07. Dezember 2025 06:00

Politische Systemkritik Systemüberwindung – Für eine Politik jenseits von Parteien, Parlament und Planwirtschaft

Zur Neuauflage von Helmut Schelskys Analyse der Bundesrepublik Deutschland und seiner Diagnose einer strukturell unreformierbare

von Antony P. Mueller drucken

Ein symbolisches Bild einer zerfallenden politischen Institution mit verblassenden Parteisymbolen im Hintergrund, einem aufbrechenden Raster aus Parlamentsbänken und dunklen Schatten, die einen tieferen kulturellen und politischen Umbruch andeuten, Stimmun
Bildquelle: Redaktion Ein symbolisches Bild einer zerfallenden politischen Institution mit verblassenden Parteisymbolen im Hintergrund, einem aufbrechenden Raster aus Parlamentsbänken und dunklen Schatten, die einen tieferen kulturellen und politischen Umbruch andeuten, Stimmun

Systemüberwindung – Für eine Politik jenseits von Parteien, Parlament und Planwirtschaft

Es geschieht nicht ohne Grund, wenn ein politisches Buch, das vor etwas mehr als fünfzig Jahren erstmals erschienen ist, erneut veröffentlicht wird. Dies ist der Fall bei „Systemüberwindung. Demokratisierung und Gewaltenteilung. Grundsatzkonflikte der Bundesrepublik Deutschland“ von Helmut Schelsky, das dieses Jahr im Weltbuch Verlag mit einer Einführung des ehemaligen Verfassungsschutzpräsidenten Hans-Georg Maaßen neu publiziert wurde.

Als „Systemüberwindung“ 1973 veröffentlicht wurde, löste das Werk eine Welle intensiver öffentlicher und fachlicher Reaktionen aus. Schelskys Analyse des „langen Marschs durch die Institutionen“ traf einen Nerv in einer Zeit, die von ideologischer Polarisierung und wachsender Systemkritik geprägt war. Der Text wurde millionenfach verbreitet, fand Eingang in die Debatten von Ministerien, Verfassungsschutzbehörden und militärischen Bildungseinrichtungen und wurde zur Pflichtlektüre in sicherheitspolitischen Kreisen. Die politische Linke reagierte mit vehementer Ablehnung oder versuchte, das Werk gezielt zu marginalisieren. Dass ein soziologischer Beitrag eine derart breite gesellschaftliche Resonanz auslöste, hing auch mit dem intellektuellen Gewicht Helmut Schelskys zusammen. Als einer der führenden Soziologen der alten Bundesrepublik hatte er sich einen Namen gemacht. Schelsky war kein akademischer Außenseiter, sondern langjähriger Hochschullehrer, früherer Berater politischer Institutionen und ein profilierter Denker mit hoher öffentlicher Reichweite. Seine kritische Perspektive auf Institutionen, Ideologie und Bürokratie verband wissenschaftliche Schärfe mit politischer Klarheit – und machte ihn in den 1970er Jahren zu einer der wirkmächtigsten Stimmen der bürgerlichen Intelligenz in Westdeutschland.

Stilistisch bewegt sich das Werk zwischen analytischer Schärfe und programmatischer Rhetorik. Wissenschaftliche Apparate, empirische Fundierung oder systematische Theorierahmen treten zugunsten einer intellektuell verdichteten Argumentation in den Hintergrund. Das Buch „Systemüberwindung“ ist weniger als akademische Monografie denn als ideenpolitisches Manifest zu lesen, dessen Relevanz insbesondere aus seiner ideologiekritischen Radikalität und kultursoziologischen Tiefenschärfe resultiert.

Vor etwas mehr als fünfzig Jahren sah Schelsky deutlich voraus, was inzwischen Wirklichkeit geworden ist. Die „linken Radikalen“, wie Schelsky sie bezeichnet, machen eine Revolution „im Stillen“. Sie sind auf Samtpfoten auf dem Weg zur Machtübernahme. Es ist eine Revolution neuen Typs, die ganz anders aussieht, als man es von der russischen Revolution und anderen gewaltsamen Machtübernahmen kennt. Der 1968 verkündete „Marsch durch die Institutionen“ hat eine Systemüberwindung zum Ziel, die die freiheitlich-demokratische Grundordnung durch eine autoritäre oder totalitäre sozialistische Ordnung ersetzen will – ohne dass dies als Revolution wahrgenommen wird.

Die zentrale Technik der Systemüberwindung durch die radikale Linke besteht darin, Institutionen zu unterwandern. Diese sollen von ideologischen Gesinnungsgenossen von innen übernommen und die Schaltstellen sowie Schlüsselpositionen des bestehenden Systems schrittweise besetzt werden. Der Weg dorthin verläuft nicht über die direkte Übernahme der politischen Macht, sondern über den Kulturkampf. Die Unterwanderung der Medien und des Bildungssystems bildet die erste Etappe auf dem Weg zur vollständigen Herrschaft dieser Ideologie. Im zweiten Schritt erfolgt die Umwandlung der ethischen Werte der Aufklärung in einen Tugendterror, wie er gegenwärtig tobt. Auch diese Etappe ist heute bereits erreicht – wie es Schelsky beschrieb: „Die Produktion ethischer Grundüberzeugungen, die sich von den Realisierungen und der Kontrolle ihrer Folgen lösen, ist die wirksamste Linie dieser Strategie, und die systematische Bekämpfung der Wirklichkeit durch Moral als politische Taktik mit Herrschaftsabsichten eine bisher so systematisch selten erlebte Pervertierung.“ Als Folge der systematischen Unterwanderung werden Grundwerte wie Humanität und Emanzipation „zum Instrument von Herrschaft und Terror umfunktioniert“ (S. 50 f.).

Schelsky macht deutlich, dass die Eroberung der Universitäten und Lehrerhochschulen eine Schlüsselstellung in dieser Strategie besitzt. Sind diese erst gewonnen, ist die Machtergreifung in allen wichtigen Einrichtungen der Erziehung, in den Kirchen und in den ebenfalls vorwiegend von Akademikern besetzten Organisationen der Informations- und Unterhaltungsvermittlung nur noch eine Frage der Zeit.

Ebenso ist der Griff nach den politischen Schaltstellen des Machtapparates bereits erfolgt – wie die damals als Ziel verkündete „Überbietung der Sozialansprüche“ (S. 61 ff.) zeigt. Die 1968er erkannten zutreffend, dass das Bürgertum keine starke Bastion des politischen Widerstands ist. Die Wirtschaftsfremdheit des deutschen Bildungsbürgertums erleichtert die Machtübernahme der linken Radikalen. Eher unpolitisch orientiert, überlässt auch das Wirtschaftsbürgertum das Geschäft der Macht den Berufspolitikern – und wacht oft erst auf, wenn es zu spät ist und die Verarmung auch bei ihm angekommen ist.

Helmut Schelskys Schrift „Systemüberwindung“ ist ein ideenpolitisches Werk, das sich dezidiert gegen die institutionellen Grundstrukturen der parlamentarischen Demokratie wendet. Der Autor entwirft eine umfassende Kritik des politischen und administrativen Systems der Bundesrepublik Deutschland, die sich sowohl gegen das Parteiensystem als auch gegen staatliche Zentralisierung, sozialstaatliche Umverteilungsmechanismen und kulturpolitische Steuerung richtet.

Liest man das Werk heute, so lassen sich aus der Diagnose tiefgreifendere Folgerungen ziehen, als Helmut Schelsky sie selbst klar ausgesprochen hätte.

Systemdiagnose: Schelskys Diagnose beschreibt das politische System als strukturell unreformierbar. Das Zusammenwirken von Massendemokratie, Parteienkartell, Zentralbankwesen und wohlfahrtsstaatlicher Bürokratie erzeugt eine dysfunktionale Ordnung, die politische Teilhabe in ritualisierte Zustimmung überführt. Reformbestrebungen erscheinen nicht als Korrektive, sondern als stabilisierende Maßnahmen innerhalb eines in sich geschlossenen Herrschaftssystems.

Kulturkritik: Die Kritik des Autors geht über die politische Oberfläche hinaus und ist tief in einem kulturkonservativen Gesellschaftsbild verankert. Schelsky konstatiert eine zunehmende Entfremdung des Subjekts durch staatliche Pädagogik, moralische Normierung und ökonomische Abhängigkeit. Der „staatlich gezähmte Bürger“ wird durch Institutionen der Fürsorge und Gleichmachung seiner Mündigkeit beraubt.

Systemüberwindung: Wir brauchen dringend die Überwindung des geschehenen Systemwandels. Als Gegenmodell zu den von Schelsky dargestellten Schwachstellen der Parteienherrschaft und des Wirtschaftsinterventionismus zeichnet sich nunmehr das Projekt der schrittweisen Dissoziation ab: durch individuelle Selbstemanzipation, den Aufbau alternativer Strukturen und kulturelle Selbstbehauptung. Die Idealvorstellung mündet in eine Ordnung freiwilliger Rechtsgemeinschaften, vertragsbasierter Sicherheit und dezentraler Eigenverantwortung – inspiriert vom Konzept des Anarchokapitalismus, jedoch kulturell verankert und nicht technokratisch reduziert.

Das System aus parlamentarischer Massendemokratie, Parteienkartell, Zentralbankwesen und Umverteilungsbürokratie ist strukturell unreformierbar. Jede Stimme, jede Form der „konstruktiven Mitarbeit“, selbst wohlmeinende Reformvorschläge, stärkt letztlich jenes Machtgefüge, das sie zu schwächen vorgeben. Der einzige Ausweg ist der Bruch – nicht durch eine neue Revolution von oben, sondern durch dezentralen, individuellen und kulturellen Rückzug.

In Schelskys Schrift „Systemüberwindung“ zeichnet sich ab, was heute Gewissheit geworden ist: Der bevormundete Bürger ist durch Schuldkult, Versorgungsmentalität und moralische Daueransprache zum unmündigen Konsumenten politischer Rituale geworden.

Dem gegenüber steht die Vision einer postpolitischen Ordnung als Gesellschaft freiwilliger Rechtsordnungen, privater Schutzanbieter, vertragsbasierter Sicherheit und einer Kultur radikaler Selbstverantwortung. Diese Vorstellungen galten bis vor Kurzem noch als utopisch. Doch inzwischen stellt sich die Lage anders dar: Soziale Medien ermöglichen die Bildung widerständiger Netzwerke; technologische Innovationen eröffnen Handlungsspielräume, die vor wenigen Jahren noch unvorstellbar waren. Weltweit wird mit dezentralen Lösungen experimentiert – mit Kryptowährungen, privaten Schiedsgerichten, Homeschooling-Kooperativen, außerstaatlichen Bildungsangeboten, Sezessionsprojekten und entstehenden Privatstädten.

Schelskys Aufsatz zur Systemüberwindung war ein Meilenstein – zur Zeit seiner Erstveröffentlichung jedoch blieb die praktische Wirkung trotz großer Verbreitung begrenzt. Heute könnte die institutionelle Resonanz größer sein: Der Anteil der Menschen, die Alternativen jenseits parteipolitischer Machtarchitekturen suchen, wächst rapide. Die Unzufriedenheit mit dem sogenannten Wohlfahrtsstaat nimmt zu.

Schelskys Buch war ein durch Weitblick gekennzeichneter Weckruf. Vielleicht kann dieser heute kraftvoller wirken als damals. Trotz der heftigen Debatte, die das Buch seinerzeit auslöste, blieb Schelskys Weitsicht praktisch wirkungslos. Es ist zu hoffen, dass es diesmal anders kommt. Vielleicht wird die Wirkung stärker sein, auch wenn die Zahl seiner Leser geringer ausfällt. Was damals eher als bloße Warnung erschien, ist heute Realität geworden. Die Zeit ist nicht nur reif für einen Umbau, sondern die Überwindung des seither erfolgten Systemwandels ist zu einer Dringlichkeit geworden. Wir wissen inzwischen, dass der Staat nicht bloß kostspielig ist, sondern als eine zutiefst entfremdende, charakterzersetzende Institution: eine Ordnung, die den Menschen systematisch von Eigenverantwortung, Schicksalsernst und gelebter Gemeinschaft entfremdet.

Wer Schelskys Diagnose ernst nimmt, wird nicht bei der Kritik am Bestehenden stehen bleiben können. Die eigentliche Herausforderung liegt nicht im Nachweis institutioneller Fehlentwicklungen, sondern in der Frage nach den Konsequenzen: Wie kann Freiheit neu gedacht werden, wenn die klassischen Träger der Demokratie – Parlament, Parteien, öffentliche Diskurse – ihre integrative Kraft verloren haben? Die ebenso radikale wie unbequeme Antwort lautet: nicht der Ruf nach einem besseren Staat, sondern die Bereitschaft, sich geistig, kulturell und institutionell aus seiner Umklammerung zu lösen. In einer Zeit, in der die politischen Werkzeuge stumpf geworden sind und der moralische Konsens zur Waffe gegen Abweichung verkehrt wird, geht es nicht nur um Widerstand, sondern um aktive Antipolitik – in Verbindung mit dem Aufbau nichtstaatlicher Alternativen gesellschaftlicher Ordnung.

Quellen:

Systemüberwindung, Demokratisierung und Gewaltenteilung: Grundsatzkonflikte der Bundesrepublik Deutschland

Kapitalismus, Sozialismus und Anarchie: Chancen einer Gesellschaftsordnung jenseits von Staat und Politik : Mueller, Antony P.: Amazon.de: Books


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