Schräglauf in den Totalitarismus: Antwort auf Kritik an Libertarismus: Ist der Staat von Gott gewollt?
Nein, sondern nur als Geißel einer rebellischen Menschheit von ihm zugelassen und toleriert

Freiheitsfunken-Kollege David Andres hat uns vor einigen Monaten auf den katholischen Priester Oliver Dembski aufmerksam gemacht, der in Predigten die „gotteslästerliche Anmaßung des Staates“ kritisiert. Vergangene Woche jedoch teilte Andres uns mit, dass ebendieser Geistliche die Unterwerfung unter ebendiesen Staat predigt und dabei vor „extremem Libertarismus“ warnt. Mehr noch, dieser Libertarismus sei dessen Meinung nach „eine größere Gefahr für unser Gemeinwohl als ein an sich natürlich nicht zu tolerierender Rechts- oder Linksextremismus“.
Da wollen wir doch mal näher hinschauen. Was genau hat Dembski gesagt? Haben seine Aussagen Hand und Fuß? Vor allem: Sind sie biblisch belegt?
Das seiner Predigt zugrunde liegende Bibelzitat, „Seid jeder menschlichen Obrigkeit untertan“, stammt aus dem ersten Petrusbrief (1 Petrus 2:13, gemäß Titel im entsprechenden Youtube-Video, siehe Link unten). Zu Beginn relativiert er diese Aussage etwas mit dem Hinweis auf ein anderes Wort desselben Apostels: „Man muss Gott mehr gehorchen als den Menschen“ (Apostelgeschichte 5:29). Und führt dazu aus: „Im Unterschied zu Gott ist auch immer klar, dass der Gehorsam gegenüber rein menschlichen Autoritäten nie vollkommen uneingeschränkt sein kann.“
Zum Thema Gehorsam führt Dembski aus, dieser diene der „sittliche Reifung der Persönlichkeit. Der Gehorsam steigert die Tugenden, ja ist selbst eine Tugend. Der Gehorsam kann also auch ein Opfer sein, aber es ist klar, dass im wirklich verstandenen Gehorsam niemals unsere Freiheit verletzt wird.“ Der Gehorsam bekämpfe außerdem „die ungeordnete Sinnlichkeit des Menschen“.
Das alles trifft zu. Wenn der Gehorsam gegenüber einer moralisch untadeligen Obrigkeit besteht, dann kann ein Mensch tatsächlich zu seinem vollsten, vorteilhaftesten Potenzial heranreifen und die beste Version seines Selbst werden. Eine Version, die nicht nur ihm selbst höchste Lebenszufriedenheit ermöglicht, sondern auch nutzbringend auf seine unmittelbare und fernere Umgebung wirkt.
Aber welche menschliche Obrigkeit ist moralisch untadelig? Oder, anders gefragt: Unter welchen Umständen ist eine menschliche Obrigkeit so untadelig wie in dieser Welt realistisch möglich? Ist der Staat diejenige Obrigkeit, für die dies am wahrscheinlichsten zutrifft? Oder sind es andere menschliche Obrigkeiten? Und wenn es der Staat ist, welche Staatsform ist dann die moralisch untadeligste? Diesen Aspekten der diskutierten Problematik schenkt Dembski nur wenig Aufmerksamkeit. Viel zu wenig.
Doch der Reihe nach. Kommen wir zunächst zu Dembskis Definition von „Staat“. Da passiert nämlich etwas, das viele Zuhörer vielleicht gar nicht bemerken, aber höchst bemerkenswert ist. Er ist ein geschulter, disziplinierter Rhetoriker mit sehr angenehmer Stimme. Er spricht langsam, gemessen, deutlich und sehr geschliffen. Dennoch verspricht er sich an einer Stelle. Das Bemerkenswerte: Er wiederholt sich und verspricht sich an derselben Stelle nochmal. Er sagt: „Der Staat ist die mit menschlicher Autorität“ – hier hält er inne und korrigiert sich – „mit moralischer Autorität und physischer Macht ausgestattete und durch die Rechtsordnung geeinte Volksgemeinschaft zur Sicherung und Förderung des Gemeinwohls.“
Vielleicht aufgrund genau dieses Versprechers versucht es Dembski nochmal. Ich zitiere ihn, wie auch sonst in diesem Artikel, aus dem Youtube-Transkript des Videos: „Der Staat ist die mit mensch“ – und wieder hält er inne, bevor er fortsetzt – „mit moralischer Autorität und physischer Macht ausgestattete und durch die Rechtsordnung geeinte Volksgemeinschaft zur Sicherung und Förderung des Gemeinwohls.“
Es erhebt sich der Verdacht einer freudschen Fehlleistung. Dembski hatte zuvor gesagt, dass einer „rein menschlichen Autorität“ kein uneingeschränkter Gehorsam zukommen kann. Deswegen wird er vermieden haben wollen, den Staat als mit „menschlicher“ Autorität und Macht ausgestattet zu definieren. Das hätte sein ganzes Argumentationsgebäude schwer beschädigt.
Andere Versprecher sind mir nicht aufgefallen. Das macht diesen doppelten Versprecher umso seltsamer. Ich komme gleich darauf zurück. Nehmen wir ihn zunächst beim gemeinten Wort.
Der Staat ist mit moralischer Autorität ausgestattet? Wirklich? Von wem? Von Gott? Wo steht das? Oder ist er vielleicht doch „nur“ mit menschlicher Autorität ausgestattet und lediglich in dem Maße von Gott zugelassen oder toleriert, in dem wir von seinen Geboten abweichen. Zugelassen oder toleriert, aber nicht gewollt. Nicht im Sinne von „ursprünglichem Willen“. Toleriert, um uns ein Mittel in die Hand zu geben, uns in bewusster Ermangelung unserer freiwilligen Einhaltung der göttlichen Gebote ein weltliches, also mit menschlicher (!) Autorität ausgestattetes Instrument in die Hand zu geben, uns gegenseitig zu zwingen, einigermaßen ordnungsgemäß miteinander umzugehen. Dass es dabei zu erheblichen Abweichungen vom Ideal kommt, ist nur allzu menschlich. Gerade an dieser Stelle käme es den Kirchen zu, die im Staat Handelnden auf die von Gott auch für sie gesetzten Grenzen hinzuweisen.
Doch wie kam es dazu, dass Gott Staaten zuließ? Im Paradies gab es keine und unmittelbar danach auch nicht. Die ersten Versuche der Staatenbildung entsprachen laut Bibel ganz und gar nicht Gottes Willen.
In der heiligen Schrift ist der allererste Versuch, einen Staat zu errichten, der Turmbau zu Babel. Ein Weltzentralstaat, der verhindern sollte, dass sich die Menschheit über die ganze Erde „zerstreut“. Dieses Projekt fand überhaupt kein Wohlgefallen in den Augen Gottes. Es war ein Gebilde rein menschlicher Autorität. Gott machte es zunichte, indem er die Sprache verwirrte, „sodass keiner mehr die Sprache des anderen versteht“ (Genesis 11:7).
Der zweite in der Bibel erwähnte Staat ist der Stadtstaat Ur, den Abram (der spätere Abraham) verlässt, weil dieser, so ist aus dem Kontext zu ermitteln, seiner Gott nutzbringenden persönlichen Entwicklung nicht förderlich ist. Der nächste erwähnte Staat ist Ägypten unter dem Pharao. Dem Abram eine Lügengeschichte auftischt, damit er nicht, wie er fürchtet, erschlagen wird: Er gibt seine sehr attraktive Frau Sarai als seine Schwester aus. Auf die heutige Zeit übertragen, betreibt er zum Selbstschutz Steuerhinterziehung. Bald darauf begegnen wir dem Stadtstaat Sodom, in dem Gott nicht einmal zehn Gerechte findet. Die wenigen vorhandenen Gerechten, nämlich Lot und seine Familie, werden mittels göttlicher Botschaft gewarnt, den Sündenpfuhl zu verlassen, ohne sich umzudrehen. Danach werden Mann und Maus, Mauer und Haus in der Stadt mit so etwas wie einem kosmischen Bannstrahl verbrutzelt.
Wir sehen: Es gab in der Bibel Staaten, die ganz und gar nicht gottgefällig waren. Denen Menschen daher keinen Gehorsam schuldeten. Sie waren rein menschliche, aber keine moralischen Autoritäten. Vielleicht war der doppelte Versprecher Dembskis gar keine freudsche Fehlleistung, sondern die Stimme Gottes?
Die erste biblische Stelle, wo wir einer gewissen Überschneidung eines annäherungsweise Staat zu nennenden Gebildes und dem Willen Gottes begegnen, ist im ersten Buch Samuel. Zu diesem Zeitpunkt, nach dem Exodus (wiederum aus Ägypten übrigens), haben die Hebräer im „gelobten Land“ mehrere Protostaaten und ganze Völker vernichtet, die laut heiliger Schrift nicht gottgefällig waren. Sie selbst haben keinen König. Sie regeln ihre weltlichen Verhältnisse untereinander allein vor Richtern. Doch sie sind unzufrieden damit und wollen, „wie es bei anderen Völkern der Fall ist“, einen König (1 Samuel 8:5). Und das, obwohl sie, beziehungsweise ihre Vorfahren, selbst aus einem Königsstaat ausgewandert waren, weil er ihnen das Anbeten ihres Gottes unmöglich gemacht hatte.
Der Prophet Samuel brachte dieses Begehr im Gebet vor Gott. Dieser antwortete ihm, er solle auf das Volk hören, denn es habe nicht ihn, Samuel, verworfen, sondern Gott. Wörtlich sagt der Schöpfer: „Ich soll nicht mehr ihr König sein“ (1 Samuel 8:7). Wir sehen: Im Grundsatz stehen Gott und der Staat im Gegensatz zueinander; sie sind gewissermaßen Antipoden. Da Gott jedoch allmächtig ist, kann er selbst seinen Antipoden zu seinen Zwecken nutzen, wenn er will.
So lässt Gott in diesem Fall das Volk gewähren. Doch er spricht vorher noch eine Warnung darüber aus, welche Lasten der menschliche König dem Volk aufbürden wird, nachzulesen in 1 Samuel 8:10-17. Er schließt seine Warnung mit diesen Worten: „An jenem Tag werdet ihr wegen des Königs, den ihr euch erwählt habt, um Hilfe schreien, aber der Herr wird euch an jenem Tag nicht antworten“ (1 Samuel 8:18).
So ist es bis heute geblieben. Den Staat als solchen werden wir laut Bibel nicht mehr los. Er ist nicht von Gott gewollt. Er ist von ihm zugelassen und toleriert, weil wir Menschen, in unserer Anmaßung, Gott verwerfen zu können, ihn wollten. Auf diese biblische Erklärung für die Entstehung des Staates geht Dembski leider mit keinem Wort ein.
„Der Bestand des Staates“, präzisiert Dembski stattdessen, „liegt in der Herrschaft und in der Sicherung und Sicherheit des Rechtes. Wir reden hier also von einem Rechtsstaat.“ Aha. Was aber, wenn das Recht den Staat verlässt oder der Staat das Recht? Was dann? Dembski hat es am Anfang seiner Rede selbst gesagt, mit den Worten von Petrus: „Man muss Gott mehr gehorchen als den Menschen.“ Aber er führt diesen Gedanken nicht weiter aus.
Stattdessen kommt von Dembski unverständlicherweise, und vermutlich verständnislos, ein Angriff ausgerechnet auf die Libertären. Genauer gesagt, die „extremen“ Libertären, die glauben, ohne Staat leben zu können. Sie sollen schlimmer sein als die extremen Linken und Rechten. Die geistigen Vorfahren der letzteren beiden sind immerhin für den Tod von mehr als hundert Millionen Menschen allein im 20. Jahrhundert verantwortlich. Warum Dembski nun ausgerechnet vor den Libertären warnt, erklärt er nicht einmal im Ansatz. Wie viele Menschen haben extreme Libertäre umgebracht? Wie viele davon aus politischen Gründen? Die Antwort „null“ ist wahrscheinlich näher an der Wahrheit als „nahe null“. Und das nicht nur aus Mangel an Gelegenheit. Vielleicht sollte sich Dembski mal mit dem einen oder anderen „extremen“ Libertären unterhalten oder Werke eines solchen vertiefend lesen, bevor er solche verdammenden Aussagen tätigt.
Einen anderen wichtigen Punkt streift Dembski nur oberflächlich. Er vernachlässigt ihn sträflich. Sowohl im Petrusbrief als auch bei der ähnlichen Aussage von Paulus in seinem Römerbrief ist, wenn man genau hinschaut, von einer Vielzahl von Obrigkeiten die Rede. Die Worte „jede menschliche Obrigkeit“ bei Petrus bedeuten mitnichten nur den Staat, auch wenn er hier den Staat, beziehungsweise den Kaiser und seine Gesandten, als Beispiel vorbringt. Und was sagt Paulus? In der „Schlachter 2000“-Übersetzung der Bibel wird der berühmte Vers im Römerbrief so übersetzt, dass er dem altgriechischen Original am ehesten entspricht: „Jedermann ordne sich den Obrigkeiten unter, die über ihn gesetzt sind; denn es gibt keine Obrigkeit, die nicht von Gott wäre; die bestehenden Obrigkeiten aber sind von Gott eingesetzt.“
Von welchen Obrigkeiten redet Paulus hier? Der amerikanische Theologe Gary North weist darauf hin, dass Gesellschaften mindestens vier menschliche Obrigkeiten kennen: Neben dem Staat ist es das Individuum, das eine Obrigkeit über sich selbst und seine ansonsten unregulierten Triebe ist, die Familie und die Kirche. In seinem Buch über den Römerbrief aus dem Jahr 2012 mit dem Titel „Cooperation and Dominion: An Economic Commentary on Romans“ heißt es über Kapitel 13 des Briefs: „Eine nationale Zivilregierung oder ein Imperium stand schon immer im Wettbewerb: mit ausländischen zivilen Herrschern, lokalen zivilen Herrschern, Familien, Verwandtschaftsgruppen, Kirchen, Verbänden und Unternehmen.“
Paulus selbst, schreibt North, ging in dieser Sache beispielhaft voran und „erwies der rechtmäßigen Obrigkeit Ehre. Aber wenn eine Obrigkeit gegen eine andere benutzt werden konnte, ließ Paulus sie miteinander konkurrieren, um seine Freiheit zu gewinnen.“
Diesen Rat und diese Handlung von Paulus zu ignorieren, bedeutet, den von Dembski mit gutem Grund im Vergleich zu anderen Staaten bevorzugten Rechtsstaat ernsthaft zu gefährden. Es bedeutet nichts weniger, als den Kräften des Totalitarismus Tür und Tor zu öffnen. Dann sind wir wieder bei einem Turmbau zu Babel, der erneut, wie sein Vorgänger, scheitern wird. Das ist keine rein theoretische Überlegung, sondern inzwischen harte Realität. North schreibt dazu in einer Fußnote zu seinen Ausführungen über die verschiedenen Obrigkeiten: „Der Höhepunkt des Vertrauens des Westens in die zivile Regierung liegt nun hinter uns. Der unvermeidliche Bankrott aller umlagefinanzierten, steuergestützten und obligatorischen Rentenprogramme der westlichen Regierungen wird die meisten verbliebenen Spuren dieses Glaubens noch vor Mitte des einundzwanzigsten Jahrhunderts beseitigen.“ Deswegen der Schräglauf in den Totalitarismus. Die zunehmend, zunehmend offen und unversteckt vorgenommene Abwendung von Gottes Geboten selbst in den höchsten Staatsämtern ist Ausdruck eines verzweifelten Versuchs der Handelnden, ihr Staatsgebäude vor dem von ihnen erahnten, selbstverschuldeten und unabwendbaren Verfall zu retten.
Statt auf jene verbal einzuprügeln, die diese Entwicklung selbst ohne Gottesbezug früher und klarer vorhergesehen und ihre „extremen“ Schlussfolgerungen daraus gezogen haben, ist es an der Zeit, dass sich die Kirchen auf dieses nun unausweichliche Ereignis vorbereiten. Ungefähr so wie nach dem Zusammenbruch des Römischen Reiches werden sie, wie auch Familien und Individuen, als alternative Obrigkeiten zum dann völlig versagenden Staat gefordert sein, wenigstens vorübergehend für Recht und Ordnung zu sorgen.
Bis sich danach neue staatliche Strukturen bilden, wenn überhaupt, wird etwas Zeit vergehen. In der Zwischenzeit müssen Kinder geschult, Obdachlose behaust, Hungernde versorgt, Kranke geheilt und Sterbende begleitet werden. Manche Kirche wird sich dann wieder auf diese ihre Aufgaben konzentrieren, die den Gotteshäusern in der Spätantike ganz natürlich, oder göttlich gewollt, zuwuchsen. Wie damals werden die so geschaffenen Institutionen jene Attraktoren sein, die aus dem Chaos eine Zivilisation erwachsen lassen, die, wie die westliche Zivilisation bis etwa 1914, im Saldo ein unübersehbarer Segen für die Menschheit sein wird.
Ein Grund für „1914“ und
die bis heute erlittenen Folgen ist, dass die Kirchen im Verlauf der
vergangenen paar Jahrhunderte vor jenem Datum die eben genannten Aufgaben
sträflich Staaten überlassen haben, deren Akteure zunehmend meinten, ohne Gott
auskommen zu können. Bis nach dem nun unausweichlichen Chaos wie nach dem
ersten Turmbau zu Babel wieder eine zivile und zivilisatorische Ordnung herrschen
wird, werden Geistliche weniger Zeit und Muße haben als heute, vor Gefahren zu warnen,
die keine sind.
Quellen:
Zitate aus der Bibel, falls nicht anders angegeben: Einheitsübersetzung, Katholische Bibelanstalt GmbH, Stuttgart 1980.
„Der Staat an sich ist von Gott gewollt“; Artikel von David Andres, freiheitsfunken.info
„Seid jeder menschlichen Obrigkeit untertan“ (1 Petrus 2:13), Predigt über das Verhältnis des Katholiken zum Staat; Oliver Dembski, Youtube
„Cooperation and Dominion: An Economic Commentary on Romans“; Gary North 2012, garynorth.com (PDF)
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