27. April 2024 22:00

30 Jahre Formel-1-Horror von Imola Als Gott nicht mehr Beifahrer war

Mehr Sicherheit war eine wirtschaftliche Notwendigkeit

von Thorsten Brückner

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Bildquelle: cristiano barni / Shutterstock Memorial in Imola: Im Gedenken an den 1994 tödlich verunglückten Ayrton Senna

Ayrton Senna begann seine Formel-1-Karriere 1984 zwei Jahre nach der schwarzen Saison von 1982, in der Gilles Villeneuve und Riccardo Paletti ihr Leben ließen. Bis zum 30. April 1994 hatte er nie einen tödlichen Unfall an einem Grand-Prix-Wochenende miterleben müssen. Daran, dass es von 1982 bis zu jenem schicksalhaften Wochenende von Imola, das sich in wenigen Tagen zum 30. Mal jährt, zu keinen Unfällen mit tödlichem Ausgang kam, hatte nicht zuletzt Senna einen entscheidenden Anteil. Immer wieder forderte er Verbesserungen der Sicherheitsstandards an Strecken und Autos ein. Die vom ihm angestrebte Wiederbelebung der 1982 aufgelösten Fahrergewerkschaft, die sich maßgeblich um das Thema Sicherheit kümmern sollte, geschah zwei Wochen nach seinem tödlichen Unfall.

Doch Senna ließ seinen Worten auch immer wieder Taten folgen. Besonders sticht hier ein Ereignis heraus, das mir fernab sportlicher Erfolge Sennas viel zu wenig Aufmerksamkeit und Würdigung erfahren hat. Als Érik Comas im Qualifying zum Großen Preis von Belgien in Spa 1992 mit seinem Ligier schwer verunfallte und bewusstlos in seinem Wrack liegend bei immer noch laufendem Motor mit dem Fuß auf dem Gaspedal stand, parkte Senna seinen McLaren in Blanchimont (einer der gefährlichsten Kurven der Formel 1), rannte trotz vorbeifahrender Autos bis zur Mitte der Strecke, stellte den Motor des Ligier ab und hielt Comas Kopf, bis die Rettungskräfte eintrafen. Senna riskierte dabei sein Leben. Comas war sich damals sicher, dass Senna ihn gerettet habe.

Die Saison 1994 brachte Sicherheitsbedenken dann erneut auf die Tagesordnung. Die elektronischen Fahrhilfen der Vorsaison waren verboten worden und die Autos enorm schwer zu navigieren. Doch wie es mit Sicherheitsverbesserungen eben so ist: Es muss irgendwie immer erst etwas passieren, damit Reformen in Gang kommen. In dieser Hinsicht ist das Imola-Wochenende ein Schlüsselmoment für die moderne Formel 1. 

Es war ein Wochenende, an dem von vornherein der Wurm drin zu sein schien. Im Freitagstraining war der damals erst 21 Jahre alte Rubens Barrichello, Schützling von Ayrton Senna, schwer verunglückt, blieb aber wie durch ein Wunder fast unverletzt. Der Tenor an jenem Freitag im Fahrerlager war laut Sauber-Pilot Karl Wendlinger: „In der modernen Formel 1 kann nichts mehr passieren.“ Am Samstag dann der erste tödliche Unfall seit 1982. Ausgerechnet In der Villeneuve-Kurve hatte sich der Frontflügel von Roland Ratzenbergers Simtek bei 310 Stundenkilometern gelöst. Senna sah erst von der Williams-Box aus, später an der Unfallstelle, wie Helfer vergeblich versuchten, den Österreicher zu retten. Würde so etwas in der heutigen Formel 1 passieren, würde am darauffolgenden Sonntag wohl kein Rennen gefahren werden. 

Sennas Sicherheitsbedenken gingen dann am Morgen des Grand-Prix-Sonntags so weit, dass er sich im Fahrerlager mit seinem einstigen Erzfeind, dem mittlerweile zurückgetretenen, aber immer noch einflussreichen und gut vernetzten vierfachen Champion Alain Prost zusammensetzte, um zu besprechen, wie die Sicherheit der Autos verbessert werden könne. Der Vorjahresweltmeister und der dreifache Weltmeister aus Brasilien vereinbarten, sich am Rande des nächsten Rennens in Monaco ausführlicher darüber zu unterhalten. Dazu sollte es nicht mehr kommen. 

Nach einem furchtbaren Startcrash, bei dem auch Zuschauer verletzt wurden, und zunächst mehreren Runden hinter dem Safety Car fuhr Sennas Williams in der siebten Runde aus bis heute nicht eindeutig geklärten Gründen in der Tamburello-Kurve geradeaus. Ein Reifen löste sich und schlug gegen seinen Helm, der auch von zwei Teilen aus der Radaufhängung durchbohrt wurde. Doch damit war das Horror-Wochenende in der Emilia Romagna noch lange nicht vorbei. Denn ausgerechnet Érik Comas, den Senna zwei Jahre zuvor gerettet hatte, schien offenbar vom zwischenzeitlichen Rennabbruch nichts mitbekommen zu haben und fuhr zum Entsetzen von Zuschauern und Streckenposten in Renngeschwindigkeit auf Tamburello zu, wo bereits der Helikopter auf der Strecke stand, der Senna ins Krankenhaus nach Bologna bringen sollte. Seinen Wagen brachte Comas gerade noch rechtzeitig zum Stehen. Der fünffache Formel-1-Weltmeister Juan Manuel Fangio sah sich damals das Rennen am Fernseher an und sagte später, er habe unmittelbar nach dem Crash ausgeschaltet: „Ich wusste sofort, dass er tot war.“ Für tot erklärt wurde Senna im Krankenhaus von Bologna offiziell um 18:40 Uhr, doch als Todeszeitpunkt wurde 14:17 Uhr vermerkt. Sterbeort: Autodromo Enzo e Dino Ferrari. In Sennas Auto: eine österreichische Flagge, mit der er nach Überqueren der Ziellinie Roland Ratzenberger die Ehre erweisen wollte.

Senna war sehr katholisch und kokettierte auch gerne damit. „Gott ist mein Beifahrer“, sagte er wiederholt, wenn er auf die Gefahr des Rennfahrens angesprochen wurde. Doch er wusste auch: „Nur weil ich an Gott glaube, heißt das nicht, dass ich immun oder unsterblich bin“. Senna nehme ich das Bekenntnis zum christlichen Glauben, bei aller öffentlichen Zurschaustellung, übrigens ab. Erst nach seinem Tod wurde bekannt, dass er zu Lebzeiten 400 Millionen US-Dollar an Kinderhilfseinrichtungen in Brasilien und auf der ganzen Welt gespendet hatte – einzige Bedingung war, dass die beschenkten Wohltätigkeitsorganisationen Stillschweigen über den Spender wahrten. Was für ein Kontrast zu den modernen Formel-1-Piloten, bei denen das Motto zu gelten scheint: Tue Gutes und rede darüber. Daneben engagierte sich Senna freilich auch öffentlich für Kinder und Arme, weswegen ihm oft sozialistische Anschauungen unterstellt wurden, obgleich sich Senna meines Wissens nie wirklich politisch geäußert hat. Und aus der eigenen Tasche zu geben, ist sicher nicht sozialistisch.

Dass das Rennen nach Sennas Unfall noch einmal aufgenommen wurde, ist aus heutiger Sicht nur schwer nachvollziehbar. Zumal die Katastrophen damit noch immer nicht vorüber waren. Denn kurz vor Schluss hätte fast noch ein Rad, das sich bei der Boxenausfahrt von Michele Alboretos Minardi gelöst hatte, einen Ferrari-Mechaniker erschlagen. Und zwei Wochen später wäre Karl Wendlinger um ein Haar im Hafenbecken von Monaco tödlich verunglückt.

Die Formel 1 war und ist ein Milliardengeschäft. Und ich denke, dass diese Tatsache ausschlaggebender für die nun einsetzenden massiven Sicherheitsverbesserungen war als alle Mahnungen und Proteste der wieder gegründeten Fahrergewerkschaft. Deutsche Formel-1-Fans unterschätzen gerne, wie traumatisch das Imola-Wochenende für viele Formel-1-Anhänger, nicht nur in Brasilien, sondern weltweit war. Unser Vermieter in Ungarn, ein glühender Formel-1-Fan, seit die Königsklasse 1986 erstmals in dem damals noch kommunistischen Land Station gemacht hatte, verriet mir einmal, dass er nach Sennas Tod jahrelang keine Rennen mehr schauen konnte. In Deutschland war das Drama von Imola auch deswegen so schnell vergessen, weil am Ende der Saison 1994 statt Sennas viertem Titel die erste Weltmeisterschaft für einen deutschen Fahrer in der Geschichte der Rennserie stand.

Doch den Verantwortlichen um Bernie Ecclestone und Max Mosley musste klar gewesen sein: Ein Horror-Wochenende wie in Imola darf sich nicht wiederholen, wenn die Formel 1 eine Familienveranstaltung bleiben und weiterhin für so viele Menschen auf der ganzen Welt attraktiv bleiben will. Es stand viel Geld auf dem Spiel. Und die Reformen kamen nun zügig, auch ganz ohne politischen Druck. Neben verschiedener Regelanpassungen noch während der Saison, die die Autos etwas leichter zu fahren machen sollten, wurde als Folge des Radunfalls von Alboreto eine Geschwindigkeitsbegrenzung in der Boxengasse bei Rennen eingeführt, die bis heute gilt.

In den nächsten Jahren kamen unter anderem Verbesserungen der Streckenbegrenzungen (obwohl die heute genutzten Tecpro-Begrenzungen erst 2006 eingeführt wurden), ein wesentlich längeres Monocoque und schließlich die Kopf-Nackenstütze hinzu. Den Titanbügel Halo, der den Kopf des Fahrers schützen soll, führte die Fia 2018 dann übrigens gegen den ausdrücklichen Widerstand vieler Fahrer und Teams ein. Sicherheit ist heute die Grundlage für das Geschäftsmodell Formel 1. Sicher ist auch darauf zurückzuführen, dass es in der Formel 1 seit jenem verhängnisvollen Imola-Rennen 1994 nur einen tödlichen Unfall gab, der noch dazu unter sehr speziellen und unglücklichen Umständen passierte und definitiv auf menschliches Versagen zurückzuführen war. 

In drei Wochen wird die Formel 1 nach Imola zurückkehren. Es ist heute nicht mehr wie zu Sennas Zeiten der Große Preis von San Marino, sondern der Grand Prix der Emilia Romagna. Während Covid, als die Formel 1 wegen der weltweiten Reisebeschränkungen händeringend Rennorte in Europa suchte, rutschte die Strecke zurück in den Kalender. Die frühere Tamburello-Kurve ist heute eine Schikane, an der im sich anschließenden Park eine Ayrton-Senna-Statue den dreifachen Weltmeister würdigt. Senna war nicht der Heilige, zu dem er gerne von brasilianischen Fans stilisiert wurde, und nicht immer waren seine Aktionen auf der Rennstrecke fair. Doch er war zweifellos einer der talentiertesten Rennfahrer aller Zeiten, der sicher mehr Weltmeistertitel verdient hätte. Das Bild von dem in der Tamburello geradeaus fahrenden Ayrton Senna, hinter ihm auf dem zweiten Platz Michael Schumacher im Benetton, der das Rennen am Ende gewann, hat sich tief in mein Gedächtnis eingebrannt. Ein Bild, das zugleich das Ende und den Beginn einer Ära in der Formel 1 symbolisiert. Schumacher widmete seinen ersten Titel später Senna, mit dem er sich auf und neben der Rennstrecke aus nachvollziehbaren Gründen nie gut verstanden hatte. Doch als er 2000 vor den eigenen Fans in Monza seinen 41. Sieg holte und dabei mit Senna gleichzog, weinte Schumacher, angesprochen auf diese Tatsache, in der Pressekonferenz wie ein Schlosshund. Der Tod Sennas war ein Trauma für den Rennsport, das noch viele Jahre nachhallte.


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