04. Oktober 2024 06:00

Libertäre Philosophie – Teil 18 Thomas Hobbes: Leviathan windet sich durch die wogende Menge

Vom Selbstwiderspruch in der Herrschaftsrechtfertigung

von Stefan Blankertz

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Bildquelle: Chris Tolworthy / Flickr „Leviathan“ von Hobbes: Körper besteht aus den Menschen, die in den Gesellschaftsvertrag eingewilligt haben

Während die politische Philosophie der Neuzeit mit der radikalen Verneinung von Herrschaft durch Étienne de La Boétie beginnt (Teil 17 dieser Serie), begegnet uns in Hobbes wenige Jahrzehnte später der Versuch, Herrschaft in Form eines organisierten Staats auf eine rational hieb- und stichfeste Grundlage zu stellen. Obwohl Thomas Hobbes (1588–1679) der eigentliche Urheber der Vertragstheorie des Staats ist, wird er von den meisten Staatstheoretikern bis heute eher mit spitzen Fingern angefasst. Der Titel seiner bahnbrechenden staatstheoretischen Schrift, „Leviathan“ (1651), hält meist eher her zur Kennzeichnung von dystopischen Vorstellungen staatlicher Allgewalt. Ganz im Geist der Aufklärung wollte Hobbes den Staat einzig aus der Vernunft begründen. Dabei kam er (nach der herrschenden Lesart, der Lesart der Herrschenden) zu dem Schluss, dass jeder Bürger dem Staat bedingungslosen Gehorsam schulde: Der Staat wird zum „Leviathan“, dem mythologischen allgewaltigen Herrscher der Ordnung. Denn seine Aufgabe ist es, „Behemoth“, das Monster der Unordnung, im Zaum zu halten.

Freilich waren die damals Herrschenden nicht so erfreut über diesen Zugewinn an philosophischer Begründung, wie Hobbes sich das vielleicht gewünscht hätte: Es drohte gar die Zensur. So übersetzte er seinen zunächst in Englisch verfassten Text ins Lateinische; denn lateinische Texte wurden weniger streng zensiert. Was die Herrschenden an Hobbes’ Argumentation störte, war, dass überhaupt nach einer rationalen Begründung für ihre Herrschaft gesucht wurde: Sie empfanden ihre Herrschaft als Erbrecht.

Die Erzählung von Hobbes geht so: Im Ursprung lebten die Menschen vereinzelt und standen in einem unerbittlichen Kampf um Ressourcen gegeneinander. Das ist der berüchtigte Hobbessche Naturzustand, in dem ein Krieg jeder gegen jeden (oder alle gegen alle) herrscht: Man beraubt sich gegenseitig, tötet einander, keiner lässt dem anderen irgendwelche Freiheiten. Es ist ein elendes und kurzes Leben, das die Menschen in diesem Zustand fristen, voller Unsicherheit und Angst, ohne ordnende und normierende Prinzipien wie Zeitrechnung, Längen- und Raummaße, ohne die Errungenschaften der Technik, Wirtschaft und Kultur. Doch dann schlossen sie einen Pakt, einen Vertrag, um die Gewalt an einen Monopolisten zu delegieren, den Staat, personifiziert im jeweiligen Herrscher. Die Staatsgewalt übernimmt es, das Leben der Menschen zu sichern und zu ordnen sowie die Kultur, die Wirtschaft und den Anstand zu entwickeln. Hobbes war so fasziniert von diesem Gedanken und so erfüllt vom Horror des Naturzustandes, dass er vergaß, uns mitzuteilen, welcher im Naturzustand lebende Mensch denn auf die geniale Idee gekommen sei, den Leviathan einzurichten, und wie es ihm gelang, die Mitmenschen (die ja im Naturzustand seine erbitterten Feinde waren) zu diesem Akt der Kooperation zu bewegen. Und ob der Akt der Einrichtung des Leviathans einstimmig erfolgte. Wenn dies nicht der Fall war, stellt sich die Frage, wie der Leviathan zu denjenigen stand, die ihm ihre Zustimmung verweigerten. Diese Frage ist freilich im Rahmen des Modells von Hobbes rein akademischer Natur, denn die Einrichtung des Leviathans erfolgte in grauer mythischer Vorzeit, und der Vertrag ist nach Meinung von Hobbes seitdem ununterbrochen gültig. Ob es damals eine Opposition oder einen Widerstand gegen die Einrichtung des Leviathans gegeben hat, ist heute unerheblich. Für heute gilt: Jede Opposition und jeder Widerstand gegen den Staat führen dazu, dass die Menschen sofort in den Naturzustand des Kampfes jeder gegen jeden zurückfallen, einen Zustand, den niemand vernünftigerweise wollen kann. Opposition und Widerstand sind im höchsten Maße unvernünftig und abzulehnen. Nur der dem Staat gehorsame Mensch kann in Sicherheit und Freiheit sein Leben und sein Eigentum genießen.

Die Herrschenden, die Hobbes’ Schrift am liebsten zensiert gesehen hätten, erfassten vermutlich intuitiv die Schwachstelle in der Herleitung des unbedingten Herrschaftsanspruchs des Leviathans. Hobbes war Logiker genug, sodass er selber diese Schwachstelle klar ausformulierte. Sie wird in der herrschenden Lesart freilich fast immer unterschlagen. Da der Zweck des Leviathans (Staats) darin besteht, das Leben, die Freiheit und das Eigentum jedes Bürgers zu sichern, fällt jeder Bürger, dessen Leben, Freiheit oder Eigentum er bedroht, unmittelbar in den Naturzustand zurück. Denn sich töten, berauben und in der Freiheit einschränken lassen, kann jeder auch ohne Mithilfe des Staats. Der Staat, der tötet, raubt und die Freiheit einschränkt, stellt den Naturzustand wieder her. In diesem Sinne schreibt Hobbes ausdrücklich, dass das Recht eines jeden Menschen, sich mit der Waffe in der Hand selbst zu verteidigen, von niemandem (also auch nicht vom Leviathan) beschnitten werden könne.

Es ist laut dem präzise gelesenen Hobbes gar nicht nötig, dass der durch den Leviathan bedrohte Mensch sich in die Opposition begibt und Widerstand leistet. Der Rückfall in den Naturzustand ereignet sich gleichsam automatisch. Der zum Tode Verurteilte, der Eingesperrte, der Zwangsrekrutierte, der Enteignete befindet sich zu den staatlich organisierten Mitmenschen im Verhältnis des Naturzustands: Sie sind seine Feinde, er ist ihr Feind. Es gibt keine Loyalität zwischen ihm und ihnen, es kann sie nicht geben. Zu stehlen (enteignen), zu morden, einzusperren, der Freiheit zu berauben ist seit jeher das Lebenselixier des Staats, sodass Hobbes zwar den bedingungslosen Gehorsam dem Staat gegenüber begründen wollte, aber genau das Gegenteil erreichte: Er zeigte, dass der von ihm statuierte Naturzustand gar nicht der natürliche Zustand ist, sondern umgekehrt der, den der Leviathan herstellt.

Haben wir diese klaffende Lücke im System der Rechtfertigung des Staats bei Hobbes erst einmal entdeckt, zeigt sich schnell eine zweite bemerkenswerte Verschiebung der Argumentation. Denn Hobbes war sich durchaus bewusst, dass sein Naturzustand der vereinzelt lebenden Menschen, die in einen ständigen gegenseitigen Kampf verwickelt sind, historisch so nicht zutrifft und auch gar nicht zutreffen kann. Der radikal vereinzelte Mensch überlebt nicht. Vielmehr ist eine familiäre und verwandtschaftliche friedliche Kooperation notwendig. Auch das Rechtsempfinden muss sich vorstaatlich entwickelt haben, denn sonst wäre es nicht einsichtig, wie die Menschen, die kein Rechtsempfinden haben, nach dem und durch den Vertrag zu einem solchen gekommen sein sollten. Dies nenne ich den Naturzustand Nummer zwei bei Hobbes, der der geschichtlichen Realität entspricht, während der Naturzustand Nummer eins, die Vereinzelung und der Kampf aller gegen alle, eine reine Fiktion darstellt.

Allerdings funktioniert die Herleitung des unbedingten Herrschaftsanspruchs des Leviathans nur mit dem Naturzustand Nummer eins (Kampf aller gegen alle). Wenn es dagegen bereits im Naturzustand eine friedliche Kooperation, ein Rechtsempfinden, Sitte, Kultur und Anstand gegeben hat, wird aus dem Leviathan eine echte Abmachung, ein echter Vertrag, veränderbar, aufkündbar, an die jeweiligen Bedürfnisse anpassbar, und vor allem ist der Vertrag nur bindend für die Personen, die ihm aktuell zustimmen. Darauf werde ich im Beitrag über Jean-Jacques Rousseau zurückkommen (Teil 20 dieser Serie).


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