26. November 2025 06:00

Pathologie der Macht Der Lügner und die Hofschranzen

Die Merz-Weimer-Affäre, Berlusconi und das öffentliche Lügen

von Oliver Gorus drucken

Grandioser Narzissmus: Normal in der Politik
Bildquelle: Redaktion Grandioser Narzissmus: Normal in der Politik

Lügen sind typisch für grandiose Narzissten. Das narzisstische Lügenmuster beinhaltet, dass die Lügen sofort und objektiv widerlegbar sind, dass sie vom Narzissten trotzdem mit größter Überzeugung und Aggression vertreten werden, dass bei Konfrontation mit der Wahrheit kein Rückzug folgt, sondern Angriff oder neue Lügen, und dass die Realität vom Narzissten einfach umgeschrieben wird, weil das grandiose Selbstbild wichtiger ist als Fakten.

Das Verhalten von Silvio Berlusconi illustriert beispielhaft die Art von Lügen, die Inhaber von Machtpositionen mit grandios narzisstischen Störungen in die Welt setzen: Berlusconi war vor etwa 15 Jahren Ministerpräsident von Italien und veranstaltete als Mitte-Siebzigjähriger in seiner Villa bei Mailand regelmäßig „Bunga-Bunga“-Partys. Dort traten Dutzende junger Frauen und Models ziemlich nackt auf, es gab Striptease, erotische Tänze und Sex – mit Berlusconi und seinen Freunden. Im Mai 2010 wurde die damals 17-jährige marokkanische Tänzerin Karima El Mahroug (Künstlername „Ruby“) nach einem Diebstahl festgenommen. Berlusconi rief sofort persönlich bei der Polizei an und ließ sie als „Nichte des ägyptischen Präsidenten Mubarak“ ausweisen und sofort freilassen, damit sein Name nicht auftaucht. Die Verwandtschaft von Ruby mit Mubarak war allerdings eine komplette Erfindung.

Als die Affäre 2011 aufflog, behauptete Berlusconi öffentlich und vor Gericht, er habe nie für Sex bezahlt. Allerdings war da bereits gerichtlich bewiesen, dass er Dutzenden Frauen für Sex hohe Summen gezahlt und Schmuck geschenkt hatte. Er behauptete des Weiteren ausdrücklich: „Ruby war nie auf meinen Partys und ich hatte nie Sex mit ihr“ – dabei hatte dies Ruby selbst zugegeben. Zahlreiche Zeuginnen sagten aus, dass Ruby mehrfach da war und Berlusconi ihr 187.000 Euro in bar gegeben hatte. Zudem behauptete Berlusconi, nicht gewusst zu haben, dass Ruby minderjährig war. In Wahrheit hatte er ihren Pass überprüft gehabt.

All diese öffentlich widerlegten Lügen wiederholte Berlusconi jahrelang im Fernsehen, vor Richtern und im Parlament – immer mit theatralischer Empörung. Er wurde 2013 wegen Bezahlung von Sex mit einer Minderjährigen und Amtsmissbrauch verurteilt. Zusammengefasst: Er log dreist, offensichtlich und ohne jede Scham – und das vor der ganzen Welt.

Zu behaupten, dass Merz oder Weimer grandios narzisstisch gestört sind, obwohl deren frappierende Lügen diesem Muster offensichtlich entsprechen, verbietet sich dennoch. Und das hat mit dem republikanischen Präsidentschaftskandidaten von 1964, Barry Goldwater, zu tun: Die US-amerikanische Zeitschrift „Fact“ ließ während des damaligen Wahlkampfs über 12.000 Psychiater befragen, ob Goldwater psychisch geeignet sei, Präsident zu werden. Knapp 1.200 der Befragten antworteten, viele davon diagnostizierten den Politiker öffentlich als „paranoid“, „narzisstisch“, „gefährlich instabil“ usw. – ohne ihn je gesehen zu haben.

Goldwater verklagte die Zeitschrift auf Schadensersatz und gewann. Der Skandal führte dazu, dass die amerikanische Vereinigung der Psychiater APA 1973 die sogenannte Goldwater-Regel offiziell in ihren Ethikkodex aufnahm: „Es ist unethisch für einen Psychiater, eine fachliche Meinung abzugeben, ohne zuvor eine Untersuchung durchgeführt und die entsprechende Genehmigung für eine solche Stellungnahme erhalten zu haben.“

Oder kurz: Keine Ferndiagnose öffentlicher Personen!

Auch in Deutschland gilt diese Regel bis heute und wird von der Bundespsychotherapeutenkammer als ethische Orientierung empfohlen. Daran sollten sich auch Nicht-Fachleute halten. Allerdings steht dem zur Abwägung gegenüber, dass es auch eine Pflicht gibt, die Öffentlichkeit zu warnen, wenn ein mächtiger Mensch offensichtlich gefährlich gestört wirkt.

Die Goldwater-Regel schützt vor Rufmord und politischem Missbrauch psychiatrischer Erkenntnisse, steht aber in Spannung zur ethischen Frage, ob Fachleute, Publizisten oder Journalisten vor offensichtlich gefährlichen Persönlichkeiten in Machtpositionen schweigen dürfen. Deshalb sieht man heute oft Formulierungen wie etwa: „Ich stelle keine Diagnose, aber das gezeigte Verhalten entspricht in hohem Maße den Kriterien für grandiosen Narzissmus mit antisozialen Zügen.“ – Diese Formulierung finde ich beim Merz-Weimer-Skandal angemessen.

Warum die Bundestagsabgeordneten und die anderen Granden der Union Merz nach all den offensichtlichen und für seine Partei und das Amt des Bundeskanzlers schädlichen Lügen wie etwa der jüngsten Lüge, dass alle Vorwürfe gegen Weimer sich „als falsch erwiesen“ hätten, nicht abwählen und durch eine integrere Persönlichkeit ersetzen, lässt sich übrigens auch psychologisch erklären. Das Phänomen wird in der Fachliteratur als „narzisstische Kollusion“ oder „Co-Narzissmus“ beschrieben.

Besonders bei grandiosen und malignen Narzissten entsteht fast immer ein Hofstaat aus Menschen, die das pathologische System aktiv mittragen. Sie sind keine „Opfer“ im klassischen Sinne, sondern funktionale Helfer, die enorme Vorteile aus der Nähe zum Narzissten ziehen. Dabei werden immer wieder die gleichen Rollen besetzt: „Flying Monkeys“ sind Fans, Parteianhänger, Mitarbeiter oder co-narzisstische Journalisten. „Enabler“ oder „Hofschranzen“ sind persönliche Assistenten, Anwälte oder PR-Leute. „Nützliche Idioten“ sind gläubige Wähler oder sektenähnliche Anhänger.

Als Co-Narzissten spiegeln die Flying Monkeys die Grandiosität des Narzissten, beispielsweise dadurch, dass sie ihm als Journalisten Gefälligkeitsinterviews liefern, in denen er seine Lügen verbreiten kann, und sie seine Aussagen dann nicht kritisch hinterfragen, wie es ihre journalistische Pflicht wäre, sondern stattdessen sagen: „Danke, Herr Bundeskanzler.“

Viele Flying Monkeys sind selbst ebenfalls narzisstisch gestört und saugen ihren Honig daraus, dass sie dem großen Narzissten dienen dürfen. Stabil gehalten wird das Hofschranzen-System außerdem durch Angst und Belohnung: Wer mitmacht, wird belohnt, erhält zum Beispiel die Möglichkeit, aus den Verbindungen zum Narzissten Geld zu machen, erhält ein schickes Pöstchen und natürlich Aufmerksamkeit. Wer nicht mitmacht, wird fallengelassen und zerstört. Aussteiger aus diesem irren Treiben gibt es kaum, denn wer jahrelang „Er ist großartig!“ gesagt hat, kann dann irgendwann die Wahrheit nicht mehr zugeben, denn sonst müsste derjenige sich ja eingestehen, ein Trottel zu sein.

Grandiose und maligne Narzissten erschaffen so ein ganzes Ökosystem von Menschen, die aus Eigeninteresse, Angst oder blindem Glauben bereit sind, jede noch so offensichtliche Lüge mitzutragen – und dadurch das System erst möglich und stabil machen. Ohne diesen Hofstaat würde der Narzisst sehr schnell zusammenbrechen.


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