach den Wahlen gilt.“ Das sagte Angela Merkel schon 2008 und war auch damals eigentlich nichts Neues; nur einmal klar und deutlich ausgesprochen. Abgeordnete sind bei ihren Abstimmungen nur ihrem Gewissen verantwortlich, so will es das Grundgesetz. Dass dieses nur in seltenen Ausnahmen nicht mit dem des Fraktionsvorsitzenden in Übereinstimmung ist, kann man als erstaunlichen Zufall bezeichnen. Gewählte Repräsentanten treffen zentrale politische Entscheidungen. Wessen Repräsentanten?
Die des Wahlvolkes, wie es die Demokratieerzählung versteht.
Wahlkampfzeit. Am 4. Dezember teilte Friedrich Merz bei Sandra Maischberger mit wichtiger Miene mit: „Ich will Ihnen mal sagen, warum ich bei der Schuldenbremse so klar bin: Die schützt das Geld und die Steuerzahlungen der jungen Generation. Und jetzt sitzen hier einige aus der jüngeren Generation [Merz deutet über die Schulter ins Studiopublikum]. Sollen wir deren Geld heute schon ausgeben, weil wir mit dem, was wir haben, nicht auskommen? Wir nehmen 1000 Milliarden Steuern ein pro Jahr, und damit sollen wir nicht auskommen?“
Es ist die Skrupellosigkeit, mit der man sich nicht einmal mehr die Mühe gibt, dem Wahlvolk noch eine wenigstens in Ansätzen konsistente Demokratieerzählung aufzutischen, die die Menschen so empört. Nicht diejenigen, die Gestalten wie Friedrich Merz und Konsorten von vornherein nichts geglaubt haben, sind es, die „unsere Demokratie“ nun verliert, sondern diejenigen, die jetzt schockiert sind, mit welch offener Verachtung für die eigene Erzählung Mandatsträger nahezu unbeschwert ihr vom Grundgesetz vorausgesetztes Gewissen überwinden können. Mit denjenigen Menschen, denen hierzu – unabhängig von der eigenen politischen Position – die Sensibilität fehlt und die nur mit Verweis auf die Legitimität von Entscheidung durch Mehrheiten die Achseln zucken, kann man sowieso alles machen.
Es lohnt sich daher, exemplarisch noch ein paar andere Äußerungen der letzten Tage herauszugreifen, um die tatsächliche Bedeutung der repräsentativen Demokratie deutscher Ausprägung zu erfassen.
Am 4. März spricht Anton Hofreiter von den Grünen im Talk bei Markus Lanz offen aus, was treue CDU-Wähler gerne ignorieren würden. Merz habe sich an die Macht gelogen. Die Entscheidung, nach der Wahl die Axt an die „Schuldenbremse“ zu legen und mit vollen Händen Geld auszugeben, sei schon vor der Wahl gefallen. Am 12. März legt Roderich Kiesewetter (CDU) nach und bestätigt quasi die Behauptung von Hofreiter. Aus Angst vor den Wahlergebnissen der AfD wurden die Wähler belogen.
Und die Abgeordneten von CDU und CSU?
Gerade mal einer hat gegen die Änderung des Grundgesetzes gestimmt. Dieser wird im neuen Bundestag nicht mehr dabei sein. Aber wie können die ihrem Gewissen verantwortlichen Abgeordneten ansonsten alle zustimmen? Einen erhellenden Einblick in die politisch erlernte Kompromissfähigkeit gibt Klaus-Peter Willsch (Motto: Klare Werte. Klare Worte). Er schreibt in seinem Hauptstadtbrief:
„Ich danke allen für gegebenen Rat und entschuldige ich bei meinen fünf Kindern und zwei Enkeln sowie denen, die von dieser Entscheidung persönlich enttäuscht sind.“
Mit diesem Satz weiß er offenkundig über die Tragweite einer falschen Entscheidung und tröstet sich: „Aufgrund des geänderten Grundgesetzes fließt kein einziger Cent. Alles muss einfach gesetzlich von einer neuen Mehrheit geregelt werden.“
Wenn Sie noch die mit seiner Zustimmung verknüpften Erwartungen interessiert, die nicht das Papier wert sind, auf denen sie möglicherweise einmal ausgedruckt werden, können Sie dies in dem verlinkten psychologischen Schriftstück nachlesen.
Und dann ist da noch der „Bundesrat“, dessen Zustimmung von der der „Freien Wähler“ abhing, und die besondere Rolle des Vorsitzenden Hubert Aiwanger in der bayerischen Landesregierung. Wir lesen im Bundestagswahlprogramm der „Freien Wähler“ das Versprechen nach:
„Wir setzen uns konsequent für einen verfassungskonformen Bundeshaushalt ein. Die Einhaltung der Vorgaben des Grundgesetzes ist für uns nicht verhandelbar. Trickreiche Gestaltung oder Schattenhaushalte lehnen wir entschieden ab. Die Schuldenbremse hat sich als wirksames Instrument zur Begrenzung der Staatsverschuldung bewährt. Wir stehen zu diesem Verfassungsgebot und lehnen Versuche, die Schuldenbremse aufzuweichen oder zu umgehen, entschieden ab.“
Na, das klingt doch prima. Stichwort „konsequent“, „entschieden“ und Ablehnung „trickreicher Gestaltung oder Schattenhaushalte“. Klare Worte wie ein Schwur, ohne Wenn und Aber. Das flößt doch Vertrauen ein, nicht wahr?
Wenn da nicht der Trick mit der Ableitung eines Schwurs wäre, den früher in Bayern – und ganz gewiss auch in Niederbayern – jeder Schuljunge kannte. Im Mittelalter-Lexikon wird er folgendermaßen beschrieben: „Das ‚Ableiten‘ des Eides geschah in der Absicht, den beabsichtigten Eidbruch straflos zu machen. Es wurde dadurch bewirkt, dass der Schwörende – während er die Rechte zum Schwur erhob –, in einer analogen Geste mit den ausgestreckten Schwurfingern der Linken hinterrücks zum Boden zeigte…“
Im Wahlprogramm der „Freien Wähler“ liest sich die zum Boden gezeigte linke Hand dann so:
„Gleichwohl dürfen Haushaltsregeln nicht die dringend notwendige Modernisierung des Landes aufhalten. Deshalb halten wir an unserer Forderung nach einer Investitionsklausel für einige wenige elementare Vorhaben von überragender Bedeutung – etwa in Form eines investiven Sondervermögens – unter Beibehaltung der Schuldenbremse fest.“
Hund san’s scho. Selber schuld, wer nicht zu Ende liest oder sich durch das Geschwurbel verwirren lässt und nur die klaren Formulierungen im Kopf behält.
Doch Aiwanger begründete nach dem zunächst angekündigten „Nein“ zur Lockerung der Schuldenbremse seine Zustimmung dann doch etwas anders, nämlich damit, dass er ansonsten aus der bayerischen Regierung geflogen wäre, Söder ihn also entlassen hätte. Neben der Merkwürdigkeit, seine persönlichen Ambitionen über eine als falsch erkannte Entscheidung zu stellen, die die Voraussetzung schaffen soll, Generationen mit Schulden zu belasten, ist seine Begründung vor allem unzutreffend. Wie der Staatsrechtler Ulrich Vosgerau feststellt, kann aufgrund einer Besonderheit der bayerischen Verfassung Söder mit der Entlassung Aiwangers nicht die Koalition mit den „Freien Wählern“ beenden, ohne dann auch selbst zurückzutreten. Niemand weiß das besser als Aiwanger, denn dies war der Grund, warum Söder an Aiwanger in der Schulranzen-Affäre festhielt – der eine oder andere Leser wird sich erinnern. Der tatsächliche Grund für das Einknicken Aiwangers muss also ein anderer sein. Man wird wohl nicht falsch liegen, wenn man angesichts des politischen Milieus im weiteren Sinne entweder Erpressung oder Bestechung als Hintergrund vermutet. Nun, einen höheren Staatsposten wird man Aiwanger wohl nicht versprochen haben.
Um es noch einmal zu wiederholen: Es fehlt „unseren Demokraten“, die sich gerne als solche gegenseitig auf die Schultern klopfen, nicht an Skrupellosigkeit beziehungsweise gegenüber dem Wähler nicht an Schamlosigkeit, die eigene Demokratieerzählung zu verhöhnen. Man entscheidet so, wie man es gerade will, ungeachtet dessen, was man vorher offiziell für Positionen vertreten hat, während man bereits damals das Gegenteil umzusetzen bereit war. Dabei bemüht man sich nicht einmal mehr, einen gewissen Schein zu wahren. Die Wahl dient ausschließlich der formalen Legitimation von Herrschaftsentscheidungen und nicht der Umsetzung eines angenommenen kollektiven Wählerwillens. Das ist trotz oder gerade angesichts der unzähligen gedroschenen Phrasen auch jedem klar, der in diesem korrupten Spiel mitspielt.
In gewisser Weise dürfte allerdings der Begriff der repräsentativen Demokratie durchaus treffend sein für den politischen Zustand Deutschlands. Denn die Arroganz der Entscheidungsmacht wird ja nicht aus Zufall so zur Schau getragen – sie wird in weiten Teilen der Bevölkerung akzeptiert. Die formalen Entscheider, die Abgeordneten oder Regierungsvertreter, die in Abstimmungen ihr Votum abgeben, handeln selbst auch nicht wie echte Entscheider, die besonnen abwägen, die Folgen ihrer Entscheidungen bedenken und aufgrund ihrer Verantwortung nicht zuletzt gegenüber ihrem Gewissen handeln, sondern wie gehorsame Untertanen, die das tun, was von ihnen erwartet wird – von wem auch immer, der in der Parteienhierarchie und/oder darüber hinaus über ihnen steht. Insofern mögen sie tatsächlich würdige Repräsentanten ihrer Wähler sein, die sie verachten.
Immanuel Kant stellte seinerzeit fest: „Faulheit und Feigheit sind die Ursachen, warum ein so großer Teil der Menschen, nachdem sie die Natur längst von fremder Leitung freigesprochen (naturaliter maiorennes), dennoch gerne zeitlebens unmündig bleiben; und warum es anderen so leicht wird, sich zu deren Vormündern aufzuwerfen.“
Deutschland – und nicht nur Deutschland – befindet sich in einer großen ethischen Krise, die angesichts von Sozialstaatserwartungen, Inflation und außer Kontrolle geratender Staatsschuldendynamik nicht überraschen kann. Nur die Überwindung von Faulheit und Feigheit wird diese Krise überwinden.
Siehe auch:
Klaus-Peter Willsch: Hauptstadtbrief (Ausgabe 166, 18. März 2025)
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