26. April 2024 06:00

Wilhelm Reichs Massenpsychologie des Faschismus – Teil 3 Der Verlust des revolutionären Subjekts

Wie Reich den Kommunismus dekonstruierte

von Stefan Blankertz

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Bildquelle: Oleg Golovnev / Shutterstock Wilhelm Reich: Erklärt die Begeisterung für den Nationalsozialismus mit einer Identifizierung von Lenin mit Hitler

Die ursprüngliche Überlegung aller (marxistischen) (Staats-) Kommunisten lautete: Die unweigerlich ihrer Verelendung entgegensehenden Arbeiter („Proletarier“) haben notwendigerweise ein Interesse an einer Umgestaltung der gesellschaftlichen Verhältnisse. Die Umgestaltung muss in Richtung der Aufhebung des Monopols an Produktionsmitteln gehen, sodass sie die Begrenzungen überwindet, mit denen die kapitalistische Wirtschaft die Produktion behindert und auf diese Weise zugleich auch dafür sorgt, dass nicht andere als die Produzenten selber die Früchte ihrer Arbeit genießen.

Man sollte realisieren, dass die Erwartung der Kommunisten hierin bestand: Die Produktionsmittel zu vergesellschaften, würde die Produktion deutlich und erheblich steigern sowie die Fortschritts- und Innovationsrate kräftig erhöhen. Der ganze Quatsch heute, der Kapitalismus produziere zu viel und schüre falsche Bedürfnisse, ist genuin antimarxistisch.

Die Kommunisten, sagte die ursprüngliche Strategie, würden dem Proletariat aufzeigen, dass das Ziel der gesellschaftlichen Umgestaltung nicht durch sozialdemokratische oder gewerkschaftliche („trade-unionistische“) Reformen zu erreichen sei, sondern nur mit einer Revolution gelinge.

Heute wissen wir, dass nicht Kapitalismus die Produktion und die Innovation behindert, vielmehr der (Staats-) Sozialismus; dies führte ja schließlich auch zum Zusammenbruch des sogenannten „realen Sozialismus“ in der Sowjetunion und deren Satellitenstaaten. Das wusste Wilhelm Reich freilich noch nicht; auch nicht, dass weite Teile der Arbeiterschaft im Kapitalismus zu ungeahntem Wohlstand gelangen. Die Problematik von Armut verlagerte sich aus der Mehrheit der Gesellschaft an ihre Randgruppen. Und dies war etwas, das Reich bereits analysierte. Denn er beobachtete, dass die Gesellschaft eben nicht in eine Hauptmasse an verarmten Proletariern und eine kleine Gruppe wohllebender Bourgeois zerfiel, sondern dass sich eine starke Mittelschicht bildete, die ganz andere Interessen verfolgte, als für die (kommunistische) Revolution nötig gewesen wären. Darüber hinaus erkannten die Arbeiter, so analysierte Reich, ihre angeblich objektiven ökonomischen Interessen (die zur Revolution treiben) nicht, sondern verfielen in den Glauben an den Heilsbringer in der Form eines autoritären Staats, sei es der Faschismus, sei es der (Staats-) Kommunismus: Die (kommunistische) Revolution hatte also kein Subjekt (mehr).

Schon in der Fassung der „Massenpsychologie des Faschismus“ von 1933 kritisierte Wilhelm Reich: „Der vulgäre Marxismus behauptete, dass wirtschaftliche Krisen solchen Ausmaßes wie die von 1929  bis 1933 notwendigerweise zu einer ideologischen Linksentwicklung der betroffenen Massen führen müsse. Während sogar noch nach der Niederlage [der Kommunisten] im Januar 1933 [Machtübergabe an die Nationalsozialisten] von einem ,revolutionären Aufschwung‘ in Deutschland gesprochen wurde, zeigte die Wirklichkeit, dass die wirtschaftliche Krise, die der Erwartung nach eine Linksentwicklung der Ideologie der Massen hätte mit sich bringen müssen, zu einer extremen Rechtsentwicklung in der Ideologie der proletarisierten Schichten der Bevölkerung geführt hatte. Man übersah, dass der Faschismus in seinem Ansatz und im Beginne seiner Entwicklung zur Massenbewegung sich zunächst gegen die Großbourgeoisie richtete und als ,nur eine Garde des Finanzkapitals‘ nicht erledigt werden konnte, schon deshalb nicht, weil er eine Massenbewegung war.“

Dies Zitat trifft Wilhelm Reich at his best an: Die Einsicht, die objektive wirtschaftliche Lage erzwinge keine subjektive Entwicklung, sondern könne zu einer gegenteiligen Entwicklung führen, dass nämlich „eine scharfe ökonomische Krise ebenso gut in die Barbarei wie zur gesellschaftlichen Freiheit führen kann“. Reich erkannte an, dass Antikapitalismus ein zentrales Anliegen der Nationalsozialisten war.

„Vulgär“ war schon bei Karl Marx ein beliebtes Schimpfwort. Als Vulgärökonom galt ihm der, der eine von ihm abweichende Meinung vertrat. Bei Wilhelm Reich scheint „vulgär“, so wir darin mehr lesen wollen als ein gedankenloses Pejorativ, zu bedeuten, dass eine marxistische Theorie das gesellschaftliche Geschehen auf reine Ökonomie reduziere. Das heißt, sie ist eine materialistische Theorie, die vergisst, dass die Dialektik erfordert, auch den „Überbau“ (die Ideologie et cetera) ernst zu nehmen.

Reichs Distanzierung vom Marxismus zeigt sich wenig später in einer Hinzufügung. Im Original 1933 hieß es noch: Mit der Hinwendung der Massen zum Faschismus habe „die Entwicklung der Ideologie der Masse in den letzten Jahren die Entfaltung der Produktivkräfte, die revolutionäre Lösung des Widerspruchs zwischen den Produktivkräften des monopolistischen Kapitalismus und seiner Produktionsweise gehemmt“. 1946 setzt Reich „Entfaltung der Produktivkräfte sowie revolutionäre Lösung des Widerspruchs zwischen den Produktivkräften des monopolistischen Kapitalismus und seiner Produktionsweise“ in Anführungs- gleich Distanzierungszeichen und erläutert dies mit: „um in marxistischen Begriffen zu sprechen“.

Eine völlige Umkehr erfuhr Wilhelm Reichs Einschätzung der „unpolitischen“ Menschen. 1946 lautete seine Analyse: Wer „im lebendigen Leben der Menschen stand und wirkte, wer Menschen jeden Berufs in verschiedenen Nationen ärztlich und erzieherisch genau kennengelernt hatte, der geriet nicht leicht in die Fänge politischer Schlagworte. Besonders gut waren diejenigen dran, die von jeher ,unpolitisch‘ gewesen waren und nur nach Erfüllung ihres Arbeitslebens gestrebt hatten. Gerade diese ,unpolitischen‘ und nur von Arbeit erfüllten Kreise in Europa waren den so entscheidenden sozialen Einsichten zugänglich. Wer dagegen einmal mit irgendeinem Parteiapparat wirtschaftlich und ideologisch verschmolzen war, der wehrte sich in der Regel mit irrationalem Hass gegen jeden Versuch, die grundsätzlich neue Erscheinung des autoritären, ,totalitären‘, diktatorischen Regimes begreiflich zu machen.“

1933 hatte Reich dies noch genau umgekehrt gesehen und die „unpolitischen“ Menschen“ zu Faschisten par excellence erklärt: Hitler begründete „seine Macht nicht nur von vornherein mit bis dahin wesentlich weniger politisierten  Massen, sondern führte auch seinen letzten Schritt zum Siege im März 1933 durch Mobilisierung von nicht weniger als fünf Millionen bisheriger Nichtwähler, also Unpolitischer, ,legal‘ durch. Je unpolitischer ein Mensch aus der großen Masse der Werktätigen ist, desto leichter wird er der Ideologie der politischen Reaktion zugänglich sein. [Bei der Mehrzahl] beruht das Unpolitischsein  auf völligem Eingefangensein in persönlichen Konflikten und Sorgen, unter denen die sexuellen Sorgen die der Existenz nicht zu politischer Konsequenz ausreifen lassen. Der Kommunismus  missverstand bisher diese Situation und versuchte den unpolitischen  Menschen dadurch zu politisieren, dass er ihm nur seine wirtschaftlichen Interessen, die unerfüllt bleiben, zum Bewusstsein zu bringen suchte. Die Praxis lehrte, dass die Masse dieser Unpolitischen  kaum zum Hinhören zu bringen ist, sich aber leicht den mystischen Phrasen eines Nationalsozialisten zuzuwenden vermag, ohne dass dieser allzu viel über die wirtschaftlichen Interessen spricht. Wie erklärt sich das? Daraus, dass die schweren sexuellen Konflikte (im weitesten Sinne), gleichgültig ob bewusst oder unbewusst, das rationale Denken in der Richtung des durchaus rationalen Marxismus  hemmen, den Betreffenden unfähig und ängstlich machen, ihn in seine seelischen Eingeweide verstricken. Begegnet er nun einem mit den Mitteln der Gläubigkeit und Mystik, also mit sexuellen, libidinösen Mitteln arbeitenden Faschisten, so wendet er ihm seine Interessen restlos zu, nicht weil ihm das nationalsozialistische Programm mehr imponiert als das kommunistische, sondern weil er in der Hingabe an den Führer und seine Ideologie eine momentane Entlastung seiner ständigen inneren Spannung erfährt, weil er seinen Konflikt dadurch unbewusst in eine andere Form bringen und dadurch lösen kann; ja, das befähigt ihn, gelegentlich im Faschisten den Kommunisten, in Hitler den deutschen Lenin zu sehen.“

Diese Passage von 1933 ist noch in einer anderen Hinsicht erhellend. Heute ist es geläufig, die Begeisterung von Bürgertum und Arbeitern für den Nationalsozialismus aus einer Angst vor dem Bolschewismus (Kommunismus) heraus zu erklären. Wilhelm Reich als Zeitzeuge berichtet hier ganz anders, wenn er sagt, dass eine Identifizierung von Lenin mit Hitler vorgelegen habe.

Eine wesentlich überarbeitete Passage macht Wilhelm Reichs gewandeltes Denken bezüglich der Klassenstruktur deutlich. Die Fassung von 1933 ist noch voll im Pathos des Bolschewismus: „Der klassenbewusste Arbeiter ist mit seiner Klasse statt mit dem Führer, mit der internationalen werktätigen Masse statt mit der nationalen Heimat identifiziert. Er fühlt sich selbst als Führer, nicht aufgrund einer Identifizierung, sondern aufgrund dieses Bewusstseins, der notwendigerweise aufsteigenden Klasse anzugehören.“ In der Fassung von 1946 klingt das durch die Veränderung einiger Worte ganz anders: „Der fachbewusst Arbeitende ist mit seiner Arbeit statt mit dem Führer, mit der internationalen werktätigen Menschenmasse statt mit der nationalen Heimat identifiziert. Er fühlt sich selbst als Führer, nicht aufgrund einer Identifizierung, sondern aufgrund des Bewusstseins, lebensnotwendige Arbeit zu leisten.“ Aus dem „klassenbewussten Arbeiter“ ist nun der „fachbewusst Arbeitende“ geworden; er identifiziert sich nicht mehr mit der kommenden herrschenden „Klasse“, sondern mit seiner eigenen Arbeit.

Zwei Hinzufügungen 1946 in den weiteren Text lassen das ganze Ausmaß der Wandlung des Fokus hervortreten: „Das Selbstgefühl des Arbeiters leitet sich aus Facharbeiterbewusstsein ab.“ Das Facharbeiterbewusstsein lenkt nun nicht mehr ab von der Identifizierung mit der homogenen Arbeiterklasse, sondern ist Bewusstsein, aufgrund eigener Kompetenz wichtige Arbeit zu leisten, stärkt das Gefühl der Autonomie, das keine Unter- und Einordnung in hierarchisch geführte Massen erfordert. „Wir unterscheiden den fachbewussten, verantwortungsvollen Arbeiter vom mystisch-nationalistisch reaktionären Untertan. Wir treffen beide Typen in jeder sozialen und fachlichen Schicht an. Es gibt Millionen reaktionär gesinnter Industriearbeiter, und es gibt ebenso viele arbeitsbewusste, freiheitlich gesinnte Lehrer und Ärzte.“ (Warum er hier die Bauern nicht einschloss, bleibt im Dunkeln.)


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