17. Januar 2025 06:00

Libertäre Philosophie – Teil 33 Foucault: Die Macht weiß sich zu erhalten

Diskursanalyse in der Sackgasse

von Stefan Blankertz

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Bildquelle: Flickr Französischer Philosoph Foucault: „Insgesamt wird Macht eher ausgeübt als besessen“

Niemand will ohnmächtig sein, weder im übertragenen noch im wörtlichen Sinne, obwohl uns die Macht auch immer suspekt ist. Macht haben immer die anderen, und zwar zu Unrecht. Macht ist das Verhältnis zur Welt, in der etwas bewirkt wird. Und vor allem ist sie ein Verhältnis zwischen Menschen, die einander beeinflussen. An Nietzsche (Teil 27 dieser Serie) anknüpfend, entwickelte Michel Foucault (1926–1984) eine faszinierende Theorie der Macht: Es ist eine beschränkte Sichtweise, Macht institutionell und juristisch zu behandeln als ein Verhältnis klar definierter Über- und Unterordnung. Die Macht definiert sogar auch das, was der Übergeordnete denken, sagen und machen kann. Die Analyse dessen, was die Macht an Sag- und Machbarem definiert, nannte Foucault „(kritische) Diskursanalyse“. Die Macht ist dabei so etwas wie eine unpersönliche Instanz, die alle Beteiligten bindet.

Nehmen wir einen für Foucault so wichtigen Bereich wie die Wissenschaft. Seine kritische Diskursanalyse könnte heute nicht aktueller sein: Es ist keineswegs so, dass die Wissenschaft völlig frei und ungebunden mit nichts anderem beschäftigt ist, als objektiv richtiges Wissen zutage zu fördern. Sie produziert Wissen, und zwar nach den Regeln des wissenschaftlichen Diskurses und übt insofern Macht aus, nämlich erstens Macht innerhalb des Wissenschaftsbetriebs (auf eigener erkenntnistheoretischer Grundlage ist das auch die Aussage von Paul K. Feyerabend, der in Teil 34 zur Wort kommen wird) und zweitens Macht über die Gesellschaft.

Zwei Diskursanalysen Foucaults greife ich heraus, an denen ich einerseits seine Produktivität und andererseits seinen Schwachpunkt deutlich machen kann. Foucault hat sich lange mit dem Verhältnis von Wahnsinn und Gesellschaft beschäftigt. In seinen Studien konnte er aufzeigen, dass „Wahnsinn“ nicht eine objektive Gegebenheit sei. Vielmehr wurden zu einer ganz bestimmten Zeit der gesellschaftlichen Entwicklung Menschen mit bestimmten Verhaltensweisen ausgegrenzt (oder mussten sie ausgegrenzt werden?). Wahnsinn und die gesonderte Behandlung von Wahnsinnigen in speziellen Einrichtungen (Psychiatrie) sind nicht einfach ein Fortschritt der gesellschaftlichen Entwicklung und eine Fürsorge für schwache Mitglieder, sondern eine Stigmatisierung von normabweichenden Verhaltensweisen. Aus diesen Studien von Foucault (und weiteren, die entweder Mitstreiter waren oder von sonstigen Denkrichtungen herkommend zu ähnlichen Schlüssen kamen wie er) entwickelte sich die sogenannte „Antipsychiatrie-Bewegung“ in den 1960er und 1970er Jahren. Diese Bewegung hat sich große Verdienste erworben im Kampf gegen Zwangseinweisungen und -behandlungen. Einerseits. Andererseits kam es aber dort, wo sie sich in radikaler Weise durchsetzte, zu unbeabsichtigten und nicht bedachten Nebenwirkungen. Die Annahme, das schlichte Verkünden, mit der Stigmatisierung als behandlungsbedürftiger „Wahnsinniger“ (oder neuer: „psychisch Kranker“) sei es nun vorbei und man könne auf die Psychiatrie verzichten, produzierte erhebliche Probleme für die Betroffenen, für die Betreuer, für die Angehörigen sowie für die umgebende Gesellschaft. Es war eine naive Annahme, man könne die Entwicklung einfach umkehren. Es tut sich hier ein Problem analog zum Konstruktivismus auf (freilich kann man Foucaults Theorie nur bedingt als Konstruktivismus bezeichnen): Die Dinge erschöpfen sich nicht in dem, wie wir sie bezeichnen; sie verfügen darüber hinaus über ein eigenes Dasein, sonst ließen sie sich gar nicht bezeichnen. Ganz konkret: Die Stigmatisierung einer Person muss sich an irgendetwas festmachen lassen, ansonsten würde man davon ausgehen, dass über die Stigmatisierung per Würfeln entschieden werde. Aber genau diese Annahme verbietet Foucaults Machttheorie: Zwar wäre es vorstellbar, dass eine kafkaeske Behörde per Würfeln darüber befindet, welche Menschen zu stigmatisieren seien; nicht ist das aber vorstellbar bei einem amorphen gesellschaftlichen Vorgang mit Handelnden, die untereinander durch keine formalisierte institutionelle Macht, sondern über die Macht des Diskurses verbunden sind.

Ein zweiter Schwerpunkt von Foucaults Analysen kreiste um das Gefängnis. Hier knüpfte Foucault besonders eng an Nietzsche an: Die Moral hat kein Wesen außerhalb der Repression, die sie durchsetzt. Erst die Repression macht den menschlichen Körper zu einem Subjekt, dem seine Handlungen zugeschrieben werden: Du hast das getan, dafür musst du büßen. „Überwachen“ und „Strafen“ sind die beiden Tätigkeiten der Macht, mit denen sie sich zu erhalten weiß. Die Moral (oder das Recht) ist ihr formales Instrument, das Gefängnis (oder die Folter und die Hinrichtung) das materielle Instrument. Um die öffentliche Moral (und Ordnung) aufrechtzuerhalten, so Foucault, bedarf die Macht stets einer Gruppe von Außenseitern, an denen sie ihre Potenz demonstrieren kann. Die übrige Mehrheit der Menschen halten diese Machtdemonstrationen in Angst und Schrecken; damit werden sie veranlasst, die Regeln nicht zu übertreten. Aber an dieser Stelle gerät die Analyse soziologisch gesehen zu einer maximal schwammigen Sache. Denn wie „sorgt“ die Macht dafür, dass diese Gruppe von Außenseitern zur Hand ist? Das wüssten wir doch gern genauer: Wie macht die Macht das? Und wer macht es? Es gibt durchaus institutionelle Rahmbedingungen, und innerhalb derer entscheiden konkrete Menschen. Eine Analyse sowohl dieser institutionellen Rahmenbedingungen als auch der menschlichen Entscheidungen scheint mir nicht nur erkenntnistheoretisch gefordert, sondern auch für das gesellschaftliche Handeln nützlich zu sein. Außerdem erhebt sich das gleiche Problem wie bei der Antipsychiatrie-Bewegung. Die Gefängnisse bloß abzuschaffen, ist vermutlich ein so verhängnisvoller Weg, dass er zu einem heftigen Rückschlag führen wird. Normabweichung stellt sich zwar einerseits als durch die Macht definiert dar, die die Norm aufstellt, andererseits gibt es Verhaltensweisen, die eine Gesellschaft unter keinen Umständen tolerieren kann. Die Norm ist mehr als nur Ausdruck einer Macht, sei sie institutionalisiert, sei sie informell, sie ist auch eine Bedingung von Sozialität überhaupt. Hier ist eine Theorie gefordert, die sowohl die Macht kritisiert als auch die Gesellschaft möglich erhält.

Was für den Normbegriff gilt, gilt auch für den Subjektbegriff. Wenn Foucault impliziert, dass das Subjekt ausschließlich das Produkt von „Politik am Körper“ (Zufügung von Schmerz zur Durchsetzung von Normen) wäre, fragt sich: Was ist ein Lebewesen, das mit manueller Geschicklichkeit, intellektueller Fähigkeit und vor allem mit Erinnerung ausgestattet ist, wenn nicht ein mit sich selber identisches Subjekt, das sich seiner Subjekthaftigkeit bewusst ist? Den Menschen kann man sich nicht vorstellen als ein Wesen, das nur aus einer Abfolge beliebiger, unverbundener und sich nicht selbst bewusster Handlungen besteht. Oder andersherum gesagt: Menschen, die aufgrund einer Erkrankung oder Verletzung über keine Selbstidentität mehr verfügen, sind schlicht lebensunfähig und auf die Fürsorge anderer angewiesen – und zwar auf Fürsorge, die nicht als Übergriff der Macht zu bezeichnen ist, vielmehr ganz grundlegend durch fehlende Fähigkeit gegeben ist, den Alltag so zu bewältigen, dass sich ein Überleben gewährleisten lässt.

Die Philosophie Foucaults ist in vielerlei Hinsicht faszinierend, immer anregend, und doch schüttet er, um es umgangssprachlich zu formulieren, allzu oft das Kind mit dem Bade aus. Die scheinbar kompromisslose Radikalität seiner Kritik schlägt dann um in ein hilfloses Achselzucken, das schlicht besagt, man könne angesichts der Ausweglosigkeit der Gegebenheiten sich kein anderes, besseres Leben vorstellen. Damit will ich nicht eine pessimistische Analyse, wie sie zum Beispiel von Theodor W. Adorno (Teil 31 dieser Serie) stammt, von der Hand weisen: Aber sie muss sich den Pessimismus eingestehen. Das Problematische an Foucault ist, dass er zu einem Optimismus verführt, den eine Praxis namens seiner Theorie nicht rechtfertigt. Und das ist keine gute Mischung, weder in theoretischer noch in praktischer Hinsicht.


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