22. Oktober 2025 18:00

„The Woke Right“ „Wer die Waffen seines Gegners übernimmt, wird ihm ähnlicher, als ihm lieb ist“

Wirkliches Aufwachen sieht anders aus

von Joana Cotar drucken

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Bildquelle: fran_kie / Shutterstock Freiheit des Geistes: Raus aus allen Denkmustern!

Wir leben in einer Epoche, in der Begriffe sich selbst entleeren und politische Bewegungen zu ihren eigenen Spiegelbildern werden. Was einst als „woke“ begann, als moralisches Erwachen gegenüber Ungerechtigkeit, hat sich in eine dogmatische Ersatzreligion verwandelt. Noch erstaunlicher ist, dass nun eine Bewegung entsteht, die sich selbst als Gegenkraft begreift, aber dieselben Denkformen übernimmt. Der britische Denker und Satiriker Konstantin Kisin nennt sie „The Woke Right“.

Dieser Teil der Rechten versteht sich als Gegenbewegung zur Wokeness, kopiert aber deren Grammatik. Was Kisin beschreibt, ist keine Karikatur, sondern eine kulturelle Versuchung. Ursprünglich war „Wokeness“ ein moralischer Appell, ein Aufwachen gegenüber Diskriminierung und institutioneller Blindheit. Doch was als guter Gedanke, als Gewissen begann, wurde schnell zur Ideologie. Eine Ideologie, die ihre Anhänger in identitären Kategorien einsperrt. Nicht mehr das Individuum mit seinem Gewissen und seiner Vernunft steht im Mittelpunkt, sondern das Kollektiv, das sich als Opfer versteht. Kisin stellt fest, dass diese Logik inzwischen auch die Rechte befallen hat. „The Woke Right“ spricht ebenfalls von Unterdrückung und von der eigenen Gruppe als Hüterin der alleinigen Wahrheit. Die Rollen sind vertauscht, die Sprache aber ist dieselbe.

Man erkennt die Mechanik leicht, die Aufteilung der Welt in „wir“ und „sie“, die moralische Selbstüberhöhung. Wer nicht in ihr Narrativ passt, gilt als „zu weich“, „nicht standhaft genug“ oder gar als „Verräter“. Es ist die gleiche Intoleranz, die man auf der anderen Seite beklagt, dieselbe Empfindlichkeit, dieselbe Neigung, Andersdenkende zu brandmarken. „The Woke Right“ verteidigt nicht mehr die Freiheit, sie verteidigt ihre Kränkung.

Ich beobachte diese Entwicklung mit wachsender Sorge. Ich erinnere mich an Debatten im Bundestag, in denen Freiheit zum Schlagwort wurde, aber niemand bereit war, die wirkliche Zumutung der Freiheit zu leben: das Denken in eigener Verantwortung. Die Freiheit stirbt dort, wo sie nur noch für die „eigene Gruppe“ beansprucht wird.

Es ist kein Zufall, dass die woke Rechte mit demselben Pathos auftritt, das sie an der Linken verachtet, mit Cancel Culture, Beleidigungen, Boykottaufrufen und moralischer Selbstgerechtigkeit. Sie begreift sich als Kämpferin einer Identität, die sich bedroht fühlt, doch damit verrät sie genau das, was sie vorgibt zu schützen – die Freiheit des Einzelnen.

Wer die Sprache des Gegners spricht, beginnt in seiner Grammatik zu denken und irgendwann auch zu handeln. Der freiheitliche Mensch muss daher anders sprechen. Er sucht keine Geborgenheit in der Empörung und keine moralische Autorität im Ressentiment. Er vertraut der eigenen Vernunft. Seine Freiheit ist unbequem, weil sie die Selbstprüfung verlangt, sich nicht selbst als Opfer begreift. Freiheit ist weder Schutzraum noch Banner, sondern Bewährungsprobe. Sie verlangt die Souveränität des Denkens, nicht die Bestätigung durch das Kollektiv.

Es ist verführerisch, sich der Revolte anzuschließen, die mit der moralischen Überlegenheit der „woken“ Linken abrechnet. Doch der Preis ist hoch, denn wer das macht, tauscht eine orthodoxe Bewegung einfach nur gegen eine andere aus.

Vielleicht liegt darin heute die eigentliche Aufgabe des freiheitlich denkenden Menschen: nicht den Kampf der Empörten fortzuführen, sondern ihn zu beenden. Nicht die Methoden der anderen zu übernehmen, sondern ihre Prämissen zu verwerfen. Freiheit ist kein Gruppengefühl. Im Gegenteil, sie beginnt dort, wo man den Mut hat, notfalls auch allein zu stehen. Ohne Rückendeckung. Ohne Applaus. Manchmal im Sturm der Entrüstung und der Beleidigungen. Manchmal den Repressionen der Staatsgewalt ausgesetzt.

Das Ziel ist nicht, die nächste Welle des moralischen Aufwachens zu reiten, sondern wirklich aufzuwachen, für das Prinzip, das all diesen Bewegungen fehlt: für die Freiheit des Geistes.


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