05. November 2025 06:00

Wohlfahrt Würdige und unwürdige Armenhilfe

Die Lehren aus dem Elberfelder System für die zukünftige Sozialarbeit

von Oliver Gorus drucken

Historisches Stadtbild von Elberfeld im 19. Jahrhundert mit Szenen der Armenfürsorge
Bildquelle: Redaktion Historisches Stadtbild von Elberfeld im 19. Jahrhundert mit Szenen der Armenfürsorge

Wie so vieles ist auch das heute im gesamten Westen allgegenwärtige staatliche Sozialsystem eine deutsche Erfindung: Reichskanzler Otto von Bismarck führte in den 1880er Jahren den weltweit ersten „Staatssocialismus“ ein.

Das bismarcksche System bestand aus drei Säulen, nämlich einer zwangsweisen Krankenversicherung für Industriearbeiter, einer zwangsweisen Unfallversicherung für Beschäftigte in Betrieben mit mehr als zehn Mitarbeitern und einer zwangsweisen Invaliditäts- und Altersversicherung für alle Lohnarbeiter unterhalb eines Jahreslohns von 2.000 Mark.

Ein Grundprinzip war damals noch, dass nur derjenige Leistungen erhielt, der auch in die Kassen einzahlte, womit beispielsweise Arbeitslose oder Frauen keine Leistungen erhielten. Dass Ausländer keine Leistungen erhielten, war damals noch selbstverständlich. Die Sozialkassen wurden anders als im heutigen Umverteilungssystem unmittelbar über die Wertschöpfung finanziert, an der die Leistungsempfänger direkt beteiligt waren: Zwei Drittel der Beiträge zur Krankenversicherung stammten vom Arbeiter, ein Drittel vom Arbeitgeber. Die Unfallversicherung wurde zu 100 Prozent vom Arbeitgeber zwangsfinanziert. Und die Finanzierung der Invaliditäts- und Altersrente teilten sich Arbeiter und Arbeitgeber 50 zu 50.

Das eigentliche Ziel dieser etatistischen, zentralistischen Absicherung der Arbeiter war aber keineswegs ein altruistischer Wohlfahrtsgedanke, sondern schlicht die Verhinderung von sozialen Unruhen und die Bindung der Arbeiter an den Staat. Es war eine defensive Maßnahme zum Machterhalt und gegen die Gefahr einer sozialistischen Revolution. Dementsprechend leisteten nicht nur die den obrigkeitsstaatlichen Zwang beklagenden Liberalen, sondern auch die Sozialdemokraten Widerstand gegen die Sozialversicherung, denn sie verloren damit die um soziale Sicherheit kämpfenden Arbeiter als Machtinstrument im Klassenkampf.

Das Sozialsystem des Deutschen Reichs bestand jedoch keineswegs nur aus dem bismarckschen Sozialversicherungssystem des Zentralstaats, sondern außerdem auch aus den nicht-etatistischen, auf Freiwilligkeit statt auf Zwang gründenden und deutlich älteren Bestandteilen der kommunalen Armenfürsorge, der kirchlichen und der privaten Wohltätigkeit sowie der betrieblichen und genossenschaftlichen Selbsthilfe.

Diese Initiativen kümmerten sich um die nicht fest angestellten und damit nicht sozialversicherten Tagelöhner, die Arbeitslosen, die Witwen und Waisen und die Alten ohne Rente. Also die wahren Armen.

Ein Grundstein dieser Armenfürsorge war das Heimatprinzip: Hilfe gab es nur in der Gemeinde des rechtlichen Wohnsitzes, womit der Sozialhilfebetrug durch Mehrfachbezug ausgeschlossen und der unmittelbare örtliche Bezug zwischen Hilfeleistern und Hilfeempfängern und damit eine gewisse soziale Kontrolle gewährleistet war: Hilfe, wo nötig, war anerkannt und ehrenvoll, aber auf gar keinen Fall wollte man Schmarotzer, Vagabunden, Unanständige oder Fremde alimentieren.

Ein interessanter und auch für die heutige Zeit vorbildlicher Bestandteil dieses dezentralen Sozialwesens war ein System, das 1853 in Elberfeld, das heute ein Stadtteil von Wuppertal ist, entwickelt worden war und nach Reichsgründung von über 200 deutschen Kommunen übernommen wurde.

Elberfeld hatte damals den Spitznamen „deutsches Manchester“, die Stadt war ein Vorreiter der Industrialisierung und damit auch zwangsläufig ein Vorreiter der sozialen Probleme, die durch starkes Bevölkerungswachstum, Landflucht, Vermassung der Großstädte und prekäre Lohnarbeit entstanden. Mitte des 19. Jahrhunderts waren Elberfeld und die Nachbargemeinde Barmen die höchstindustrialisierten Städte Deutschlands. In den mittleren fünf Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts vervierfachte sich die Einwohnerschaft Elberfelds, der Anteil der Armen war überdurchschnittlich hoch. Das traditionelle Sozialwesen war überfordert und benötigte dringend eine Modernisierung.

Der Elberfelder Bürgermeister Daniel von der Heydt und der Pfarrer Johann Heinrich Wichern entwickelten ein System der dezentralen, persönlichen, unbürokratischen, ehrenamtlichen, skalierbaren, flexiblen und individuellen Hilfe.

Zunächst wurde die Stadt in kleine Bezirke mit 200 bis 300 Einwohnern aufgeteilt. In jedem Bezirk wurde ein ehrenamtlicher Armenpfleger ausgewählt und bestimmt, meistens eine angesehene Person aus der Mittelschicht, also aus dem Handel, dem Handwerk oder der Kirche. Der Armenpfleger erhielt keine Entlohnung, dafür aber sehr viel Anerkennung. Nach zwei bis drei Jahren endete die Amtszeit und ein neuer Armenpfleger wurde ernannt. Diese Rotation verhinderte den Aufbau korrupter Strukturen.

Die Armenpfleger hielten wöchentliche Sprechstunden ab, konnten also von den Armen aufgesucht werden, außerdem machten sie Hausbesuche, agierten also formal ganz ähnlich wie Ärzte.

Die Armenpfleger ermittelten und überprüften den Hilfebedarf: Sie prüften das Einkommen, verschafften sich einen Einblick in die familiären Verhältnisse und die Lebensführung der Familienmitglieder, achteten dabei insbesondere auf den Alkoholkonsum und die Arbeitswilligkeit. Danach diagnostizierten die Armenpfleger entweder „würdige“ oder „unwürdige“ Armut. Im ersteren Fall organisierten sie Soforthilfe in Form von Kohle zum Heizen, Brot, medizinischer Hilfe oder Übernahme der Miete zur Verhinderung von Obdachlosigkeit. Sie vermittelten auch ganz praktisch Arbeits- und Schulplätze, Krankenhausbehandlungen oder Plätze im Waisenhaus und berieten beim Abbau von Schulden, um die Situation von Familien und Einzelnen langfristig zu verbessern.

Bei „unwürdiger“ Armut wurde die Hilfe abgelehnt. Das betraf 20 bis 30 Prozent der Fälle. Beispielsweise hatten Säufer, Spieler, Eltern unehelicher Kinder und Arbeitsfähige, die nicht aktiv Arbeit suchten, keine Chance auf Unterstützung. Ihnen drohte stattdessen Zwangsarbeit oder die Abschiebung aus der Stadt.

Die Entscheidung über die Würdigkeit der Armut lag ganz beim Armenpfleger. Sein Urteil war subjektiv und sicherlich zum Teil willkürlich. Die Bedürftigen, die offensichtlich nicht für sich selber sorgen konnten, wurden bevormundet und wie Kinder behandelt. Aber gesunde Menschen behandeln Kinder liebevoll, wohlwollend und fürsorglich, und man darf davon ausgehen, dass die Armenpfleger sorgsam ausgesucht wurden. Für die anständigen Hilfsbedürftigen waren die Armenpfleger eine große, oft die einzige Chance, dementsprechend strengten sich die meisten an, die Hilfe zur Selbsthilfe anzunehmen und sich aus der Armut herauszuarbeiten.

Nicht unterschätzt werden darf die Tatsache, dass sowohl die Armenpfleger als auch die finanziellen Mittel aus der unmittelbaren Nachbarschaft der Hilfeempfänger stammten. Es gab also einerseits eine große Bereitschaft der Bürger, den ganz und gar nicht anonymen in Not geratenen Menschen in unmittelbarer Nähe zu helfen, einfach aus Mitgefühl, Anstand und Stolz. Andererseits gab es für die Empfänger einen erheblichen sozialen Druck, den wohlbekannten Menschen nicht auf der Tasche zu liegen, sondern das Menschenmögliche zu tun, um der Armut zu entkommen. Nachbarschaft und Personalisierung sind für die Effektivität der Wohlfahrt definitiv Trumpf.

Die notwendigen Mittel, die die Armenpfleger verteilten, beantragten und begründeten sie bei der städtischen Armenkommission, die aus Mitgliedern des Stadtrats und Ehrenamtlichen gebildet wurde. Das Budget dafür stammte zu etwa 60 Prozent vom Stadtkämmerer, circa 20 Prozent aus kirchlichen Mitteln, circa 15 Prozent aus privaten Stiftungen und circa 5 Prozent aus Erbschaften.

Der städtische Anteil enthielt im 19. Jahrhundert typischerweise einen kleineren Anteil an Steuern und Zwangsabgaben, also lokale Steuern auf Einkommen, Vermögen und Gewerbe, Zwangsgebühren auf Konsum und monopolisierte Dienstleistungen sowie Zuschüsse vom Land und vom Bund für spezielle Aufgaben. Der größere Teil der kommunalen Finanzen resultierte aber aus städtischen Betrieben, Verpachtungen und Gewinnen aus der Versorgung mit Gas, Wasser, Straßenbahnen oder Schlachthöfen. Die Zwangsfinanzierung umfasste somit oft etwa ein Drittel des Etats, zwei Drittel wurden erwirtschaftet.

Zur Finanzierung der kommunalen Sozialleistungen im Elberfelder System wurde also ein Anteil von etwa einem Drittel von 60 Prozent, also etwa 20 Prozent, aus Zwangsgeldern bestritten, vier Fünftel wurden auf der Basis von Freiwilligkeit aufgewendet.

Ein Fünftel Zwang ist zwar nicht gewaltfrei, aber dennoch spielte man ethisch im 19. Jahrhundert noch in einer ganz anderen Liga als heute, wo das sozialistische Umverteilungssystem alleine auf Zwang und Gewalt beruht.

Vor allem aber war das System durchschlagend effektiv, und das in mehrerlei Hinsicht. In Elberfeld halbierten sich dadurch die Kosten pro Einwohner für die Armenfürsorge, wie der Elberfelder Magistrat 1855 berichtete. Gleichzeitig sank die Zahl der chronisch Hilfsbedürftigen sehr stark, was sich nicht nur am sinkenden Etat der Armenkommission, sondern zum Beispiel auch an der Zahl der Bettler im Stadtgebiet messen ließ, die in wenigen Jahren um 80 Prozent gefallen war.

Das Elberfelder System markierte den Übergang von rein karitativer Wohltätigkeit zu systematischer und individueller Sozialarbeit, wie sie im Prinzip auch heute noch von Trägern der Jugend- und Sozialhilfe geleistet wird. Nur war die Sozialarbeit vor 170 Jahren subsidiär dezentral organisiert und finanziert, weil der Kapitalstrom damals von den Gemeinden über die Regionen und Länder zum Bund floss, während seit 1919 das Geld umgekehrt von „oben“ nach „unten“ gewährt wird, nämlich seit den Erzbergerschen Reformen der Sozialdemokratie, die aus Deutschland einen Umverteilungsstaat und ein Hochsteuerland gemacht haben.

Der fiskalische Zentralstaat ist eine sozialistische Erfindung, die unter anderem die prinzipiell ungerechte und heute monströse Umverteilung sowie die Bürokratisierung der Sozialhilfe mit sich brachte: Aus Fürsorge wurde Anspruch. Aus freiwilliger Hilfe wurde Versklavung der Wertschöpfenden.

Mehrere Schritte rückwärts in Richtung Elberfelder System wären heute ein Segen – für den Wirtschaftsstandort Deutschland, für die Leistungsträger, für die Professionalisierung der Sozialarbeit und nicht zuletzt auch für die wirklich Hilfebedürftigen.


Sie schätzen diesen Artikel? Die Freiheitsfunken sollen auch in Zukunft frei zugänglich erscheinen und immer heller und breiter sprühen. Die Sichtbarkeit ohne Bezahlschranken ist uns wichtig. Deshalb sind wir auf Ihre Hilfe angewiesen. Freiheit gibt es nicht geschenkt. Bitte unterstützen Sie unsere Arbeit.

PayPal Überweisung Bitcoin und Monero


Kennen Sie schon unseren Newsletter? Hier geht es zur Anmeldung.

Artikel bewerten

Artikel teilen

Kommentare

Die Kommentarfunktion (lesen und schreiben) steht exklusiv nur registrierten Benutzern zur Verfügung.

Wenn Sie bereits ein Benutzerkonto haben, melden Sie sich bitte an. Wenn Sie noch kein Benutzerkonto haben, können Sie sich mit dem Registrierungsformular ein kostenloses Konto erstellen.